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HARVARD COLLEGE LIBRARY
FROM THE
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SooalWelfare & MoralPhilosophy
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SINCERFTY AND FEARLESSNESS
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Jahrbücher
für
BpeeulatlTe Plülosoplite
und die
philosophische Bearbeitung der empirischen
Wissenschaften.
Herausgegeben
. ^ . von
Dr. liUdwls/Wöaek«
ERSTER JAHRGANG.
Erstes Heß
üarmßalrt.
Druck und Verlag von G. W. Leske.
1846,
?^^ IC^. ^^
HARVARD eouear uniAiiy
iACKSON FUND
Inlialts-irerzelchnlss.
Seit«
SSInleiteniles Vorwort des Heraasf^ebers :
Die Jahrbücher für speculative Philosophie 1
I« Abtaandlangeii :
1. Noack, die Idee der specnlativen Religionswissenschaft. Plan und Ent-
wurf einer neuen Grundlegung der theologischen Eneyclopädie als
System 29
2. Reiff, über das Princip der Philosophie und die Idee des Systems der
Weltensbestimmungen 68
3. Carriere, Macchiarelli ^ > • 169
4. Oppenheim, über das Wesen des Staatsgesetzes und die Schranken
der Gesetzgebung 134
5. Voigtländer; philosophisdie Betrachtungen. I 153
II. Kritiken:
1. Zimmermann, Shakespeare's Macbeth, von Hiecke 16<)
2. Adler, Michelet's Entyirickelungsgeschichte der neuesten deutschen
Philosophie | 191
3. Noack, zur Kritik von Wirth's Analyse des religiösen Grundgefühls . 205
4. Michelet, George's System der Metaphysik . . , 234
5. Förster, Miscelle über deutsche Philosophie in England 234
IVaebtraiP zum einleitenden Vorwort des Herausgebers 238
Den yy Jahrbüchern ßr speculaHtie Philosophie^ haben bis
jetzt ihre Mitwirkung zugesagt die Herren:
Adler in Worms
Baehmann in Jena
Bajrboffer in Marburg
Beck in Kopenhagen
Benary, Ag.\ in Berlin
* Berner in Berlin
Bohne in Cassel
^Bouniann in Berlin
Carrtere in Giessen
*€ieszkowski, Graf v., in Berlin
Conrad! in Dexheim in Rheinhessen
Banzel in Leipzig
Daumer in Nürnberg
* Förster in Berlin
Formtsteetaer in OfiPenbach
^C^abler in Berlin
C^entbe in Eisleben
^C^laeier in Berlin
George in Berlin
Hainen in Heidelberg
Hanne in Braunsch-vireig
Harms in Kiel
Hense in Halberstadt
Hiecke in Merseburg
Hlllebrand in Giessen
Hlnrlcbs in Halle
Hotho in Berlin
Kapp, Alex., in Soest
Kapp, Ghr.,Mn Heidelberg
Kapp, Fr., in Hamm
Kostlin in Tübingen
Iilndemann in Solothnrn
Iieonbardi, Freih. v., in Heidelberg
*Mftreker in Berlin
Hftrklin in Heilbronn
*Mfttzner in Berlin
Marbaeb in Leipzig
Hajer in Oldenburg
Heier in Tübingen
^Hlebelet in Berlin
Hdller in Nidda
Oppenbelm in Heidelberg]
Planek in Tübingen
Belff in Tübingen
Bdse in Berlin
«Bdstell in Berlin
Bdtb in Heidelberg
*B<$tseber in Berlin
ttosenkranz in Königsberg
Saebse in Stettin
*Scbmidt, Alexis, in Berlin
*Scbniidt, Eduard, in Berlin
Sebmldt, Reinhold, in Berlin
Scbmldt in Cöthen
Scbmldt in Erfurt
^Scbalze, A, in Berlin
^Scbalta, C. H., in Berlin
Sebweipler in Tübingen
Sebwelekbardt in Tübingen.
Stepban in Göttingen
Susemlbl in Heilbronn
* Temmler in Berlin
Ulrlcl in Halle
Vatke in Berlin
Volutlftnder in Berlin
IFelssenborn in Halle
Wldenmann in Stuttgart
Wlrtb in Winnenden bei Ludwigs-
burg
Wittstein in Hannover
Zecb in Tübingen
Zeller in Tübingen
Zimmermann in Worms
flpSCbiescbe in Dössel bei Wettin.
Die mit * bezeichneten Herren sind Mitglieder der philosophischen
Gesellschaft in Berlin , welche sich als solche durch ihre Redactoren , die Herren
Michel et, Rötscher und A. Schmidt an den ^Jahrbüchern für speculätive
Philosophie** vertreten lässt.
Die y^JahrbUcher für spectUaUee Philosophie^ erschei«
nen in vierteljährlichen Heften ä circa fünfzehn Bogen, so
dass vier Hefte einen Band von sechs zig Bogen bilden.
Titel und Inhaltsverzeichniss jedes Jahrgangs werden mit
dem letzten Hefte geliefert. Man abonnirt auf einen Jahr«
gang, desseti Preis auf 10 Gulden oder 6 Thlr. gestellt
ist* Einzelne Hefte werden nicht abgegeben. Jede solide
Buchhandltmg in- und ausserhalb Deutschland übernimmt
Bestellungen auf die Jahrbücher.
Jahrbücher
für
^peeulatlTe Pltllosoplile
und die
philosophische Bearbeitung der empirischen
Wissenschaften*
Herausgegeben
Dr. liudwis IVoack«
'Ev Httl Jl«».
ERSTER JAHRGANG.
Watmflaiit
Druck und Verlag Ton C. W. Leske.
1846.
'Hv Sitttpigov $avr^»
Inhalts- Verzelchniss.
Erstes BefL
Seil«
CSinleiteade« Vorwort de« HeraiMgelieni«
Die Jahrbücher fiir speculative Philosophie 1
f* Abhandlungen:
1. N 0 a ek, die Idee der speculaÜreB Reli^DS Wissenschaft Plan und Ent-
wurf einer neuen Grundlegung der theologischen Encyklopädie als
System 29
2. Reiff^ über das Prinzip der Philosophie und die Idee des Systems der
Willensbestioimungen 68
a Carriere, Macchiarelli 129
4« Oppenheim, über das Wesen des Staatsgesetzes und d» Schranken
der Gesetzgebung • • • • • 134
5« Voigt laender, philosophische Betrachtungen. 1 153
II. Kritiken:
1« Zimmermann, Shakespeare's Macbeth, von Hiecke • • • • • 169
2. Adler, Michelet's Entwickelungsgeschichte der neuesten deutschen
Philosophie . ^ 191
3. Noack, zur Kritik von Wirth's Analyse des religiösen Grundgefdhls 205
4. Michel et, George's System der Metaphysik « . 231
5* Förster, MisceUe über deutsche Philosophie in England 234
llaclitraii zum einleitenden Vorwort des Herausgebers • • • • -238
Zweites Heft,
I. Abiianiliuni^eni
1« Mätzner, die 'Philosophie und die Gegenwart * 3
2. Schultz, zur PhHosophie der organischen Natur, nebst einem An-
hange von Michel et 8
3« Temler, über philosophisches Wissen und Naturwissen, logische
Kategorien und Naturkategorien 34
4* 'Beck, die geschichtlichen Voraussetzungen des hebräischen Religions-
prinzips und ihr Ueberffang in dasselbe 42
5« Michelet, die Frage des Jahrhunderts 90
6« Voigtlaender, philosophische Betrachtungen, II 102
7. AL Schmidt, zwei verderbliche theologische Grundsätze « • • « 137
8« Carriere, über das göttliche Selbstbewusstsein. Em Brief an den
Herausgeber ••♦♦••••..♦ 148
9* AI« Schmidt, Gedächtnissrede auf Marheineke .155
10. Die Berliner Akademie der Wissenschaften und die Philosophie . .173
II. Kritiken:
1. Holberg, Biedermannes freie Theologie 179
2« Michelet, kritische Miscellen zur Politik u. s. w 200-
3. Michelet, Herr von Drieberg und die Physiker « 211
4. Zimmermann, Mundt^s Aesthetik 214
5» Noack, Schelling's Vorwort zu H. Steffens' nachgelassenen Schriften 225
Drittes Heft.
Seil«
I. AbbaDdlunipen :
1. Voigtländer, philosophische Betrachtungen HL • 3
2. Glaser, das Verhältniss der Wissenschaft zum Staate« Nebst den
daran geknüpften Debatten der philosophischen Gesellschaft zu Ber-
lin 2«
3. Morning, Ideen zu einer Classification und Charakteristik der
schönen Künste 63
4. Feuerlein, Princip und Charakter der englischen und französischen -
Sittenlehre 98
5. Noack, die speculative Gottesidee. Antwoi-t an Dr. M. Carriere in
Giessen 143
6. Bayrhoffer, die metaphysischen Principien Hegel's und Herbart^s . 155
II. Kritiken:
1. Moming's pantheistische Tendenz des Christenthums *..«.. 169
2. Adler, Franck*s Kabbala 1. un4 2, Artikel 183
3. Zimmermann, Yischer^s Aesthetik. J 199
4. Michelet, kritische Miscelle zur Politik 236
Viertes Heft,
I. Abliandl untren:
1« AI* Schmidt, Reformen im Katholicismus .•»«..*«•* 3
2« Schwarz, über die Entstehung der Welt aus Gott und die damit
zusammenhängenden Bestimmungen Gottes und der Welt » • . . 50
3« Glaser, über die höheren Bildungsinstitute bei Griechen nnd Römern 76
4« Schultz, zur Philosophie der organischen Natur IL . . • • * 89
5. Gabler^s Thesen über das Verhältniss der geschichtlichen Entwicke-
lung zum Absoluten, nebst den Debatten der philosophischen Gesell-
schaft zu Berlin über die erste These 99
6. Lindemann, das Prinzip der Philosophie, 1. Artikel 108
7* Harms, von der Reform der Logik nnd dem Kriticismus Kant's . . 128
II. Hritilten :
1« Rosenkraz, die Metaphysik in Deutschland seit 1831 • . * , • 167
2. Widenmann, George, die fünf Sinne •••••,•«•* 184
3. Nauwerck, Wippermann's Beiträge zum Staatsrechte • • • . . 200
4. Michelet, das Volk yon J. Michelet • • * * 208
5. Adler, Franck's Kabbala. 3. Artikel 21!
6. Rosenkranz, Miscelle zur Geschichte der indischen Philosophie * 222
7* Carriere, zur Abwehr und Verständigung. An den Herausgeber . 238
JTahrlbficher
für
speculative Philosoph! a
"iiV xui nciv
Jahrb. für specula». Philos. 1.1.
JEv ita^^QOVV ja VTA.
Die
Jalirbiiclter flir speciilatlTe Plülosophle.
flSt«r J^tttolftcMgr«
der Unterzeichnete hiermit den ersten Jahrgang der
„Jahrbücher für speculative Philosophie* eröffnet, glaubt
er um so weniger nöthig zu haben, dieses Unternehmen vor dem
wissenschaftlichen Publikum besonders zu rechtfertigen, als ihm die
freudige Beistimmung, mit welcher der Plan dazu von Seiten com-
petenter Männer begrüsst worden ist^ die sicherste Bürgschaft zu
enthalten scheint, dass der bisherige Mangel eines von heteronomen
und der philosophischen Idee schlechthin fremden Tendenzen sich
unabhängig haltenden phUosophischen Instituts der Art in weiteren
Kreisen fühlbar geworden ist und mithin die Gründung der zur
Ausfüllung dieser Lücke bestimmten vorliegenden Zeitschrift auf
keinem illusorischen Bedürfnisse beruht. Darum enthält sich auch hier
der Herausgeber, aus einer Betrachtung der Richtung, Beschaffen-
heit und des Schicksals bereits bestehender verwandter Institute das
Zeitgemässe und Wünschenswerthe eines neuen philosophischen
Organs näher zu begründen. Was hilft' auch alles weitläufige
Präambuliren bei einem Unternehmen, das sich der Natur der Sache
nach allein durch sein eignes unabhängiges Interesse selbst recht«
fertigen kann, dessen eigner Lebenskraft es überlassen bleiben
muss, sich neben andern wissenschaßlii^hen Organen geltend zu
machen und das in seinem Erfolge in. seinem Schicksal auch sein
Gericht trägt.
4, Die Jahrbücher
WBnn es aber wahr ist, dass jede Zeit das erzeugt, was sie
bedarf, so werden sich die gegenwärtigen Jahrbücher um so eher
ein nicht ungünstiges Prognostikon stellen dürfen, als sich die Idee der-
selben aus lebendiger und allseitiger Beziehung zum gegenwärtigen
Zustand der philosophischen Bestrebungen in unserm Vaterlande
wie von selbst entwickelt hat. Die Ansicht zwar, dass zunächst
gerade der gegenwärtige Stand der Philosophie unserem Unter-
nehmen ganz besonders günstig erscheine, und dass es an der
Zeit sei darauf auszugehen, etwas Neues und Erspriessliches im
Gebiete der Philosophie zu leisten, diese Ansicht wird von vorn-
herein von Solchen mit bedenklichem Kopfschütteln aufgenommen
werden, welche in dem süssen Gefühle Iebe%, dass die Philosophie,
wenn auch noch nicht durchaus zu systematischer Totalität ent-
wickelt und noch nicht allseitig in die positiven Wissenschaften
eingeführt, doch im Prinzip bereits zum absoluten Abschluss ge-
kommen sei und dass also eine weitere Entwickelung keine Fort-
bildung der Philosophie als solcher , sondern nur eine Ausbreitung
der bereits gewonnenen Basis, als einer absoluten und für alle
Zukunft bleibenden, innerhalb der Wissenschaft und des Lebens
sein könne. Uns scheint diese neuerdings mit grosser Zuversicht
vielfach geltend gemachte Voraussetzung keineswegs eine solche
zu sein, welche sich einer reichen und keimkräftigen Zukunft er-
freuen dürfte. Gerade die im philosophischen Gebiete gegenwärtig
hin und wieder bemerkbare ErschlaiTung und Indolenz und ein ge-
wisses Gefühl von Missbehagen und Uebersättigung bei reichbe-
setzten Tischen wüorde am Ersten jene Meinung Lügen strafen
müssen, wenn unter solchen Voraussetzungen überhaupt Unbe-
fangenheit möglich wäre. Denn dass die reaktionären Bewegungen
der Gegenwart und die von oben ausgehende Verfolgung der Phi-
losophie, in Gestalt der Heg^^schen, an jener Verstimmung und
Missbehaglidikeit Schuld sein sollten, erscheint um dess willen nicht
wahrscheinlich, weil dergleichen äusseres Entgegenstreben und
factiöser Druck ofme Zweifel eher das Gegentheil zur Folge haben
und eine um so grössere Spannung und Energie der philosophischen
Kräfte hervorbringen mösste, da es doch sonst in der Gegenwart
im Atigemeinen an Antrieben zu wissenschaftlichem Leben keines-
wegs fehlt und insbesondere die gegenwärtig ein so hohes In-
teresse in Anspruch nehmenden praktischen Bewegungen der Zeit
für speetilatke niiloMphie. 5
einen willkommenen Anlass zur ernslen Betheiligfung der Wissen-
schaft, der Philosophie zu geben im Stande wären. Der Grund
jener Erscheinung scheint vielnehr ein anderer, tiefer liegender
zu i^in: die Zeit drängt auf ein neues, h^öheres Selbst«
bewusstsein hin.
Die herrschende Philosophie, wie sie als das Resultat des die
Wirklichkeit bestimmenden Zeitgeistes erscheint, hat das Selbst-
bewusstsein, seiner theoretischen Seite nach, als Denken, für die
einzige Wahrheit und Wirklichkeit erklärt, das wahrhafte Sein
mit dem vollendeten Denken identisch gesetzt und den absoluten
Prozess dieser Identität als die Selbstoffenbarung und Selbstent«
Wickelung Gottes bezeichnet. Nach diesem Grundprinzip soll nun
das Denken in seiner freien Selbstbethätigung, als Philosophie, dia
Erkenutniss des gegebenen Seins, das Begreifen der vergangenen
und gegenwärtigen wirklichen Welt als der daseienden, objectivirten
Vernunft sein, so dass hiemach als das höchste und letzte Ziel
der Wissen;schaft und des Lebens dies erkannt wird, die Selbst-
vollendung des denkenden Ich zum absoluten Selbstbewusstsein,
als zur Einheit des göttlichen und menschlichen Geistes, in allen
Sphären des Geisteslebens in grösstmöglichster Ausbreitung dar-
zustellen. Inwiefern nun die Gegenwart als der theilweise Aus-
druck der herrschenden Philosophie betrachtet werden muss, stellt
der gegenwärtige Zeitgeist auf dem praktischen Gebiete im All-
gemeinen ebendieselbe zu einem beschränkten Partikularismus ver-
engte Absolutheit des Ich dar, wdches in allen Bewegungen des
politischen, religiösen und socialen Lebens nur an die Bestimmtheit
des einzelnen, partikularen Seins gekettet ist, nur sich -sucht und
will, nur den Genuss der Subjectivität im Auge hat, zu wahrhafter
Hingebung aber, zum aufopfernden Dienste eines höheren Allge-
meinen sich unfähig zeigt. Eine Seite dw Wahriieit ist zwar
allerdings in dieser Richtung der Zeit enthalten, die Ahnung näm-
lich, dass die diesseitige Menschheit gegen hohle Jenseitigkeiten
und phantastische Transcendenzen einerseits und gegen das ängst-
liche, capricirte Festhalten an einer zurückgelegten Vergangenheit
andrerseits in ihrem absoluten Recht ist. Die Gegenwart des Lebens
der Menschheit, das diesseitige Reich des aus sich selbst zur Frei-
heit sich entwickelnden Geistes ist es, was als die einzige und
wahrhafte Realität von unserer Zeit in unbewusstem Drange der
0 Die Itbrbikcher
Wahilieit, wenn gflemb m eioseUiger Fonn, festgehalten wird*
Diese Erkenntniss theoretisch herausgestellt zuhaben, ist tfie Frucht
und das Verdienst der herrschenden Philosophie, und diese Tendenz
mit grösstmöglichster Energie festzuhalten, das absolute Recht der
Gegenwart, deren insUnctives Drängen und Treiben aber freilich
auf der andern Seite auch ebenso sehr über sich selbst und diesen
Standpunkt des absoluten Subjectivismus hinaus und, in Ueberein-»
Stimmung mit den fortschreitenden Bewegungen in der Philosophie,
auf ein höheres Sdn, eine freiere Gegenwart hinstrebt. Sowohl
die philosophischen Bewegungen, welche innerhalb der in sich
getheilten HegeFschen Schule selbst sich darstellen, ruhen auf der
Einsicht in die Nothwendigkeit eines Hinausgehens über die er-
kannten Einseitigkeiten der HegeUschen Orthodoxie, und noch
entschiedener tritt dieses heterodoxe YerhSltniss zu Hegel in den-
jenigen philosophischen Tendenzen hervor, welche durch eine
reformative Emancipation vom Hegerschen Prinzip selbst, zum
Theil unter Anschluss an Schellings neue s. g. positive Philosophie,
zum Theil auf einem von dieser prinzipiell unabhängigem Wege,
eine neue philosophische Zukunft mit mehr oder weniger Glück zu
begründen versuchen. Solche kritisch -aufbauende Bestrebungen
und fortschreitende Bewegungen auf dem Gebiete der Philosophie
sind es hauptsächlich, welche das lebendige Interesse der philo-
sophirenden Gegenwart für sich in Anspruch nehmen; aus dem
gäbrenden Drange und dem noch nicht zur vollen Klarheit ge-
läuterten Durcheinanderwogen der Elemente wird sich die Zukunft
der Philosophie durch die eigne treibende Kfaft der Wahrheit her-
ausringen.* Was der Zeit wirklich Noth thut, bringt sie unab-
weislich hervor.
Ist in diesen Andeutungen wirklich der gegenwärtige Stand
.ter Dinge getroffen, so wird ein wissenschaftliches Organ, welches,
indem es dem wahrhaften philosophischen Bedürfniss der Gegen-
wart zum Einheitspunkte dient, die Erhebung derselben zur Idee
im Auge hat, am Augenscheinlichsten durch die That selbst seine
Nothwendigkeit bewähren, dadurch nämlich, dass es ihm wirklich
gelingt, die Männer der Zukunft um einen philosophischeh Mittel-
punkt zu versammeln. In einer Zeit, die in allen Lebensgebieten
unverkennbar beweist, dass sie im kühnen Selbstbewusstsein die
leblosen Gestalten der Vergangenheit hinter sich zu lassen und
für specnlntive Philosophie. 7
Yon allem V^hrten und bloss flosserlich Ueberiieferlon sich m
befreien gewillt ist, kann nur durch freie Einsicht und selbst-
ständige Bewährung, nur durch bewosste Enlwicketung die Wahr«
heit in ihrer Lebendigkeil erhalten werden. Um aber die gährende
Unklarheit der nach Selbstverständigung und Versöhnung ringenden
Gegenwart auf fruchtbare Weise über sich selbst zu orientirenf
dazu reichen populär gehaltene Tendenzartikel und geistrekhes
Raisonnement nicht hin , sondern die Wissenschaft sefbst muss Hand
anlegen und mit allem, ihr zukommenden Ernst, mit aller Selbst-
verläugnung und Hingebung an die Idee den Prozess der freien
Geistesbewegung darstellen.
Diess soll unsere Sache sein, diess die Stellung unserer Zeit-
schrift zur Gegenwart und Vergangenheil einerseits und zum Leben
und zur Praxis der Zukunft andererseits.
Zwar steht die Philosophie, sobald sie ihrep Beruf im Ver-
hältnisse zur* Gegenwart des Lebens deutlich erkennt und fest im
Auge behält, jetzt am wenigsten Jm Credit, und sie hat mehr als
jemals nöthig, gegen Verdächtigungen und Verfolgungen, gegen
wohlgemeinte Abmahnungen wie gegen böswillige Insinuationen
gleicherweise standhaft zu sein. Aber gerade dadurch hat sie zu
bewähren, ob sie Leben und Jugendkraft in sich trägt, ob sie die
Prophetin des Zeitgeistes, die Mutter der Zukunft zu sein befähigt
und im Stande ist. Gewiss ist eine wahre Philosophie eines Volkes
höchste und edelste That, des Volksgeistes reifete und keimkräftige
Frucht, und es bleibt nimmer die Zeit aus, wo man der Philosophie
wieder zu gedenken nicht umhin kann. Wann ein grosses , ernstes,
nachhaltig begeisterndes Wort Noth thut, wird sie, statt hinter den
Fleischtöpfen im Diensthause der Gegenwart zur Magd sich erniedrigt
zu sehen, als gewaltige Macht der Zeit das Panier der Zukunft
schwingen. Nichts vermögen kleinliche Angst und kurzsichtige
Politik gegen die siegeiu^ Gewalt des freien Geistes der ewig
jugendlichen Menschheit, ^i Wollen nun die Jahrbücher das philo-
sophische Organ sein, in welchem die im Hutterschoosse der Gegen-
wart wurzelnden und das Prinzip der autonomen Idee zum
ihrigen machenden philosophischen Tendenzen zu gemeinsamer
Thätigkeit sich vereinigen, so wird ihre bestimmte Aufgabe näher
darin bestehen » einerseits das negativ -kritische und andrerseits
das positiv -constittttive, wahrhaft aufbauende Moment dieser Ten-
8 Die Jihrbidiar
denz mit attseitig^ Entschiedenheit heraustreten m lassen. Zit«
nächst werden sie im Allgemeinen streben, die verschiedenen Seiten
und entg^engesetzten Tendenzen der herrschenden Schale anf der
einen Seite und die philosophischen Bestrebungen ausserhalb dieser
Schule andrerseits auf dialektischem Wege zu vermittebi und durch
solchen kritischen Process die Philosophie selbst weiterzuführen,
aus der Tiefe des gegenwärtigen philosophischen Gegensatzi^ eine
höhere Syntbesis, eine tiefere Versöhnung des Geistes
mit sich selbst zu erzeugen. Hieran schliesst sich die weitere
Aufgabe, auf die Einführung der philosophischen Prinzipien und
der wShrhaften wissenschaftlichen Methode in die positiven Wis-
senschaften, auf die Versöhnung der Empirie, mit der
Philosophie hinzuarbeiten, damit die Encyclopädie der Wissen-«
Schäften mehr und mehr mit dem encyclopädischen Organismus der
philosophischen Idee eins und die einzelnen emj^irischen Djsciplinen
zu ihrer idealen Verklärung erhoben werden. Denn es erscheint
als eine ebenso dringende, als würdige Aufgabe der Zeit, die ein
Jeder in seiner Special Wissenschaft überkommt, den bisherigen
Gegensatjs von philosophischem und empirischem Wissen zu einem
verschwindenden, stets sich selbst aufhebenden Unterschiede zu
neutralisiren, eine Aufgabe, die keineswegs auf einen äusserlichen
Schematismus und hohlen Formalismus hinausläuft, als ob dabei
nur die philosophischen Kategorieen in abstrakter Weise auf die
Behandlung der empirischen Wissenschaften übertragen und der
gegebene Stoff nach dem. Schema der logischen Kategorieen abge-
haspelt werden sollte. Viehnehr soll der auf philosophischem Boden
gewonnene Standpunkt zur Hebamme der positiven Wissenschaften
gemacht und so die Seelen der Wissenschaften frei entbunden
werden. Welche Stellung darum die Jahrbücher zur Empirie, zu
den positiven Wissenschaften einnehmen werden, dies ergibt sich
unmittelbar aus dem Begreifen des Verhältnisses zwischen Philo-
sophie und Erfahrung überhaupt. Wahrhafte Erfahrung, die sich
nicht in hohle Hypothesen und banausisches Experimentiren ver-
lieren soll, ist ohne philosophisches, anschauendes Denken gar
nicht möglich. Nur dadurch, dass der denkende Geist sich in das
Gegebene vertieft und des Stoffes sich bemächtigt, ist Erfahrungs-
erkenntniss möglich, und im Grunde ist alle Erkenntniss zugleich
Erfahrung. Aber die Erfahrung wird nach den Erkenntnissprin-
für ipeeakitive Pliilofophie. q
mfien des Denkens und Seins ttberhaupl sidi verschieden gestalten,
so dass auch sie, mit den Fortschritten des denkenden Geistes
parallellaufend, stets der Veränderung und Correction unter-
worfen ist. Die Wechselwirkung von Wissenschaft und Leben,
Theorie und Praxis, Erkenntniss und Erfahrung ist eine unbestreit-
bare Thatsacbe, und es ist ganr richtig, wenn gesagt wird, dass
die realen Wissenschaften als solche üba^haupt ^st durch die
Philosophie möglich werden, die ihre Prinzipien und Fundamente
in sich schliesst.
In diesem* Sinne entwerfen wir unten eine Skizze des syste-'
matiscben Organismus dar philosophischen Idee, der die einzelnen
Wissenschaften in ihrer wahrhaft freien Gestalt, ihre Genien, als
Kinder der Einen Idee des allgemeinen, freien Selbstbewusstseins
dar Menschheit, in sich fasst und mit dem flüssigen Aether der aU-*
gememen Bildung auf lebendige Weise sich zusammenschliesst.
Denn es ist in letzter Beziehung die höchste Mission der Philo-
sophie, durch Vermittlung der Wissenschaft, als der Mutter und
Pflegerin der allgemeinen Bildung, die Autonomie des freien, sitt-
lichen Geistes der Menschheit auch in die mannichfaltigen Kreise
des Lebens einzuführen und in das grosse und ernste Drama der
Geschichte den rothen Faden der Idee zu weben. Diese geistige
Belebung und ideelle Verklärung des ganzen dies-
seitigen Lebens soll von den Jahrbüchern stets im Auge be-
halten werden. Indem aus der Gegenwart des Lebens und der
Wissenschaft die Veranlassung zur Speculation genommen und die
Seele der Gegenwart zum Bewusstsein gebracht wird, soll zugleich
das Sollen der Idee oder die Transcendenz der Zukunft, das con-
creto Ideal, herausgestellt werden. Das Selbstbewusstsein der
Gegenwart hat, als die absolut übergreifende Subjectivität , durch
die productive Freiheit der autonomen Idee selbst die Objectiviiät
ihrer Idealität näher zu bringen, der Idee objectives Dasein zu
geben, an der Realisirung des wahrhaften Jenseits iif der dies-
seitigen Welt mit allem Fleisse zu arbeiten. Dies erkennen wir
als den Beruf der Philosophie in der Gegenwart, von der Wahrheit
des Dichterwortes ausgehend :
„Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.^
Unser Prinzip ist also, dass wir es in einer besimmten
Formel aussprechen, die wahrhafte Autonomie und con-
j[Q Di« Jahrbücher
stilutive Positivität der philosophiilchen Idee, wie sie
unabhängig- von jedweder äusseren Auloritäl, möge
diese nun in der Form eines exclusiven Schulzwanges
oder in der Form dogmatischer Tendenzen auftreten,
die Kritik des Gegebnen zur immanenten nothwendigen
Voraussetzung und einzig in ihrer eignen Dialektik
ihren letzten Richter bat.' Diesef Kanon, der seine absolute
Berechtigung in und durch sich selbst bevreisen muss, soll miser
Gesetz, unsere Freiheit sein! Gewiss, auch die Philosophie muss
einen Charakter haben. Die Philosophie ist mehr, als eine bloss
geistreiche Conversation, mehr als ein allzeit fertiger Stegreif-
philosophismus, und sie steht höher, als das seichte, ideailose Ge-
schwätz, womit gewandte Raisonneurs und philosophische Char-
latans die oberflächliche Bewunderung eines scheingebildeten Pöbels
zu erhaschen streben. Die Philosophie nimmt den ganzen Menschen,
allen Ernst des Denkens und die ganze Energie des Willens, alle
Kraft und Tiefe des Gemüths in Anspruch, und Nichts ist wider-
licher als jenes bei allem Glänze des Geistreichen doch kraft- und
marklose Schönthun mit Philosophie und speculativem Denken,
welches sich nicht selten heutzutage breit macht und die erhabne
Göttin zur gemeinen Buhldime erniedrigt, die mit Allem und Jedem
kokettirt und auch Lüge und Gemeinheit in ein gefälliges Gewand
zu hüllen versteht. Das ist gerade das Täuschende eines abstracten,
einseitigen Phantasielebens, dass die Phantasie ihren Gebilden die
täuschende Maske empfindungsvoller Schönheit leiht, hinter welcher
sich bei näherer Betrachtung ein jäher Abgrund sittlicher Ver-
worfenheit aufthut. Fern sollen uns dergleichen Tendenzen bleiben,
die hinter schönem Gewände nur die Liederlichkeit einer gemeinen
Gesinnung verbergen.
Auf der andern Seite aber sind uns der Muth und Wille der
Wahrheit, die Energie des freien, durchgebildeten und zur wahr-
haft sittlicUen Persönlichkeit erstarkten Geistes die wahrhaften
Bürgen, um vor einem andern, nicht minder gefährlichen Irrwege
bewahrt zu bleiben, nämlich vor jenen factiösen Tendenzen eines
alle nothwendige Vermittlung überspringenden Radicalismus und
einer alles sittlichen Gehaltes haaren Skandalsucht, die den heiligen
Namen der Freiheit auf das Schnödeste zu missbrauchen sich nicht
scheut. Hier ist es, wo wir uns im vollen Umfange das Wort
für specidaliTe Philoiophie. f\
aneignen $ welcheid knrsiich yon Seiten einer der philosophische
Richtungen der Gegenwart gesprochen worden : „der Wissenschaft
Yorzüglichster Beruf ist aufzubauen, und nur unterge-
ordneter Weise auch absichtlich niederzureissen. Gelingt ihr die
treue Darstellung der Wahrheit, so verschwinden vor ihrem Lichte
ebenso schnell die Irrthümer, wie das Sonnenlicht die Dunkelheit
und die Ds^mmerung mit allen ihren Truggebilden von selbst ver-
scheucht.^ |i Die Vergangenheit, als begriffene Geschichte, ist uns
allerdings die Lehrerin der Gegenwart und Zukunft; aber nicht um
bei der Vergangenheit stehen zu bleiben, haben wir von derselben
zu lernen, sondern sie ist der Spiegel der Gegenwart in dem Sinne,
dass die letztere an der Vergangenheit die^ feste Voraussetzung
ihres Selbstbewusstiseins hat, um kraft dessen das ewige, göttliche
Recht der Autonomie des seiner Idealität bewussten und darin
freien Geistes gegen diejenigen geltend zu machen , welche die
Entwicklung der Menschheit auf ein endliches und bloss relatives
Moment zu beschränken gemeint und gewillt sind. Durch die in-
stinetive, prophetische Innerlichkeit eines Gemüths, das eben so
offen für die Anschauung der Welt, als thatlüräftig zur freien Ge-
staltung der Wirklichkeit ist, eignet dem deutschen Wesen
das Prinzip der entwickelten, concreten Freiheit und des im
Kampf und Ringen erstarkenden Selbstbewusstseins. In der Ge-
genwart des Gottes erweist sich der Geist stark genug, um die
Idee im höchsten Sinne des Worts zu sich selbst und zum
Dasein kommen zu lassen. Was vernünftig ist, wird auch
wirklieh werden — sobald nur nicht in hastigem Ueber-
springen nothwendiger Lebensbedingungen und besonnener Kritik
die strenge Arbeit der Vermittlung verschmäht wird. Der Geist,
als Idee, ist der Phönix, der stets verjüngt aus der Asche ver-
lebter Gestalten des^ Daseins sich erhebt und unermüdet am sausen-
den Webstuhle der Zeit der Gottheit zukünftiges Kleid, die neue
Welt, wirket, Diese göttliche Freiheit und Autonomie des Geistes
ist das Eine und Alles der Philosophie, ihr unveräusserliches Recht
und sittliches Pathos, ihre prophetische und zukunftbildende Kraft;
und in diesem Sinne soll unser Denken und Forschen , unsere ganze
Geistesarbeit selber That sein, als geschichtliche That des freien
Geistes durch die Vermittlung der Individuen sich bewähren. In
dieser Hoffiiung einer unverlierbaren höheren Zukunft, die vom
12 ^'<> Jahrbächer
Prophetismus der Idee eiAstweilen antidpirl wird, woDen wir das
YoUbewusstsein unserer Kraft und den Mutli zum Weiterstreben
finden und bewahren, eingedenk des goldenen Wortes:
^Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern mnss!^
Gilt es uns also für die höchste gegenwärtige Mission der
Philosophie, nicht blos der Eule der Minerva gleich ihren Flug
erst zu beginnen, wann irgend eine Gestalt des gegenwärtigen
Lebens zu verblassen und der Vergangenheit anheimzufallen im
Begriffe steht, sondern mit unmittelbarem prophetischem Instinct
eine neue lebenskräftige Gestalt schöpferisch zu setzen; so wird
als das formelle Prinzip der Jahrbücher dies bezeichnet werden
dürfen, dass dieselben den Zusammenhang zwischen Wissenschaft
und Leben, Theorie und Praxis stets im Auge behalten, durch
die Vermittlung der Wissenschaft in besonnener Weise
auf das wirkliche Leben einzuwirken streben werden, ohne
darüber doch ihren Hauptzweck, philosophische Fachzeitschrift zu
sein, hintanzusetzen oder gar in eitles und bodenloses Theoretisiren
sich zu verlieren. Vor letzterem werden sie durch die Erfahrungen
der letzten Vergangenheit am Sichersten bewahrt bleiben, und wenn
die Beiträge der Mitarbeiter auf den Ausbau der Wissenschaft vor-
waltend ihr Augenmerk richten, so werden die Arbeiten um so
weniger nach der Studierlampe schmecken, als. ohnehin alle ge«
Sunde, lebenskräftige Wissenschaft an sich schon im Herzen der
Zeit steht. Obgleich der Zweck der Jahrbücher von ihren Hit^
arbeitern die wahrhafte Form der speculativen Methode als noth«
wendige Voraussetzung fordert, so wird sich unsere Zeitschrift
doch eben so entschieden von jedwedem abstracteii Schulformalis-
mus und leerem Kategorieengeklingel, womit so häufig der Hangel
an wahrhaftem Gedankeninhalt und geistiger Substanz in der Philo-
sophie sich zu verbergen sucht, fern halten. Le style c'est
t'homme, sagt BüObn. Soll das Wahre an diesem oft wiederholten
Witzworte auch für unsere Jahrbücher gelten und ihre Tendenz
auch in Form, Darstellung und Sprache sich entsprechend aus-
prägen, 80 haben wir nicht zu befurchten, uns der Missdeutung
auszusetzen, wann wir als das Ziel, welches in dieser Hinsicht ^die
Jahrbücher im Auge behalten werden, jene wissenschaftliche Durch-
sichtigkeit und plastische Vollendung in der Form bezeichnen, wo-
für speculative Philosophie. J3
rin unter Andern Rosenkranz, Michelet, Strauss eine solche Mei-
sterschaft bekundet haben. Die Jahrbücher werden eine Darstellung
erstreben, welche das Tiefste nicht in abstracter Gestalt hinzu-
stellen sich begnügt, sondern in concreter Plastik auszuprägen be-
müht ist und den frischen Hauch jener Freiheit sich anzueignen
strebt, die (wie Rüge sagt} in der Schönheit ihr Gesetz und in
der Wahrheit ihr Maass findet, einer Freiheit und Gewandtheit,
die da wie von selbst sich gibt, wo der Geist von der Idee be-
herrscht wird und seines Stoffes vollständig Meister geworden ist.
Die hallisch -deutschen Jahrbücher, in ihrem blühenden Stadium,
haben den thatsächlichen Beweis geliefert, dass eine besonnene
methodische Fortbewegung des Gedankens mit geistiger Frische
und lebendiger Beweglichkeit der Sprache Hand in Hand gehen
kann, dass eine geistvolle Popularisirung auch des gedankenschweren
Inhaltes möglich ist, ohne dem Tiefsinn und der Gründlichkeit
etwas zfi vergeben und in breite Weitschweifigkeit sich auszu-
dehnen. Jene vollendete Schönheit der Form, den anmuthigen
Reiz, welcher so viele Aufsätze der weiland hallisch -deutschen
Jahrbücher auszeichnete und ihre Darstellung zu einer wahrhaft
klassischen machte, wobei die vom Inhalte durch und durch ge-
tränkte Form dessen Gestalt willig annahm und im Aeusseren
lebendig wiederspiegelte, jene zauberhafte Farrhesie der Wahrheit,
von welcher der Leser unwillkürlich mit fortgerissen wurde, diess
uns anzueignen wird nicht das letzte Lob sein, das wir uns zu
verdienen streben.
Was nun die innere Einrichtung unserer Vierteljahrsschrift
angeht, so sollen zwei Drittheile eines jeden Heftes selbststän-
dige Abhandlungen, Studien und Monographien und das letzte
Drittheil wissenschaftliche Kritiken enthalten, denen sich
von Zeit zu Zeit organische Uebersichten über ganze Zweige
und Richtungen der philosophischen Literatur anschliessen werden.
Was zunächst die Abhandlungen angeht, so scheint es uns der
Zweck und die Tendenz des Unternehmens zu fordern, dass die
Arbeiten in der Regel den Umfang von sieben Bogen nur dann
Aberschreiten dürften, wenn sie sich unbeschadet des Ganzen in
meiirere ArtikeLzerlegen lassen. Dass für die andere Partie der
Jalirbücher, die wissenschaftliche Kritik, im Ganzen nur ein
Dritbieil der Jahrbücher in Aussicht genommen ist, während der
i[j| Die Jahrbücher
Übrige und grössere Raum den positiven Beiträgen Verbleiben solli
wird dadurch gerechtfertigt erscheinen, dass nur wirklich bedeutefide
Leistungen aus den im Umkreis des philosophischen Organismus
liegenden Disciplinen berücksichtigt und dagegen alle solche Werke
von der Beurtheilung ausgeschlossen bleibea sollen, welche, wie viel
Schätzbares sie auch im Einzelnen enthalten mögen, sich doch nur
auf dem Boden der Unphilosophie oder blossen Empirie bewegen und
dem bloss subjectiven und beschränkten Standpunkt unmethodischer
Willkür angehören. Es wird hier unbedingt dasjenige zur Norm
und Richtschnur dienen, was Hegel im ersten Band und ersten
Stück des kritischen Journals (vergl. Hegels vermischte Schriften
1834 I. S. 33 ff.} mit kurzen und meisterhaften Zügen über das
Wesen der philosophischen Kritik angedeutet hat. Nur solche
Werke werden hiernach vor das Forum der hier zu vertretenden
wissenschaftlichen Kritik gezogen werden, die sich wirklich unter
die Idee subsümiren lassen, in denen isich die philosophische Idee
in ihrer Totalität oder nach irgend eiiier besonderen Seite wirklich
bestimmt ausgeprägt und entweder zum wissenschaftlichen System
organisch herausgearbeitet oder, wenn auch ohne bestimmte wis*
senschaftliche Entwicklung, doch in der unmittelbar -instinctiven
Naivität der Idee, in der Form des Geistreichen, dargebildet hat.
Und zwar wird auf dem kritischen Gebiete weniger ein blosses
Referat des Inhaltes, sondern möglichst das Höchste, eine freie
Reproduction des Inhaltes, eine objectiv-* immanente Selbstcharakteri-
sirung des Werkes, dessen bestimmte Gestalt dann ebensowohl
auf den gegenwärtigen scientifischen Standpunkt, als auf die All-
gemeinheit der philosophischen Idee überhaupt bezogen wird, zu
erstreben sein, wie dies eben von Hegel in dem genannten Auf*
Satze von der objectiven, wahrhaft wissenschaftlichen Kritik ge-
fordert wird.
Die von Zeit zu Zeit zu gebenden kritich-organischen
Uebersichten endlich sollen, vom bibliographischen Gesichts^
punkt aus unternommen, dazu dienen, auch weniger bedeutenden
literarischen Erscheinungen und wissenschaftlichen Bestrebungen
innerhalb der besonderen philosophischen Disciplinen, sokhen
Arbeiten, die wenigstens formell auf wissenschaftliche Bei-ecfatigung
Anspruch machen und im Einzelnen nicht durchaus zu verwerfende
Leistungen enthalten, Gerechtigkeit angedeihen zulassen und den-
für specalätive Philoflophie. j^5
selben ihre bestimmte wissenschaftliche Stelle anzuweisen. Hierbe;!
wird der doppelte Zweck im Auge bebalten, aus der kritischen
Yerfcrigfung der theils innerhalb einer besonderen Disciplin, theils
innerhalb einer bestimmten geistigen Richtung oder philosophischen
Schule in der Gegenwart sich darstellenden literar- historischen
Entwicklung, durch Ausscheidung der partikularen Momente und
Einseitigkeiten, ein positives Resultat und objectives Urtheil über
den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft, nach einer bestimmten
Seite hin, zu gewinnen und damit zugleich diese einzelne Dis-
ciplinen oder besonderen wisienschaftlichen Richtungen sowohl in
ihrem inneren Zusammenhang mit den übrigen Seiten des Geistes,
als auch in ihrem Verhältniss zur allgemdnen philosophischen Idee
zu erfassen. ' » •
Ob nun insbesondere der Herausgeber einem solchen Un-
ternehmen gewachsen und in dieser Stellung dem philosophischen
Publikum gegenüber aufzutreten berechtigt sei, dies werden die
thatsächlichen Leistungen der Jahrbücher, ihr Erfolg und ihr Schick-
sal zu entscheiden haben. Dürfen aber — um von den inneren
Bedingungen und Anforderungen, die an die Redaction eines sol-
chen Instituts mit Recht gestellt werden müssen, vorläufig abzu-
sehen — eine unabhängige Lage und eine glückliche Müsse im
Voraus ein günstiges Vorurtheil erwecken, so wäre der Heraus-
geber dieser Jahrbücher in diesem Falle und glaubt ausserdem den
nothwendigen Ueberblick über das Ganze der philosophischen Wis-
senschaften und über die Statistik der einschlägigen Literatur zu
besitzen, um in dieser Beziehung vor möglicher Einseitigkeit ge-
sichert zu sein. Obgleich es schon längst des Herausgebers innigster
Wunsch ist, demnächst in eine akademische Lehrthatigkeit über-
gehen zu können, so sind doch besondere, in sein geistiges Leben
tief eingreifende Verhältnisse die Veranlassung, dass er an die
Realisirung dieser Idee bisher nicht denken konnte. Vielleicht irrt
er sich aber nicht, wenn er glaubt, dass gerade sein gegenwärtiges
Fernestehen von den akademischen Centralpunkten deutscher Phflo-
sophie und Wissenschaft auf die albeitigere und festere Begründung
des neuen Instituts eher vortheilhaft, als nachtheilig einwirken
dürfte.
Aus dem Verzeichniss der bis jetzt als Mitarbeiter beige-
tretenen Gelehrten wird sich ergeben, dass die Redaction, ohne
±(i Dm lakririloher
ein bestimmtes Credo Ton den BiÜarbeilem lu verlangeo, in den
Jahrbüchern einen Sprechsaid erMhen woUte filr aUe diejenigen
IHänner der Wissensdiaft, welche die Autonomie der philosoi^hischen
Idee anerkennen und einer refonMAiyen Bearbeitnng der Wissen-^
Schaft ihre Kräfte widmen, dagegen sich von historischem oder
phSosophisdiem Dogmatismus und sonstigen, der Philosopfaie aus-
serlichen und fremden Tendenzen und Autoritäten frei wissen.
Nur so, glaiAen wir, kann ein Unternehmen der vorlegenden Art
helfen, einen ftkr Wissensdutß und Leben erspriessliohen Fortgang
euiieSunen. Die VerlagsVandlujig hat ihrarseits durch eine
Hierrie mid gesciimaokvolle Ausstattung auf eine dankenswerthe
Weise das thr^ beigetragen, um das Dnterneihmen auch in äus-
serer Hinsicht möglichst zu «fördenv Ist alich nicht unbedingt
nach dem Kleide der Mann zu benrHi^ilen, so sollen sich doch,
liefen wir, in gefäffigen Gewände die Jahrinicher ebenfalls als
das reprftsentiren, ims m zu sein streben^ namlidi als ^n den
Bedlbrfiiissen der Gegenwart enteprechendes Oi^gan der philoso-
phischen Autonomie.
In den „Jahrbüchern für speculative PhSosophie^ soHen mm
folgende, im wissenschaftlichen Organismus der phflosophischen Idee
begründete Disciplinen vertreten werden:
A. Die Welt der remen Anschauung oder die sdilechtUn da-
seiende Objectivitdt als die Ptallosopliie der Katar • und zwar
nach den verschiedenen Seiten des Naturwissens :
I. Die Mathematik.
II. Die Wissenschaft der unorganischen Natur:
1. die Mechanik, mit der Astronomie,
2. die Physik,
3. die Chemie.
IH. Die Wissenschaft dex organischen Natur:
1. Geologie und Minemlogie,
% Pflanz^nphysiologie und Botanik,
8. Thjerphysiologie und Zoologia
4. Medicin.
B. Die Welt des daseienden oder in abstractem Fürsichsein
freien Geistes ab die nniMoiiiiiei «te OiMircMiClHMi ChetotM,
welche in sich schlibsst :
für ipecttkitive Philosophie. f^
L die Psychologie, die Lehre vom subjectiven Geist,
II. die Aesthetik, die Philosophie des künstlerischen Gei-
stes, und
III. die Philosophie im engem Sinne, die Wissenschaft des
Denkens.
C. Die Welt des Willens oder des sich selbst seine Welt frei
schaffenden Geistes, als die Philosophie des praktiseheii
Geistes« In dieser werden unterschieden:
I. Die subjective oder rein innerliche Welt des Willens, in
der reinen Ethik, welche als besondere Theile in sich
schliesst:
1. die Geschichte der ethischen Prinzipien und
2. das System der Moral.
II. Die objective Welt des Willens oder der objective Geist,
im Sinne Hegels, im Systeme der concreten Ethik,
im antiken Sinne des Wortes. Diese schliesst folgende
Momente in sich:
1. als das Moment der Einzelheit, die Wissenschaft
des Staats, und zwar:
a. die Pädagogik,.
,^ b. die sociale Wissenschaft und
c. die Politik.
2. als das Moment der Besonderheit, die Wissen-
schaft des Völkerrechts;
8. als das Moment der Allgemeinheit, die Philosophie
der Weltgeschichte, als eine ethische Disciplin.
Diese ist wiederum:
a. nach dem geographischen Momentei die philo-
sophische Erdkunde oder speculatire Geo-
graphie;
b. nach ihrem ethnogr^Msch« politischen Momente,
die eigentliche Philosophie der Geschichte
im engeren Sinne;
c. nach ihrem culturgeschichtlicheil Elemente , die
philosophische Culturgeschichte, und
zwar philosophische Geschichte
Jahrb. tSa «peeol»!. Philei. T. 1, 3
18
Die Jahrbfteher
a. der Kunst,
ß, der Philosophie und
t^. der Sittlichkeit, als philosophische Sit-
tengeschichte.
111. Die absolute Welt des Willens (ßdiS Absolute als Inhalt
des Willens), in der Philosophie der Religion, mit
ihren besonderen Theilen:
1. Phänomenologie derreligiösen Idee, nämlich:
a. religiöse Anthropologie,
b. Phänomenologie des mythologischen
Geistes,
c. philosophische Religionsgeschichte.
2. Ideologie des religiösen 6 eist es der Mensch-
heit, nämlich;
8. philosophische Kirchen- und Dogmen-
geschichte,
b. spcculative Dogmatik oder im engeren
Sinne sogenannte speculativc Theologie;
C. theologische oAet absolute Ethik.
3. Pragmatologie der religiösen Idee, nämlich:
a. Wissenschaft des absoluten Priester-
thums der religiösen Idee,
b. absolute Pädagogik der religfösen iHee,
c. absolute Liturgik oder Dramatik des abso-
luten Cullus.
(üeber diese neue Gliederung der theologischen' Wissenschaft
vergleiche man die folgende Abhandlung des Herausgebers über
die Idee der speculativen Religionswissenschaft.J
Was zunächst die naturwissenschaftliche Seite der
Philosophie angeht, so war der von Hegel gegebene tiefsinnige
Entwurf der Naturphilosophie einerseits der bodenlosen, phanta-
stischen Willkür der durch Schelling hervorgerufenen naturphilo-
£(opbiachen Tendenzen m^ andrerseits der unwissenschaftlichen
Fofm der etnpiriscben Naturwiäisenschaft mit der Tendenz entgegen
getreten , beide Einseitigkeiten auTzuhefaeo vnd die Versöhnung der
S^ipiriQ mit deir philosophischen Idee ki einer wahrhaften Wissen-
sobaft d(rr TMw aazubahnon. Weit entfernt aber, dass die philo-
sophische Auifassung un4 Erkenatoiss der Natiir auf die empirischen
für 8]ie<iilüife Philosophie. |9
NaturwiflseMClMiften seitdem eiwen erheblicten BinfittW ausgeübt
hältev ist es vtelmehr dahin gekomm«il, d$ss *^ niebi ohne Schuld
der Philosophen selbst — unter den Naturforschern heutiges Tags
eine bis zur entschiedenen Verachtung fortgehende Verstiniinimg
gegen die philosophische Behandlung der Natorwisseiiscbaften
herrscht, während von der empirischen Naturwissenschaft, die sich
äusserlich auf allen ihren besonderen Gebieten eines immer kräftigern
Gedeihens und einer immer glänzendere» Erweiterung erfreut, auf
jßnes Ziel, die stoffliche Fülle von Entd<eckungen , Beobachtungen
und empirischen Forschungen auch durch die Idee zu beherrschen,
geistig zu durchdringen und zur Totalität der Naturanschauung
organisch zu beleben und so* die in Anspruch genommene Eman-
cipation und SelbststäAdigkeit aueh^ durch Erhebung derselben zu
wafal*haft wissenschaftlicher Gestalt, zur Thai und Wahrheit zu
machen, keineswegs allgemein hingearbeitet wird. Sind nicht die
Werke unserer renommirtesten Natur forscher, in Rücksicht auf Wis-
sensdiaftlichkeit und Methode., für den aii die Strenge des metho--
dischen Denkens Gewöhnten immer noch |fanz ungeniessbar ? Gilt
nicht, wenn irgendwo, so gewiss hier das Dichterwi^t:
Haben die Theäe in der Hand^
Fehlt leider nur das geistige Band — ?
Und ' stehen nicht immer nocb Arbeiten« ton Männern ,; wie
A. V. Humboldt, in der naturwissenschietftUchen Literatur ziem»-
lieh isolirt da? Was nun die Männer der Emperie verschmähen,
wird von der Philosophie als ein dringendes Bedürfniss erkannt;
die Versöhnung der Empurie mit der Wissenschaft zu erreichen, .
in die fast unübersehbare Fülle de» Stolle» orgiaDische Einheit zu
bringen und auf der Basis einer gesunden empirischen Anschauung,
einer gründlich hingebenden Vertiefung in das stoiHiche Element,
durch' vorurtheilsfreie Analyse der Erscheinungen, durch denkendes
Begreifen des Gegebenen die Wissenschaft der Natur im walu-
haften und höchsten Sinne des Worts zu schaffen, auf der er-
r^mgenen erfahrungsmässigen Grundlage da» Ganze der Natur als
ein System der reinen Formen des Anscbauens im Gedanken zu
reproduciren, dies ist die noch jüngst von A. v. Humboldt in ihrer
Nothweudigkeit anerkannte Idee der Nffturp^hilosopbie, an
deren Realisirung die gegenwärtigen Jahrbücher mitarbeiten wollen«
Auch die medicinische Wissenschaft, die mit ihrem theoretischen
2*
20 Die JnhrbQdier
Theile ganz der Naturwissenschaft angehört , insbesondere die
Physiologie als Naturlehre des Menschen, liegt aus diesem Grunde
im Bereich dieser Jahrbücher, welche von diesem Gesichtspunkt
aus geistvollen' Naturforschem der Gegenwart auf der einen und
eigentlichen Naturphilosophen auf der andern Seite ihre Hallen
öffnen werden.
Es wird der näheren Feststellung und Begründung durch die
Wissenschaft überlassen bleiben müssen, die obschwebende Streit-
frage zu erledigen, ob der Uebergang aus der Naturphilosophie in
die Philosophie des subjectiven Geistes strenger oder
loser gemacht und ob die Lehre vom Menschen, als philosophische
Anthropologie, im weitesten Sinne des Wortes gefasst und auch
die Darstellung der leiblichen und animalen Seite des Menschen
als Voraussetzung der eigentlich psychologen Seite in diese Dis-
ciplin mit hereingezogen werden solle. Ist nun auch, in Bezug
auf die Phychologie, die weitere Ausführung und Specification der
von Hegel gegebenen allgemeinen Grundzüge der Lehre vom sub-
jectiven Geist in der Hegerschen Schule begonnen worden; so
lässt doch gerade im Gebiete des subjectiven Geistes der Hegersche
Standpunkt manche Erweiterung, Berichtigung und reformative
Vervollkommnung als nothwendig erscheinen, wozu jüngst von
Seiten der Krause'schen Schule durch Lindemann's Anthropologie
-eine sehr beachtenswerthe Anregung und indirecte Aufforderung
geschehen ist. Was in der HegeFschen Psychologie als dritte
Seite des Geistes erscheint, als freier Geist oder als vernünftiger
Wille, bUdet keineswegs die wahre concreto Einheit des theore-
tischen und praktischen Geistes als ein drittes, beide in sich schlie3-
sendes, höheres Moment. Diese Harmonie von Wissen undWoUen,
die pathologische Einheit der Intelligenz und des Willens und als
solche die höchste Intensität und Vollendung des Selbstbewusstseins
in der vermittelten Unmittelbarkeit der in sich zurückgekehrten
Empfindung, ist vielmehr die Liebe, deren speculalive Erkennt-
niss und die Bestimmung ihres Verhältnisses zum Denken und Wollen
der Hegerschen Schule überhaupt fehlt. Nach dieser Seite hat di^
philosophirende Gegenwart die Psychologie der HegeFschen Schule
weiterzubilden und die Grundlage derselben von Neuem durchzu-
beiten, um das Ziel und Resultat der Psychologie, den Begriff des
Menschen, wie er aus der Natur als Einheit von Natur und Frei-
für tpeculativ« Phi1o«ophi«. 21
heit sich eriiebl, den Begriff des sobjectiven Geistes als gegebenen
und gegenständlichen, reiner und bestinuiiter zu entwickeln, als
es bisher durch die herrschende Philosophie geschehen ist. Eine
Menge der interessantesten Beziehungen bieten sich hier der spe-
culativen Erkenntniss dar, und die Jahrbücher werden demnächst
bereits einige der hierher gehörigen Probleme, z. B. das Wesen
und die phänomenologische Dialektik der Liebe, das Verhältniss
des Männlichen und Weiblichen, den Begriff des Gemüths, die Be^
slinunung des Menschen und Aehnliches erörtern.
Was weiter die Philosophie der Kunst betrifft, sofern
dieselbe das im Elemente des Schönen zur Erscheinung gebrachte,
im sinnlichen Stoffe zu freier Objectivität herausgestellte Ich in
seiner Idealität und Verklärung zum Gegenstande der philosophischen
Betrachtung hat, so ist für diese theoretische Seite der Kunst,
fiir die Metaphysik des Schönen und die Phänomenologie des künst-
lerischen Geistes in Hegels Aesthetik wenig (mehr, wenn auch
nur andeutend, von Solger} geleistet worden, so dass die Ar-
beiten von Hinrichs , Weisse, Rüge, Rosenkranz, Rötscher, Vischer,
Bohtz u. A. anen wesentlichen Fortschritt gegen die Hegerschen
Anfinge darstellen. Solche Beiträge zur Philosophie des Schönen
in seinem allgemeinen Begriffe, zur Bestimmung des Tragischen,
Komischen, des Humors, der Jronie, der classischen, romantischen,
modernen Phantasie, zur Phänomenologie des künstlerischen Be-
wusstseins, femer einzelne künstlerische Portraits, sofern sie nicht
auf dem Standpunkte des blos Geistreichen , sondern auf dem des
philosophischen Denkens und der ästhetischen Kritik entworfen
sind, diess und Aehnliches werden die Jahrbücher im Auge haben,
welche gleich in einem der nächsten Hefte eine Kritik des ersten
Bandes der Aesthetik von Fr. Vischer bringen sollen.
Auf dem Gebiete der reinen Philosophie oder der Philo-
sophie im engem Sinne des Wortes, welche das Denken als sol-
ches zum Object der Betrachtung hat, sind die innerhalb der
Hegerschen Schule erwachten kritischen Tendenzen mit grösserem
oder geringerem Glück und Erfolg auch gegen die prinzipielle
Grundlage und das System der HegeFschen Logik gerichtet wor-
den. An dieser von Jüngern Denkern begonnenen kritischen Be-
wegung hat sich nun die Fortbildung der Wissenschaftslehre in
^cr Gestalt zu manifestiren, dass einerseits den von Hegel iden-
22 ^*^ Jahrbächer
tfficjrlen Disciplfneri der Logik und Metaphysik ihr abgegfrenztes
Gebiet, als zwei mit einander parallel laufenden und in der Er-
kenntniss- oder Methodenlehre zusammen mündenden Wissen-
schaAen, mit Entschiedenheit yindicirt und andrerseits das Denken
durch seine dialektische Selbstentwicklung zum wahrhaften Wissen,
als der Identität von Form und Inhalt, erhoben und so der wahre
Begriff der Wissenschaftslehre, im höchsten Sinne des Worts,
systematisch herausgestellt wird.
Ein grosses und reiches Feld fbr die speculatire Thätigkeit
bietet ferner die eigentliche praktische Philosophie, als die
systematische Einheit von Ethik, tm engem Sinne des Wortes,
Oeschichtsphilosophie und Religionsphilosophie. Die Ethik zunächst,
nach Wirth's Vorgang, aus ihrer früheren Erniedrigung immer
bestimmter zu ihrer wissenschaftlichen Würde und wahren Stellung
im eneyclopädischen Organismus der philosophischen Idee zu er-
heben und ihren Begriff nach aRen Reiten auseinanderzulegen, dann
im Besonderen aus der Geschichte der Ethik einzelne Partieen
monographisch zu behandeln, die Hauptprobleme aus der Moral,
die Natur des sittlichen Geistes, die Idee der Freiheit und ihre
Entwicklungsformen, den Begriff des Willens und Aehnliches prin-
zipiell zu erfassen, ausserdem aus der Sphäre der individuellen
und socialen Sittlichkeit , der Pädagogik, der Philosophie des Rechts
und Staats die wichtigsten und interessantesten Fragen zu erörtern,
diess sind Materien, deren Erledigung als ein würdiges und lohn^-*
des Ziel Tür unsere Jahrbücher erscheint, die auch hier bereits
eme Reihe ausgezeichneter Vorarbeiten hinter sich haben. Gerade
in diesem Gebiete stände eine Ueberhänfung zuströmencfen Materiab
am Ersten zu erwarten, läge es nicht in der Tendenz unserer
Zeitschrift, nur auf solche Beiträge zu reflectiren, die wirklich auf
speculativem Boden stehen und mit philosophischem Sdiarf-« und
Tiefsihn die Gegenstände zu durchdringen verstehen.
Mündet nun die philosophische Politik mit der Erkennt&iss des
völkerrechtlichen Organismus in die Philosophie der|Weltgeschichte
ein, worin der Staat und die Völkerindividuen als blose Momente
in einer höheren Totalität aufgehen, so besondert sich der be^
griffene Organismus der Weltgeschichte, als philosophische Ge^
schichtswissenscbaft oder Historiosophie, zunächst nach ihrer geo-*
graphischen Grundlage und Voraussetzung, dann nach ihrer eigent-*
für spomilative Philosophie. 23
lioben bfoilen Baste imd endlich Hacii ükreiit htfolBleii BSitbenteben
in die einzelnen Disciptinea der philoflopbischen Erdkunde, der
Gesohiclitsphilosopbie im engem Sinne des Wortes und der philo-
sophischen CttUurgeschichte^ wdobe letztere in die letzte philo-
sophische Disciplin, die ^»eculative Reiigioaswissew^chaft, den
Uebergang bildet. Was das erstgenannte Moment, das geographische
Element der Wettgesehichte angebt, so hat sieb dickes in jüngster
Zeit auf den speculativen Standpuiikt, nämlich zu freier wissen*
sckaftlicher Selbstständigkeit, eur Idee der Geographie, erhoben,
welche «1$ Vorschule der Politik , als yordusgesettles Moment der
Weltgeschichte gefasst and attsfilkrlioh dargestellt zu haben, als
das schöne Verdienst des ausgezeichneten, bahnbrechenden Werkes
von Ernst Kapp (philosophische oder vergleichende allgemeine
Erdkunde^ 1845^ 2 Bde.) bezeichnet werden muss. Um auch diei^es,
bisher noch wenig und mit geringem Erfolge betretene Gebiet
inmer allseitiger in Besitz zu nehmen, zum Ausbau und zur
VoUeildttng der philosophischen Geographie die Bausteine zu liefern,
dazu ladet der Herausgeber dieser Jahrbücher die geeigneten Ge*-
lehrten dieses Faches auf da» Dringendste ein. Eine Beurtheilung
des genannten Kapp'schen Werkes selbst ist bereits für eines der
nächsten Heft^ der Zeitschrift von tüchtigen Händen in Aussiebt
genommen.
Die philosophische Erkenntniss der Weltgeschichte,
nach ihrer ethnographisch -politische» Seite betrachtet, bietet eben-
folls Stojff genug fiur unsere Jahrbücher. Nur die ersten Anfange
und Gmndzüge zur eigenllicben . 6eschich(sphilosophie haben die
Hegel'sdhen Voriesungen^ gegeben^, die. Aufgabe selbst aber keines-
wegs befriedigend gelöst; eine Anzahl philosophisch gebildeter
Männer haben die Bahn des wissenschaftlichen Fortschritte^ in der
philosophischen Bebtaidlung der Geschichte eröffnet, und es haitdelt
sich nunmehr daruu)^ auf dem eingeschlagenen Wege fortgjehend,
diarch eine immer iiinigere Durehdria^ung und organische Belebuiig
des historischen Stoffes die ^«mlative Geschichtsbetrachtong als die
eittzig wahre historische thatsäeUicb zik erweisen, die Geschichte
selbst aber in ihrem organischen Entwicklungsgänge als die That
der menschlichen Freiheit, die ihr eign^ Selbstzweck ist, darzu-
stellen und endlich als Resultat der begriffenen Vergangenheit und
Gegenwart aach die Grundasüge der Zukunft und die Aufgaben,
24 Di« Jahrbudier
an dwen Realisinaig der Gral der Zeil zonftchsl m aibeilen fcal,
mit prophetisch -inaUndivem Geiste feslEustell^.
Die DarsteUmifr der Haoptseiteii des Geistes der Menschheit
In ihrer praktischen, weltgesdycfatlichen Entwicklong bildet das
Interesse der philosophischen Cnlturgeschichte, deren be-
sondere Momente in der Gesi^idite der Kunst, der Phflosophie
und der Sitte als selbsAständige Disciplinen hervortreten. Wird als
die nothwendige Bedingung und Grundlage einer jeder diestf Dis-
ciplinen die kritische Ausmittelung und vergleichende Analyse des
historischen Stoffes und die liebevolle Hingabe und Entäusserung
des philosophischen Subjects an die Geschidite und ihren objeetiven
Entwicklungsgang bezeichnet werden müssen, so kann die Tendenz
der philosophischen Behandlung der geschichtlichen Seite der Kunst,
der Philosophie und der Sitte nur darin liegen, audi auf diesem
Boden die Aufgabe der philosophischen Geschiehtschreibung über-
haupt immer gründlicher zu lösen, für dwen wissenscafUichen
Ausbau Monographieen von ganz besonderer Wichtigkeit sind. Es
werden die Jahrbücher auch nach dieser Sdte bemüht sein, den-
jenigen Männern der gegenwärtigen Wissenschaft, wdche der
autonomen Idee huldigen, eine geeignete Gelegenheit zu geben,
um ihre Studien und Kritiken in einer zugleich künstlerisch mög-
lichst vollendeten und vom philosophischen Geiste beseiten Form
dem wissenschaftlichen Publikum vorzulegen.
Im Gebiete der Religionsphilosophie, wie sie als eigent-
liche Idealwissenschaft nicht Wos die gegebene Religion zu be-
greifen, sondern ebenso auch die Idee der Religion, als der Wirk-
lichkeit einzubildendes Ideal, herauszusteUen hal, haben die Jahr-
bücher sich die Aufgabe gesteckt, an der Realisirung der wahr-
^jaften Idee der Religionswissenschaft als speculativer Wissenschaft
in der Weise mitzuarbeiten, dass nicht blos die gegebene Religion
als solche, die religiöse Vorstellung, begriffen, sondern vielmehr
die religiöse Idee selbst im organisch -dialektischen Prozesse der
freien SelbstverwirkKchung ihrer Momente denkend erfasst wird,
wie dies näher die folgende Abhandlung des Herausgebers zu ent-
wickeln versucht. Das in allen ihren Erscheinungen identische
allgemeine Wesen der Religion, das Wesen und der Begriff der
Offenbarung, die subjectiven, objectiv- historischen und absoluten
Formen des religjfösan Bewusstseins, das Wesen und die gesdiicbt-*
für tpebnlatiye Philosophi«. 26
liehe BuhMcidttim^ des Opfers, des Priesterthums, die Idee des
Gebets, der Festfeier,' der Begriff des Urchristenthums, des Katho-
lidsmus nnd des Protestantisiniis , die Idee des ewigen Eyangeliums,
die Zukunft des Christentliunis, desgleichen einzelne dogmatische
Punkte, wie die Idee der Erlösung und Versöhnung, das absolute
Priesterthum, die Unsterblichkeitsidee u. A., — dies werden Fragen
sein, deren speculative Lösung die Jahrbücher gewissenhaft zu
erstrebe . gedenken und für diesen Zweck allen denjenigen Bei-
trägen, die nidit bei dem blosen Begriffe des Gegebenen stehen
Heifoen, sondern von da mit prophetischer Energie in das freie
und heitere Gebiet der religiösen Idee sich erheben , bereitwilligst
Raum gestatten.
Indem wir so in der Kürze den Gesammtorganismus der philo-
sophischep Idee nach ihren besonderen ITomenten, ftir den Zweck
des den Jahrbüchern gestediten Ziels, überblickt haben, eröffnet
sich uns das weite und reiche Feld einer wissenschaftlichen Thdtig-
keit, welche für die Zukunft der Wissenschaft und des durch sie
organisch umzubildenden Lebens ein freilich nur durch kräftiges
Zusammenwirken allmählich zu erreichendes Ziel in Aussicht stellt.
Der Herausgeber darf das Geständniss ablegen, dass er sich glück-
Ueh schätzen wird, wenn es ihm gehngt, die jugendfrischen und
zukunftstarken philosophischen Kräfte der Gegenwart in diesem
philosophischen Pantheon zu gemeinsamer Geistesarbeit zu ver-
sammeln und insbesondere alle diejenigen Schwierigkeiten glücklich
zu überwinden, die beim Entstehen eines solchen Instituts unaus-
bleiblich sind, über alle gefährliche Klippen hinauszukommen, an
denen ähnliche Unternehmungen der jachsten Vergangenheit ge-
scheitert sind. „Es müsste ein unaussprechlich herrliches Gefühl
sein, sich in dem 'Besten und Edelsten, was man selbst in sich
hegt, als eine Frucht eines gebildeten Zeitalters und einer be-
geisterten Nation betrachtet! zu dürfen, alles Gute und Schöne
gern dem Ganzen zu danken, es diesem froh und willig wieder
darzubieten, und sich in der Anbetung des Göttlichen und Treff-
lichen als Eins mit seinen gesammten Umgebungen zu flihlen. Un-
sterbliche und wahrhaft grosse Werke würden dann entstehen.
Denn Niemand glaube etwas Grosses einsam leisten zu können;
das Wirksame, das Dauernde in allem unserm Thun ist ja doch
diis, was nicht dem Einzelnen angehört, sondern dem Zeitalter,
2ft Die Jahrbttoher für «pecalative PhikMophie*
dem Volke, durch welches sich das gttUlkhe Leben effenberl; Der
Einreise dagegen, wenn er sich mit seinen Umgebungen im Wider-^
Spruch sieht, schliesst sich ab, unterliegt dem Geiste des Wider-
spruchs und der Widersetzlichkeit und erbittert sich zum grössten
Nachtheil seiner eignen Wirksamkeit.^
So seien denn alle Männer des Geistes, die der Autonomie
der philosophischen Idee in Sinn und That huldigen, zur Theil-
nahme an den Jahrbüchern nochmals aufgefordert und auf das
Freudigste begrüsst. Und das ep xal näv^ das sich durch das
iv Staqdgovv ,iavTip erläutert, möge das Banner sein, unter dem
wir uns schaaren!
Worms, den 18. Februar 1846.
Ii. üoack.
Abhandlungen.
I.
Die Idee der specnlativen Relislons«
wlsseiiscliaft«
plan un))f (Snttpurf
einer neuen Grundlegung der theologisiAen Encydopädie ab System.
. Durch die im einleitenden Vorworte zu diesem Hefl ange«-
deutete Gliederung der Reiigionsphilosophie ist der Herausgeber
von der bisher üblichen Eintheilung der theologischen Encydopädie
so wesentlich abgewichen, dass eine Rechtfertigung und nähere
Begründung dieser Abweichung mit Recht von ihm erwartet wer-
den dürfte. Diese zu geben ist die Absicht der folgenden Zeilen,
in denen eine neue Grundlegung der theologischen Encyclopädle
versucht und die Idee der Theologie mit ihren besonderen Mo*
menten aus der philosophischen Idee selbst entwickelt werden soIL
Ein solcher Versuch könnte nun zwar von vom herein um so über-
flüssiger erscheinen, als das Werk, welches mit vollem Rechte
dafür gelten darf, den Gedanken der theologischen Encydopädie,
als den Begriff der in ihrem Kreis zusammengeschlossenen Wissen-
schaften, vom Standpunkt der Hegerschen Philosophie aus in aus-^
gezeichneter Weise herausgestellt zu haben, nämlich die Encydo-
pädie der theologischen Wissenschaften von Rosenkranz, nun-
mehr in zweiter^ gänzlich umgearbeiteter Auflage dem Publikuoi
vorliegt. Nichts desto weniger glaubt der Verfasser der vorliegen-
den Abhandlung mit dem Urtheile hervortreten zu dürfen, dass die
bisherige Entwicklung der Religionswissenschaft auf dem Punkt
angelangt ist, wo die Nothwendigkeit einer höheren, im reinen
30 ^'^^ ^^^ ^^^ <
Aether der philosophischen Idee wiedergebornen Gestalt der Theo-
logie erkannt und zugleich die Einsicht gewonnen werden muss,
dass eine solche ideelle Wiedergeburt der Religionswissenschaft
in Einem als das Resultat der kritischen Dialektik ihrer bisherigen
Erscheinungsformen und zugleich als das Resultat der immanenten
Dialektik ihrer bestimmten encyclopädischen Stellung im Totalorga-
nismus der philosophischen Wissenschaften überhaupt, sowie end-
lich als das Postulat des unmittelbaren praktischen Bedürfnisses der
in die schroffsten Gegensätze des Bewusstscins gespaltenen Gegen-
wart sieh erwdäl.
Werden nämlich die bi^rigiefii Entwicklungsstadien des wis-
senschaftlichen Standpunkts in der encycl(^dischen Behandlung
der Theologie auf ihre prinzipielle Form reducirt, so erscheint
die theoWgisdie EncTdopädie der Schulen des Rationalisiofias und
Supranaturalismus in der Form des abstract-subjectiven Verstandes-
empirismus, während sich die Schleiermacher'sche Theologie als
der instinctiv«- analytische Reflexionsstandpunkt des unmittelbaren
Selbstbewuss4sein» und endlich die durch die Bosenkranz'sche En-
eyclopädie ausgeprägte Form des Theologie als ^r genetisch-
gystemaiische Standpunkt des objectiv-historiscfaen BegriiTswissens
bezeichnen lässt.
Was Schleiermacher in seinea Reden über die Religion ahnungs-
voll begonften hat,, näonlich an^att todte dogmatische Formen und
gege)>efle religiöse Vorstellungen in scholastischer Weise zu re-
prodttciren, vieliaehr aus der Tiefe des. religiösen, gpU vollen Ge-
müthes selbst die Mysterien der Religion als die heiligen Mysterien
der Menschheit zu entwickeln, dies hat Hegel und die Hegel'sche
Schule auszuruhren überkommen. Aus dem Standpunkte der sub-
jectiven Geftablsreßexion ist das den Gegenstand der Wissenschaft
denkende Subject herausgetreten in den objectiven Standpunkt der
immanenten Dialektik^ welcher, ron dem blosen Bewegen der
Subjectivität abstrahlrend und in den Gegenstand sich vertiefend,
.den Gedanken sich selbst entwickeln zu lassen ^ und alles blos
{[egenständliche,^ fremde, äusserlicbe Wissen, versehmähend, den
Gegenstand seinen, eignea Inhalt aus- sich, selbst erzeugen zu lassen
strebt und damit die Wissenschaft zur sich selbst beweisenden
macht. Durch üegA wurde im Organismus der philosophischen
J)iscipliii6n auch: der Religion, als Phihisophie der Religion j ihre
speculativen Reti^ionswisBenscIiaft. |J|
bestfanmte Stelle angewiesen und von dem Prineip der absoluten
Einheit von Philosophie und Rriigion ausgegangen. Nur in der
¥or)ii sind beide verschieden; der Inhalt, das Absolute, ist l)eiden
gemeinsaiii; nur hat die Religion diesen ihren g(^tlichen Inhält in
der Form der Vorstellung und des abstraeten Verstandes, während
ihn die Philosophie in seiner Allgemeinheit und Nothwendfgkeit
zu ergreifen, in's «speculative Wissen zn erheben hat. Indem
Hegel seine Methode auch in die allgemeine Religionsgeschichte
einführte, erschien diese nicht mehr als ein äusserliches , empi-
risches Aggregat unbegriffener Erscheinungen , ebenso wenig Wo«
als comparalive Religionsgeschichte; sondern sie wurde unter den
Oesichtspunkt eines von einer allgemeinen Grundidee getragenem
organischen Ganzen gestellt, dessen Aufgabe es sei, zuerst itk
Allgemeinen den Begriff der Religion, die innere, objedive Noth-
wendigkeit des religiösen Standpunktes und sein dialektisches Fort-
schreiten zum speculativen Wissen und die äussere Erscheinung
der Religion im Cullus darzustellen, dann den objectiv-bistorischen
Entwicklungsgang des religiösen Bewusstseins der Menschheit geistig
KU reproduciren, die einzelnen Religionen als bestimmte Momente
der Entwicklung des religiösen Geistes der Menschheit, als die
Stulenformen des Selbstbewusstseins zu begrdfien, welohes in der
christlichen, als der absoluten oder offenbaren Religion, zur voll-
endeten Einheit des Göttliehen mid Menschlichen,, des absoluten
und endliehen Geistes, zur vottendeten Wirklichkeit des Selbstbe-
wusstseins im Gottmenschen gekommen ist.
Hegel ist der eigentliche Begründer der pbSosophisehen Re^
Kgionswissenschaft, ohne dass er übrigens die wahrhafte Durch-
dringung und Vermittlung des historischen und speculativen Wis-
sens erreicht hätte. Hatte Hegel die Einheit der Philosophie und
Religion verkündet, so wurde nun, sobald sich der Einfluss des
Hegel'schen Prinzips auch auf die Theologie geltend zu machen
und dieselbe in grossartiger Weise zu reformiren begann, von
Seiten der Hegerschen Theologen die Versöhnung der Philoisophie
und der Theologie, als speculativer, ausgesprochen und durch die
wissenschaftliche Bearbeitung def emzelnen theologischen Disci-
plinen zu erweisen begonnen. Hegel selbst bat sieh über das
Verhältniss der ReBgionsphilosophre dahm ausgesprochen, dass der
Gegensatz zwischen Retigronsphitosophie und positiver Rdigion mit
02 ^^ ^^ ^^
ein vatneinllicher und nicbliger sei, da es nicht 2weieriei Geist
und Vernunft geben könne, eine götüicbe und eine mensdiliche;
dass die Religionsphilosopbie, weit entfeml, den positiven Inhall
der geoffenbarten Religion, der christlichen, zu zei^tören und die
Dogmen aufzulösen, viebnehr die durdi den Verstand auf ein Mi-
nimum reduciirte Kircbenlebre wiederherstelle, die Dogmen rette^
indem sie dieselben begreife, ihre absolute Entstehungsweise, ihre
Nothwendigkeit und Wahrheit für unsern Geist, als in unserm Geiste
selbst vorgehende Geschichten, nachweise. In diesem Sinne wurde
die Theologie als speeulative und mit der Philosophie versöhnte um
desswillen aufgefasst, weil sie das Gegebene flüssig mache, seinen
positiven Kern denkend erfasse und aus der überlieferten Gestail
in (tie wahre Form des Begriffis erbebe.
Es könnte hiernach scheinen, als ob mit der wissenschaftlichen
Form, welche die Theologie durch die HegeFsehe Schule erhalten
hat, die Religionswissenschaft im Yi^esentlichen ihre Vollendung
erreicht habe, so dass sie nur noch in einzelnen Partieen der Be-
reicherung, concreten Durchführung des Prinzips und grösserer
fCNrmeller Ausbildung bedürftig erschiene, in der Anschauung ihrer
ideellen wissenschaftlichen Totalität ab^ zu vollständiger Abrundung
gelangt wäre. Diese zum Vorurtheil der Schule gewordene Vor**
aussetzung erscheint jedoch als unbegründet; der Ausdruck, wel-
chen die Religionswissenschaft innerhalb der HegeFschen Schule
erhalten hat, entspricht keineswegs der Idee dieser. Wissenschaft
als einer wahrhaft speculativen; vielmehr muss behauptet werden,
dflss damit streng genommen das Wesen der Religion sowohl an
sich, wie auch als Philosophie der Religion geradezu aufgehoben
und vernichtet ist, sofern es auf dem Hegerschen Stand-
punkt als letzte und höchste Aufgabe der Religionsphilospohie er-
scheint, aufzuzeigen, wie die Religion als solche im absoluten
Wissen auf- d. h. untergeht und die Philosophie oder das Wissen
als das Höhere an die Stelle tritt.
Die Religionsphilosophie innerhalb der HegeFschen Schule stellt
sich von vorn herein bei der Betrachtung der Religion auf den
Standpunkt des Absoluten; sie geht ausdrücklich vom ganz Ab-
stracten.und rein Allgemeinen aus, vom Absoluten oder Gott als
2sunäch£(t bloss vorausgesetztem und noch leerem, gehaltlosem Na-
men, und dieses Allgemeine oder Absolute, welches als. dieser
•peculatiYen Religionswissenschaft. g3
abstraete Anfang doch wieder zugleich auch der noch eingehülite
Begriff der Religion selbst sein soll — das Absolute selbst soll die
Religion sein — soll in die Sphäre des Besonderen, der Differenz oder
Bestimmung fortgeben und dieses sich besondert -habende oder
sich entzweit -habende Absolute soll dann die Dualität der Elemente
im menschlichen Bewusstsein oder das religidse Yerhältniss sein -^
also die Religion als solche soll in der Efttzweiung stehen. Sofern
diese erst im Wissen durch die Philosophie aufgehoben wird, isl
der Hegel'sche Standpunkt fär die Religion als solche ein rein
v^niebtend«»*, dessen Consequenzen Feuerbach ausgesprochen und
damit offen dargethan hat, dass die Versöhnung, welche die Philo-*
Sophie als Hegel'sche^ mit der Religion und ihrer Wissenschaft,
der Theologie, feiern zu dürfen meinte, eine Täuschung war«
Das Begreifen der Religion ist hier nur der Weg, um zur Be-
freiung von der Religion als solcher zur Philosophie zu gelangen,
welche sofort die Religion zu ersetzen habe und gegen deren
Standpunkt j^e als eine unwahre Stufe des Bewusstseins erkannt
wird. Indem Hegel den specifischen Standpunkt der Religion als
die Vorstellung des Absoluten bestimmt, bleibt er dabei stehen,
eben nur die endliche Erscheinungsform der Religion und ihrer
bisherigen Entwicklung zu fassen und den Begriff dieser bestimmten^
gegebnen Gestalt des religiösen Bewusstseins aufzustellen. Dieser
Begriff ist eben nur die zur Form ihres logischen Ausdrucks er-
hobene gegebene Erscheinungsform der Religion, keineswegs aber
die Religion selbst, die Idee der Religion. Soll die Tendenz der
Religion als solcher, auf ihrem eigenthümlichen Standpunkte, nur
darin bestehen, das Absolute vorzustellen, so ist der religiöse
Standpunkt als solcher in Wahrheit überwunden und annihilirt,
sobald nur diese Vorstellung als solche streng gedacht und für
das erkannt wird, was $ie ist, als eine Täuschung das seinen
Inhalt ausser sich setzenden Bewusstseins. Allerdings ist es richtig,
dass die Religion bisher, selbst noch im Protestantismus, als die-
jenige Gestalt erschienen ist, welche Hegel als das specifische
Wesen des religiösen Standpunkts überhaupt bezeichnet, nämlich
als Vorstellung, als das Hinaussetzen des Absoluten aus dem Be-
wusstsein und als die Anschauung desselben in einer gegenständ-
lichen Form. Und diese Erscheinungsform der Religion, die Irans-
cendeirte Vorstellung des Absoluten hatte Hegel vollkommen Recht,
Jahrb. ffir speculat. Philo«. I. 1. 3
34 Die Idee der
zur Iininanens des Absoluten sich anfliebeii zu lassen. Hit diesem
kritischen Act ist aber nidit sowohl die Stnfe der ReUgfion ttber«»
haupt Überschritten und verlassen und schlechthin in eine höhere
Sphäre, in den philosophischen Standpunkt übergegangen, wie
Hegel will, sondern damit ist vielmehr gerade nur der religiöse
Standpunkt^ auf seinem eignen festen Gebiete von einer Unange-
messenheit und j Täuschung befreit, und was als das Höhere sich
herausstellt, ist nicht ein specifisch Miderer Standpunkt, sondern
nur die immanente Wahrheit und Idealität des religiösen selbst.
Die Idee der.Religion, die wahre Immanenz des Absoluten, kennt also
der Hegersche Standpunkt nicht; er bleibt beim Begriffenhaben der
historisch gegebnen Gestalt des religiösen Bewusstseins stehen.
Es ist aber, wenn sich die Wissenschaft nicht bei einen absoluten
Bruch der Religion und Philosophie beruhigen will ^ und diess
wird sie nicht können, ohne sich selbst aufzugeben — im Be-*
reiche der Philosophie, im weiteren und allgemeinen Snne des
Wortes, einen heiligen Tempelkreis geben, wo djpselbe mit der
Religion als Mos gegebner und objectiv vorausgesetzter, mit ihrer
bisherigen Erscheinungsform allerdings kein directes Verhältnias
mehr hat^ sondern wo die Philosophie die Religion in ihrer reinen,
von allen Voraussetzungen unabhängigen Idealität zum Gegenstand
hat oder vielmehr die Religion in dieser ihrer Wahrheit scböpferisdi
aus sich heraussetzt und anschaut.
Jenes angedeutete Verhältniss des Hegel'sehen Standpunktes
zur Religion und Religionsphilosophie hängt aber mit dem Ver-
hältniss, in welchem in der Hegel'schen Logik der Begriff zur
Idee steht, wesentlich zusammen. Nach Hegel ist nämlich die an
und für sich seiende Einheit des Begriffs und der Objectivttät die
Idee, deren ideeller Inhalt die Bestimmungen des Begriflb und ihr
reeller Inhalt dessen äussere Darstellung in d^ Objectivilöt sein
sollen, so dass diese die Wahrheit des Wirklichen oder diess ist,
dess eben die Objectivität oder das WirkMehe dem Begriff enU-
spricht, dessen Ausdruck ist und durch ihn zusammengehalten
wird. Diess ist die Achillesferse in der HegeFschen Lehre von
der Idee, dass dieselbe vom Begriff gar nieht unterschieden ist.
Was er vorher Begriff nennt, den lebendigen Geist oder die Ver-
nunft des Wirklichen, diess bezeichnet er sofort auch mit dem
Ausdruck Idee. Diese soll der Begriff und seine Existenz, die
speculativen RdigioDiwisseiMcliaft. 35
Identität desDaseim und Begriffs, der ObjectiTitüt and desBegrifib
sm^ Aber die Objeelivitöt ist ja selbst nach Heg^el nur die er«-
«icheinende Wirklichkeit des Begfriffs, das wirkliche Dasein desselben,
dessen Einheit mit der gegenwärtigen Wirklichkeit. Die Definition
dar Idee füllt so ganz mit der des Begriffs zusammen und doch
so}l dieselbe yoip Begriff yerschteden, das Höhere gegen ihn, seine
Wabrbett sein; der Begriff soll sich durch seine immanente Dia^
lektik fortentwiekein und ih die Form der Idee erheben und diese
soll doeh eben nichts anders sein als der Begriff. Die Hegel'sche'
Logik macht sich also seU)st ebendieselbe Täuschung vor, welche sie
a«ch dem Absoluten oder der Idee zuweist, ein Anderes, als sei
es das Höhere, sich gegenüber zu setzen und diese Täuschung,
fils ob eben dieses Höhere nicht schon an und für sich voUruhrt
wäre, wieder aufzuheben und als Täuschung aufzuzeigen, D^r
Zusatz im ersten Theil der Encyclopädie $. 213 (S. 384} verrätt
mit merkwürdiger Naivität diess ganze Geheimniss derlndentitüts-r
Philosophie und lässt sich als der klassische Ausdruck des ganzen
Hegel'schen Standpunktes, als sein philosophisches Glaubem^er
kenntniss ansehen. In d^ Idee ist nach Hegel die Bestimmtheit
des Begriflb nur er selbst, sie ist die eigne Bestimmtheit des Be-f
grifiis oder der Begriff, der sich in seiner Objectivität selbst aus^
gefolul hat, der aber eben auch schon an und für sich ewig schon
ausgeführt ist. Ebendiess aber, dass es sieh so verhält, augen^
aeheinlich hervorzustelien, ist das dialektische Thun der Idee, ihr
negativer Prozess.
Obgleich die Hegel'sche Philosophie darauf Ansprudi macht, den-
kende Erkenntniss der Idee zu sein, hat sie dodi das wahre Wesen d^
Idee keineswegs erfasst und begriffen, sondern bleibt dabei stdien,
eben in ^Wahrheit nur die Erkenntniss des Gegebnen oder Begriffs^
vrissen zu sein, von der Idee und dem Ideal aber abzuseh^. Das
Bewusstsein, welches sie von sich ausspricht und zu haben vor-
gibt, Ideenlehre zu sein, ist nur eine Behauptung, Tür welche die
faktische Bewährung fehlt. Ist der Begriff die Erhebung der Ob-
jectivität oder gegebnen Wirklichkeit in die Totalität ihrer reinen
Gedankenbestimmungea, so heisst diess doch nichts anders, ab
dass der Begriff die logisch bestimmte oder begriffene Erscheinung
ist; die Erscheinung hat den Begriff zu ihrer Voraussetzung und
was wirkhch zur Erscheinung kommt, ist eben nur der Begriff in
3*
n|» Die Met der
seinen besonderen Momenten, die als Begriff zur Totaliläl zasammcii
gefasst werden. Während nun also der Begriff nur die logische
Form des Gegebnen selbst ist, liegt die Idee über dieses unmittelbar
hinaus, ist dem Gegebnen transcendent , und nicht der Begriff isl
die Wahrheit, sondern die Idee und gegen sie der Begriff das Un-
wahre, wie auch Hegel wenigstens formell zugibt, nur nicht Ernst
damit macht. Der Begriff ist erst das Ansich der Idee und diese
selbst ist im Begriff die immanente treibende Kraft und über das
Gegebne übergreifende Macht des Für- sich -werdenwollens. In
ihrem wirklichen Freigewordensein vom bloss Gegebnen und ob-
jectiv Vorausgesetzten hat sich die Idee schlechthin über den Be-
griff zu ihrem Anundfürsichsein erhoben.
Der Prozess der Erhebung des Gegebnen und des derselben
Sphäre angehörenden Begriffs in die Idee ist also nicht Erhebung
des Daseins in die logische Potenz der Allgemeinheit, (diess wäre
eben wieder nur der Begriff selbst,) sondern jene Erhebung zum
wirklich Höheren ist die freie Beziehung des Begriffs auf das ihm
und seiner Existenz zum Grunde liegende einheitliche Wesen, das
unmittelbar pröductive Heraussetzen dieses ursprünglichen Wesens
als der höheren Einheit des Begriffs. Der Geist hat und ergreift
j^etzt nicht mehr das einheitliche Wesen als einfach und unmittelbar
gesetztes, sondern setzt es nunmehr selbst^ bringt es zu einer neuen
Wirklichkeit, die zunächst freilich nur eine rein ideelle, bloss im
Reiche des Intelligibeln gesetzt^ ist, aber die Bestimmung und den
Trieb hat, aus dieser Reinheit des Gedankens sich in die äussere
Wirklichkeit überzusetzen, sich Realität zu geben, in die Erschei-
nung hervorzutreten und ihren dialektischen Prozess in höherer
Lebensform von Neuem zu beginnen. Diess ist das ewige Wesen
der Idee, die; somit als eine neue, vom Ich selbst unmittelbar ge-
setzte und frei producirte Lebensform, als die schöpferische That
des alle Wirklichkeit ewig aus sich heraussetzenden Ich erweist.
So aÜein ist die Idee die Wahrheit und Affirmation des Begriffs
nur dadurch, dass sie zugleich seine Negation ist, und nur in
dieser ist sie zugleich als affirmativ gegenwärtig. Diess ist die
nothwendige Consequenz ihrer eignen immanenten Dialektik, dass
aus dem Begriffe die Idee als neuer Phönix hervorsteigt.
Das System der bestimmten Ideän soll nach Hegel diess sein,
dass siiß in die allgemeine und Eine Idee als in ihre Wahrheit zu-
specuIatJTeii Religionswissenichaft. J7
rückkduren« R^cht, Sittlichkeit, Kunst, Religion u. s, w. sind solche
bestimmte, Ideen, welche jede in den i)esonderen philosophischen
PiscipUnen nach allen ihren einzelnen Seiten hin entwickelt werden
sollen, so dass diese in sich zu besonderen Totalitäten zusammen-
geschlossenen Kreise dann wieder, als ebenso viele concrete,
einheitliche Centra, die besonderen ideellen Momente der allge-
meinen und Einen Idee bilden. Was ist nun aber diese allgemeine
und Eine Idee, welche die Genien der besonderen philosophischen
Wissenschaften als Momente eines Systems zur allgemeinen Einheit
zusammenfasst? Doch wohl «licbts anders, als die Idee des Ich,
des allgemeinen Selbstbewusstseins , so dass dann consequenter
Weise jene bestimmten Ideen als die Besonderungen der Idee der
Wissenschaft des Ich oder der Philosophie überhaupt erscheinen.
Als Geschichte des allgemeinen Selbstbewusstseins , als Wissenschaft
des Ich, fasst die Philosophie jene Genien der besonderen Wissen-
schaften in sich zu concreter Einheit und allgemeinen Totalität zu-
sammen, .und was als die allgemeine und Eine Idee jener Besonder-
heiten gelten soll, ist eben nichts anders, als die Idee der Wis-
senschaft, der Philosophie überhaupt. Ist nun aber auch bei Hegel
diess die Meinung? Keineswegs. Der Standpunkt des Ich ist ihm
der des Absoluten; nicht die allgemeine Idee des Ich, das allge-
meine menschliche Selbstbewusstsein ist es, in welche die beson-^
deren Ideen der Sittlichkeil, der Kunst, der Religion u. s. w. zu-
sammengehen als in ihre Wahrheit; nicht die allgemeine Idee der
Wissenschaft schlechthin ist es, in welche die Entfaltung jener
bestimmten Ideen oder die Genien der besonderen phitosophischen
Disciplinen sich wieder vereinigen, sondern jene allgemeine und
Eine Idee ist nach Hegel vielmehr Gott selbst, das Absolute. Nicht
der menschliche Geist also, das menschliche Selbslbewusstsein, ge-
staltet sich die Wissenschaft, sondern Gott selbst schafil und hat
diese Wissenschaft, in welcher die bestitumten Ideen als ebenso-
viele Besonderheiten seines göttlichen Wesens, als göttliche Genien,
die Glieder und Theile bilden. Zu solcher Ungereimtheit führt der
absolute Standpunkt! Bei Hegel erscheinen die besonderen Ideen
der Kunst, der Religion und der Philosopliie, im engern Sinne,
nicht neben einander als, die bestimmten Genien besonderer philo-
sophischer Disciplinen, die dann zu einer höheren, über ihnen
liegenden und sie selbst als ihre Momente in sich befassenden,
38 Die Mee der
aUgemdnefi Idee zusammliefeti; sondern bei ilun verhalleti sick die
besonderen Ideen der Kunst und der Religion zur dritten Idee^
der Idee der Philosophie, ab zu efaiem Höheren über ihhen, anstatt
zu einem gleichberechtigten Momente neben ihnen, und in diesem
dritten Höheren gehen sie zusammen, so dass sie selbst für sich keine
Wahrheit haben, sondern dieselbe nur in diesem dritten £nden,
von diesem absorbirt werden sollen. VergL Hegefs EncyclopMie
$. 572 f.
Soll dieses schiefe Yerhältniss beseitigt und die Idee der
Religion und der Religionswissenschaft wirklich als ein selbst^
ständiger, Ton der Philosophie nicht zu absorbirender, sondern
für sich ideell berechtigter Theil und besonderer Kreis in der all«
gemeinen Sphäre der Wissenschaft des praktischen Geistes auf-
treten, so kann diese Wissenschaft ihre Idealität und Wahrheit
nicht ausser sieh oder neben sich iii einer darauf folgenden höheren
Wissenschaft haben, sondern muss dieselbe in ihrer eignen Sphäre
selbst finden. Ihre selbstständige Stellung ist ohne geheimen Vor-
behalt und Restrictionen factisch zu bewahrheiten. Daraus folgt
denn aich, dass die Theologie oder Religionswissenschaft als ency-
clopädisches System aus ihrem eignen Prinzip und ihrer eignen,
selbstständigen Idee heraus im Zusammenhange ihrer einzelnen
Momente oder Disciplinen sich frei und organisch entfalten mus9,
und die nothwendige höhere Form der theologischen Encyclopädie,
die wir verlangen, darf nicht wieder als eine bloss scholastische
Construction erscheinen, sondern muss sich als eine organische
Einheit und systematische Totalität erweisen. Was insbesondere
dem encyclopädischen Begriffe der ReligionswisseiKchaft als solchem
widerstrebt, ist die abstracte, unwissenschaftliche Trennung der
Theologie von der Religionsphilosopfaie überhaupt. Auch Rosen-
kranz ist über diese Unangemessenheit nicht hinausgeschritten,
indem bei ihm die speculative Theologie, im engem Sinne des Worts,
welche bei Hegel den Schluss der Religionspbilosophie bildet, als
ein aus diesem Zusammenhang herausgenommenes Glied in dem
theologischen Organismus zur selbstständigen Disciplin wird, welche
die Reihe der theologischen Wissenschaften eröffnet, worauf dann
das historische und das praktische Moment, als historische und
praktische Theologie, sich anschliessen. Da nun aber der Begriff
der christlichen oder absoluten Religion, den die Theologie als
fpMiilalivtD R«lifioMwiifeiifchaft. J^ff
«lereii WiMenscliafl aar VoniiuMlnilig und zum AiufgangspiioU
hal, yfeam imders dte .christliche Religioii ttberhaupl begriffen wer-
den soll^ nicht als ein schlechthin gegebner und historisch-positiver
Begriff bloss ttusserlich aufgenommen werden kann, sondern auch
in seiner Entstehung als nothwendig au%ezeigt und abgeleitel
werden moss, eine rein ideale Deduction desselben aber, wie sie
von Rosenkranz in dem phMnomenologisched Theile der speculativen
Theologie versucht, die Entstehung des Christenthums aus dem
Wesen der Menschheit keineswegs zu erklären im Stande ist; so
bleibt kein anderer Weg übrig, als die ganze^ dem Auftreten der
ehristlichen Idee voraufgehende religiöse Entwicklung der Mensch^
heil unter dem Gesichtspunkte der hist(»'ischen Oenesis des Christen-
thums oder der weltgeschiditlichen Pädagogie zum- Christenthum
auch wissenschaftlich darzustellen. Diese phänomenologische Dar«
Stellung bildet dann den Anfang der theologischen Wissenschaft.
Die Religionsgeschichte muss nothwendig der Wissenschaft der
christlichen Religion oder der Theologie, im engem Sinne, vor-
ausgehen, die bisherige Trennung von Theologie und Religions«^
Philosophie muss aufhören und beide als die wesentlichen Seiten
eines und desselben wissenschaftlichen Organismus, der speculativen
Religionswissenschaft^ auftreten. Es gibt auf dem Standpunkt der
wahrhaften Wissenschaft keine Theologie mehr, welche von der
Religionsphilosophie getrennt wäre, die philosophische Religions-
geschichte ist selbst eine theologische Disciplin«
Suchen wir nun diese Idee der speculativen Religions-*>
Wissenschaft näher zu bestimmen.
Der Gegenstand der specuhitiven Religionswissenschaft, als
der zu ihrer Idealität erhobenen Theologie, ist im Allgemeinen
die Religion. Auch Rosenkranz bat, p« V, der zweiten Auflage
seiner Encyclopädie, die Theologie als die Wissenschaft der Re-
ligion bestimmt, sogleich, aber wieder (S. 1) diese Definition ohne
weitere Erläuterung dahin umgesetzt, die Theologie sei die Wis-
senschaft einer bestimmten, positiven und zwiff der christlichen
Religion« Diese Amphibolie der Definition eignet sich nicht zu einer
philosophischen Restimmung des Inhalts einer Wissenschaft, auch
ist die Theologie in ihrer bisherigen Gestalt keineswegs Wissen-
schaft der Religion überhaupt gewesen, da sie die ausserchrist-
lichen Räigionen, mit Ausnahme der jüdischen, nicht in ihren
j|0 Dw Idee der
Xreis aufgenommen, der Mythologie und Religionsgeschidile keine
Stelle im Organismus ihrer besonderen Discipiinen verstauet hatte.
Wird die Religion, als eine bestimmte Sphäre im Leben des Geisles^
der Gegenstand philosophischer Betrachtung, so steht diese Be-
trachtung auf einem dreifachen Standpunkte, sofern als die beson«-
deren Seiten und formellen Momente des Gegenstandes zunäcbsl
das Allgemeinste und Unbestimmteste desselben, sein Wesen, dann
die Bestimmtheit seiner Erscheinung in der Wirklichkeit, sein Be-
griff, als die begriffene Erscheinung oder die gedankenmässige
Bestimmung derselben, und endlich die absohite Wahrheit des
Wesens und Begriffs, seine Idee, sich herausstellen. Die Ent-
wicklung des Wesens, des Begriffs und der Idee der Religion ist
somit im Allgemeinen d^ Gegenstand der Religionswissenschaft
nach den formellen Besonderungen ihres Inhalts, die formelle
Dialektik ihres Inhalts selbst.
Der denkende Geist nämlich, weteher an die Religion her-
antritt, um sie denkend zu durchdringen, hat zunächst den Gegen-
stand als ein gegebnes Yerhältniss, als eine bestimmte positive
Sphäre im geistigen Leben der Menschheit vor sich; er kann aber
bei diesem äusserlichen Gegebensein nicht stehen bleiben. Denn
sowie die Erkenntniss von diesem Anfang aus sich weiter auszu-
breiten beginnt, erweitert sich die scheinbare Einfachheit des Ver-
hältnisses zu einem Complicirten und Mannigfaltigen; es ist nicht
eigentlich die Religion, die da ist und für die Betrachtung vor-
liegt, sondern zu ihr gelangt die Erkenntniss erst auf einem Um-
wege und nur durch eine schon grössere Vertiefung in das Gegebne.
Was da ist. Dies ist nicht sowohl die Religion als solche über-
haupt, sondern ihre Erscheinung und Manifestation in einer Reihe
von bestimmten Religionen, die alle darauf Anspruch machen,
Religion zu sein. Zu ihnen muss sich also die Betrachtung des
Gegenstandes in ein bestimmtes Verhältniss setzen. Dazu kommt
weiter, dass diese bestimmten Religionen nicht bloss da und ge-
geben, positiv sind; sie sind auch geworden und haben ihre Ver-
gangenheit, ihre Geschichte. Endlich weiss die Geschichte der
Menschheit auch noch von Religionen solcher Völker, welche längst
sammt ihren Religionen vom Schauplatz der Erde verschwunden
sind, und es drängt sich die Frage auf, in welchem Verhältnisse
diese zu der Religion als solcher gestanden haben. Ist also der
speculattYen ReligioiiiwisseDSchafl. 41
Gegenstand der Religionswissenschaft schon bei oberflächUdiOT
äusserlicher Betrachtung kein so einfacher und in einem engen
Kreis beschloi^ener^ sondern ein sehr umfangreicher und umfassenr
der, der mannigfaltige Seiten für die Betrachtung bietet, so hat
die Erkenntniss, die sich in diesem mannigfaltigen Stoffe orientiren
und denselben bewältigen will, nicht mit irgend einem Punkte in
dieser Mannigfaltigkeit willkürlich zu beginnen, nicht mit dem
Gegenstande nach einer besonderen Seite semer Positivität, etwa
mit der jüdischen, christlichen, muhamedanischen oder irgend einer
anderen Religion den Anftmg zu machen; sondern es ist vorläufig
von allem Aeusserlichen, Empirisi^en als dem Unwesentlichen ab-
zusehen und das Innere^ festzuhalten, nach einem Punkte, worin
alle diese bestimmten Erscheinungsformen der Religion eins sind,
nach ihrem gemeinsamen Boden zu suchen und das Allgemeinste
des Gegenstandes, das dem Gegebnen und historisch Erscheinenden
zum Grunde liegende Wesen der Religion selbst zu bestimmen.
Erst von da aus kann dann zur Erscheinung dieses Wesens in den
historischen Religionen übergegangen und die bestimmte Existenz
der Religion betrachtet werden. So würde der bestimmte Begriff
der Religion, d. h. ihr zu wisisenschafUicher Form erhobenes Dar^
sein in der Totalität ihrer gegebenen Erscheinungsformen, den
weiteren Inhalt der Religionswissenschaft bilden und auf diese
Weise das gewöhnlich sogenannte positive oder specifisch ge-r
schichtliche Element der Religion seine bestimmte Stelle in der
Wissenschaft finden. Das in der Erscheinung sich manifestirende
Wesen ist aber nothwendig immer auch die Negation des Un-
wesentlichen und Vergänglichen, des Scheins, die negative, dia-
lektische Macht über die positiven Erscheinungsformen, welche die
empirische Bestimmtheit der Religion immer wieder zum Wesen
aufhebt, dabei aber nicht ein schlechtes Uebergehen zu einem An-
deren ist, sondern in und durch diesen Wechsel die Einheit des
Wesens und der bestimmten Existenz, die Religion als solche,
zu immer höherer Form der Erscheinung sich hinaufarbeiten lässt
und so als der substantielle Grund, als das, in sich zur Totalität
und Einheit bestimmte, treibende Prinzip des Fortschritts in der
Selbstoffenbarung der eiiien und ewigen Religion sich erweist
Da die Entwicklung das Gesetz alles Lebens und insbesondere auch
das Lebensgesetz der Geschichte ist, so muss auch die Religion
^2 ^^^ i^^ d^f
in ihrer weHg^schieblUclieil firficlieiiiüng einen Stt^ngfflfng der
Entwicklung darstellen « ihr Wesen mtlss immer TOllkomniner in
dar Erscheinung sich manifesliren und die erscheinende Wirklichkeit
Sich XU tmniB' grösserer Congruenz mit dem Wesen herausbilden.
Wie aber das Wesen seiner inneren Unendlichkeit nach nicht im
Gegebnen aufgeht, sondern über dasselbe hinaus in immer adä«
quaterer, voUendeterer und vom Scheine gereinigterer Gestalt sieh
txk offenbaren drängt, so ist darum. auch vom Standpunkte des
BegriflPs Wissens, vom Begreifen d^ positiven oder geschichtlich
gegebnen Religion zur reinen Idee derselben, zu ihrer absoluten
Wahrheit, 2ur vollen Identität des Wesene und der Erscheinung
fortzuschreiten. Die Idee der Religion i;st die letzte und höchste
Seite des in seine Momente sich auseinander legenden formellen
Inhaltes der Religionswissenschaft und schliesst darum alle früheren
Momente des Gegenstandes als aufgehobene zugleich in sich zusammen.
So bitten wir den Gegenstand der Religionswissenschaft in
der formellen Dialektik seiner Seiten bestimmt ^ und diese formelle
Dialektik des Gegenstandes erweist sich als die wahre Form seiner
Positivität. Der G^enstand der Religionswissenschaft ist allerdings
ein ptisitiver Gegenstand; aber nicht, als ob dieser Inhalt eine
positive Religion wäre, sei es nun in dem Sinne einer besonderen,
gegebenen Religion unter den vielen historisch vorhandenen oder
in dem Sinne einer von Gott auf eine besondere und ausserordent«
liehe Weise, wie dasselbe bei andern Religionen der Fall gewesen,
den Menschen geoffenbarten Religionen. Vielmehr ist der Inhalt
dieser Wissenschai^ die Religion selbst als positive, in dem
höheren und einzig wahren speculativen Sinne, womach das Wesen
der Religion überhaupt ein positives, d. h. im Wesen des
menschlichen Geistes nothwendig gesetztes und hier auf die ewig-^
immanente Offenbarung Gottes begründetes ist und als sokhes
sich durch alle beschränkten und endlichen Erscheinungsform^
dieses Wesens hindurch und über dieselben hinausgehend, durch
die dialektische Macht seiner eignen Negativität zur Idee der Re-
ligion entwickelt und diese selbst setzt. Der durch diesen ihren
eignen Gegenstand bestimmte Standpunkt der Religionswissenschaft
ist. mithin weder der positiv ^empirische, noch der Standpunkt dw
Positivität des Begriffs, sondern viehnehr der Standpunkt der Idee.
Sie ist eine speculative, eine Idealwissenschaft, die Wissensdiaft
fpecalaliven KeHifioniWistenichtft. ^
der denkendeti ErkenntniM <ter rdfgtOsen Idte in ihrer abioloten
PositivKfit. lii dieser ideelteil Dedentong des PositiTen sind mil-
hin folgende dialektische Momente enthalten. Die Religion toi
nämlich poAtiv: a) sofern sie im menschlischen Wesen selbst und
in dessen genetischer Bntwicklting ab nothwendig gesetxt und
begründet ist. Ans dieser ihrer ursprünglichen nnd nnmittelbareii
Position treibt sie sieb dtttdi ihre eigne dialdttische Macht b) mt
bestimmten Form des Anseinanderseins ihrer Momente hervor und
erscheint iris eine Reih« bestimmter Religionen^ deren Begriff ihre
blondere historische Positivitfit ist. Aber hier bleibt die Entwick-^
Ittng ihres Wesens nicht stehen^ sondern sie geht ttber dieses
gegebene Sein wieder hinaus und der sich in sich selbst reflektirendo
and vertiefende Begriff wird c) ab Idee die selbst wieder eine
neoe Wiiidichkeit setzende , eine neue Form schaffende Lebens-»
potenz der Religion.
Die religiöse Idee, dereii Eiitenntntss als der Begriff der spe^
cnlativen Rebgionswissenschaft im Allgemeinen bestimmt worden
ist, erweist sich als eine bestimmte Besonderang der allgemeinen
Idee des Ich überhaupt, der religiöse Geist als eine bestimmte Seite
rnid Spfaftre des allgemeinen Geistes, das religiöse Bewusstsein ab
ein Moment des allgemeinen Selbstbelvusstseins der Menschheit
überhaupt. Sofern nun eine jede besondere Sphttre des geistigen
Lebens nothwendig zu den übrigen und zu ihrer aller Einheit in
wesentlicher Wechselbeziehung steht, hiemach also auch die wis-*
senschaßliche Erkenntnissi einer solchen beSondern geistigen Sphttre
sid^ nothwendig innerhalb der allgemeinen Totalität der Philosophie
des Geistes überhaupt bewegt und nur im lebendigen, jorganischett
Zusammenhange dieser geistigen Einheit möglich ist; so wird sich
der Begriff der speculativen Religionswissenschaft in seiner näheren '
Bestinnnthdt dahin erweitern, dass sie die denkende Erkenntniss
der religiösen Idee als derjenigen Sphäre des geistigen Lebens ist,
hl welcher das Verhalten des Geistes wesentlich als praktisch be-^
Stimmt ist und zwar so, dass das Ich ab praktbcher Geist tn seiner
höchsten Idealität und Freiheit sidi aufhebt, indem es sich mit der
Welt und Menschheit zusammen in einem absolut Andern und
Höheren (Gott) ab allein wirklich erfasst. Stellt sich nämlich ab
das ethische Ziel des weltgeschichtlichen Gebtes und ab Resultat
der Philosophie der Weltgeschichte, der Ethik im weiteren Sinne
^i|. Die Idee der
des \yorts, ein solcher geistiger Organismus des sittlichen Univer-
sums heraus, in welchem der ewige Friede im Elemente der all-
gemeinen Cultur herrschender Zustand ist; so tritt hier aus der
allgemeinen Idee der Menschheit die innere Nothwendigkeil des.
religiösen Standpunkts hervor, sofern jenes Ziel ein blosses Postulat
der praktischen Vernunft, ein nie zu realisirendes Ideal bliebe ohne
die Religion, die ihrerseits nur auf dem Boden des staatlichen
Gcmeinlebens ihr höchstes Ziel, die Versöhnung Aller durch Alle
in Gott, erreichen kann. Darum schliesst sich an die Philosophie
des objectiven Geistes oder die Philosophie der Weltgeschichte die
Wissenschaft der Religion, als letzte und höchste Wissenschaft des
praktischen Geistes , an, sofern es sich hier um diejen^e Sphäre
des praktischen Geistes handelt, in welcher die Entzweiung des
Ich, an deren Aufhebung der objective Prozess der Weltgeschiditet
ewig arbeitet, wirklich aufgehoben und die absolute Versöhnung,
der Friede in Gott, als dem absolut Anderen und Höheren, in
welchem sich das Ich mitsammt dem ganzen sittlichen Universum
findet und weiss, ewig realisirt ist. Alle tieferen philosophischen
Systeme der letzten Vergangenheit haben desshalb mit Recht aus
4er Ethik, in jenem angedeuteten antiken Sinne des Wortes, die
Religionsphilosophie hervorgehen lassen. Zugleich bildet im wis-
senschaftlich-encyclopädischen Organismus der praktischen Philo-
sophie die Idee der Religionsphilosophie den nothwendigen Schluss,
die concrete ErftUlung und AiHrmation der ganzen Philosophie,
die letzte, mit allen übrigen Genien der philosophischen Disciplinen
bereicherte Gestalt des Systems der Wissenschaft. Und so ist,
was die Theologie der Philosoplue gegenüber jeder Zeit und mit
Recht gefordert hat, dass die Theologie die letzte [und höchste
> Wissenschaft sei, hier durch die innere Nothwendigkeit der Sache
factisch bewährt. Die Idee der Religionsphilosophie tritt hiermit
als das Resultat der übrigen Theile der Philosophie hervor, nicht
aber — wie es bei Hegel der Fall ist — der Gottesbegriff, die
Idee des Absoluten selbst, die vielmehr erst als das Resultat der
wissenschaftlichen Entwicklung der Religionsphilosophie sich erweist,
keineswegs aber dieser selbst vorausgesetzt und ihrer ganzen
wissenschaftlichen Entwicklung zum Grunde gelegt bleibt.
Indem die Idee der Religionswissenschaft als eine bestunmte
Besonderung der philosophischen Idee überhaupt erkannt u^d der-
speculativen ReligioMwisseDschafl. 45
selben im encydopädisohen Totalorgantsmas der philosophischen
Idee diese ihre bestimmte Stelle begründet wird, macht sich zur
vollständigen, concreten Passung ihres Begriffs noch das Moment
der Einzelheit geltend. Als ein Theil der Philosophie ist die
philosophische Religionswissenschaft selbst wieder ein selbstständiges
Ganzes, ein in sich seUist zu concreter Einheit sich zusammen«*
schliessender Kreis von einzelnen Disciplinen^ und zur Definition
der speculativen Religionswissenschaft gehört mithin auch der Be-
griff der in die Selbstentfaltung der religiösen Idee nothwendig
mit eingeschlossenen Wissenschaften, ihres Zusammenhangs und
ihrer gegenseitigen Beziehung zu einander und zu der religiösen
Idee selbst als ihrer Einheit. Der vollständige, lebendig erf&Ute,
reale Begriff der speculativen Religionswissenschaft ist mithin der,
dass sie die Erkenntniss und Darstellung der religiösen Idee im
einheitlichen Organismus ihrer einzelnen Momente sei; die wissen-
schaftliche Form, welche sich die Religionsphilosophie selbst gibt,
ist der innere, durch ihre Idee selbst gesetzte, einheitliche Zu-
sammenhang ihrer Theile, die nicht empirisch neben einander ag-
gregirl werden, sondern wesentlich System sind und einen oiga-
nischen Kreis bilden.
Fassen wir nun die Momente der bisherigen Entwicklung zur
concret erfüllten Form geistiger Totalität zusammen, so stellt sich
die Idee der speculativen Religionswissenschaft als der
wissenschaftliche Ausdruck der auf die aligemeine philosophische
Idee bezogenen Einheit ihres Inhalts und ihrer Form heraus; die
Idee der Religionswissenschaft bestimmt sich dahin, dass sie die
denkende Erkenntniss des religiösen Ich im organischen
Prozesse seines unmittelbaren Ansichseins, seines dasei-
enden und ideellen Fürsichseins und seiner durch freie
That vermittelten praktischen Lebendigkeit ist, oder kür-
zer, die denkende Erkenntniss des religiösen Ich im dia-
l>ektischen Prozesseseiner freien Selbstverwirklichung.
Gehen wir nunmehr auf die Gliederung dieser Idee in die
besonderen Elemente ihres encyclopädischen Organismus über, so
ergeben sich die Eintheilungsgründe aus der Erkenntniss der
objectiven Methode der Wissenschaft überhaupt. Kommt es aber
bei der Selbstverwirklichung einer Wissenschaft durch die Ver-
mittlung des denkenden Subjects darauf an, ihren besonderen und
j^ß Die Idee der
^iBzeliiw iQball xur piHiara Einbmt orgamsdb sieh entfattr^n 29
lassen und die aligemeifie Einheit der Jdee im Zusammenhaof ihrer
h^$onderen und eiitzetoe» Momente in der Fprm der Wlssenichaft
abhildlich auszuprägen , so kann der Gang der M^odß u^r m
potbwendiger, durch die Sache oder den Inhalt selbst bestünmter,
in dem eiaheitUch^n YerhäUnis$ der Idee und ihrer Momente mlhflt
angedeuteter sein. Und die$e objeetiv-geuetisehe oder etgentU^
Sfieculalive Methode ergibt mit für das wissenscbaftUcbe Subyaßt
durch Versenlcuiig iu die Substanz der Wissensdiafl, deren leb^ia*'
voller Inhalt zum Bewusstsein erhoben, durch die denkende Ver-*
nunft frei reproducirt werden soU. Das G^et^ alles natürlichen
und geistigen JLebens ist aber diess» m mh organische Bewegung
odi^ Entwicklung zu sein; Dialektik ist die Form aller tebendigkeili
und die Stufen dieser iimnanenten Vermittlung oder des Entwiek-*
lUDgsgesetzes sind überall dieselben. Den Ausgangspunkt bildet
die Stufe des Ansichseins, die concrete MiCte die Stufe des
wirklichen Daseins als eines durch den Prosess des Werdens
yermittelten, welche wiederum m eioem höheren Ajisichsein, einer
vermittelten Unmittelbarkeit umschlagt, nämlich zur Stufe der
aufgehobenen Idealität, welche als die Spitze des Prozesses
das zur Peripherie sich erweiternde Centrum oder die individuelle
Lebendigkeit der Idee darstellt. Als speculative Wissenschaft hat
die B^ligionsphilosophie zu ihrem Etntheilungsprinzip nicht die
formellen Momente des Begriffs, als Allgemeinheit, Besonderheit
und Einzelh^» zu wählen, so dass ihre drei Haupt- oder all-*
gemeinen Theile diesen Momenten entsprächen, senden sie gliedert
sich nach den Entwicklungsmomenten ihres Gegenstandes, der Idee
der Religion selbst, also wesentlich genetisdi, so dass dem An-
sichsein oder prüexistentiellen Werden der Idee der erste Thefl,
dam Fürsichsein und wirklicheji Dasein der Idee, als solcher, der
zweite Theil und endliii^b ihrem Amindrursichsein oder dem Prozess
ihres Siebaufhebens zur idealen Lebendigkeit di»r dritte Theil entspricht.
Es handelt sich bei der Methode vor Allem dämm, einen
bestiuunten wissenschaftlichen Anfang zu gewinnen, webher als
ein soleher nicht ausserhalb, soiMlerB innerhalb des wissenschsrft-
liishen Orgimismus steht. Dieser ergibt sieh im gegenwärtigen
FaUe ctarch eine deppelte Beflexion, einerseits auf die Natur des
GefeBstMides selbst, andrerseits auf die der Rdigionsphilosophie
ipeculativen Relifioniwifsensdiaft. 47
in der philosophisdien EneyctopiUlie unmiUelter ToriMisgehendf
Pi8ci[diii. Beide Wege laufen in Einem Punkte zusammen, welcher
ab der wirkliche Anfanji^ der Wissenschaft festgehalten werden
«»nmss, freilich in derselben als das Aennste und Pttrftigste, dem
Inhalte nach, sich erweist. Der Gegenstand als gegebner, die
Idee der Re%ion als daseiende, zeq^ sich nümlich sdbst wieder
als ein Gesetztes und Vermitteltes, da das Resultat eines Proaesses;
nicht mit der Idee als gegebner und schlechthin daseiender wird
abo anzufangen sein, sondern der wahrhafte Anfang wird der
transcendente Vermittlungsgang der Idee vor ihrem wirklichen
historischen Anfange, der Prozess ihres ZusichselbstfcommenwoUena
sein, welcher sich in der Dialektik der Momente des Seins, des
Wesens und der Ersdieinung darstellt, ab deren Resultat dann
erst die Idee als zu sich selbst gekommen wirklich in's Dasein
tritt. Darum bildet den Inhalt des ersten Theib die Idee der
Religion in diesem ihrem genetischen Entwicfclüngsproaess, ab der
Stufe ihres Ansichseins; dadurch wird der Inhalt des zweiten Theib
Ustorisch erzeugt, welcher seinerseits dann die organische Selbst«
varmittelung des substandiellen Inhalts der Idee darzustelten hat.
Die Idee hat aber ebenso auch eine Vcarmittlung ihrer selbst ab
daseiender mit der Form ihres Seins in der Zukunft, die im Kreb
di^ gegenwärtigen individaellen Lebens den realen Boden ihrer
Verwirklichung bat. Auch dieses unmittelbar praktische Moment»
das zukunftige Dasefai der Idee, welches in jedem folgenden
Augenblicke zum gegenwartigen umschlägt, bildet einen integriren*
den Theil der wissenschaftUchen Erkenntniss der Idee, den Inhalt
des dritten Theils.
Ebenderselbe Anfang und methodische Fortgang eigibt sieh
auch durch eine Reflexion auf die der Religionsphilosophie un^
mittelbar vorausgehende philosophische Disciplin. Da nämlich die
Religionsphilosophie an die Philosophie der Weltgeschichte sich
imschUesst, so muss in dem Resultat der letztern, in ihrem End«*
begriffe an sich schon die folgende in ihrem Ausgangspunkte ge*
setzt sein, so dass dieser nur herauszustellen bt, um den Anfang
für die Religionsphilosophie 'zu haben. Als das Ziel des ethischen
Orgamsmus der Weltgeschidte stellt sich aber das Postulat hin,
die Versöhnung des in der Geschichte der Menschheit sich mani-«-
festirenden Kampfes und Zwiespaltes, ab eine in einem Ambrn und
48
Di» Id«e der
Höheren und diirdi ebradasselbe ersi zu Stände kommende, m
realisiren. Diese Versöhnung, das immanente Ziel der Weltgeschichte^
worauf von Anfang ihre Bewegung ausging, ist die Religion, die
sich somit als das Resultat und Postulat des objectiven Geistes auch -
zugleich als die immanente treibende Kraft der Weltgeschichte^
als^ ihr eigner, ewig mit Nothwendig^eit sich ausföhrender Zweck
erweist, so dass also alle Völker und Individuen, weil sie der
Menschheit angehören und an ihrem Zwecke Theil haben, auch
Religion haben. Die Religionsphilosophie hat hiernach vor Allem
die Aufgabe, aus dem allgemeinen Wesen des Menschen und der
(ewigen Bestimmung der Menschheit den Standpunkt der Religion
in seiner Noth wendigkeit abzuleiten, und diese anthropologische
Deduction wäre der Anfang unserer Wissenschaft. Indem die
Religion betrachtet wird, stehen wir von vorn herein auf mensch-
lichem Boden; aus dem Begriffe der Menschheit leitet die Religions-
philosophie unmittelbar ihren Standpunkt her. Sofern sich nun die
Religion als eine bestimmte ßesonderung der allgemeinen Idee
des Ich oder der Menschheit darstellt, so wird die Idee der Menschheit
in ihrer religiösen Bestimmtheit oder die Idee des religiösen Ich
zuerst in ihrem Ansichsein, d. h. in ihrer noch nicht zur daseien-
den Idee herausgebornen , also vorchristlichen Entwicklung — denn
Christus ist der Mittelpunkt der Weltgeschichte — oder der Mensch
als Adam, die Weissagung auf die künftige Verwirklichung der
Idee^ den Inhalt des ersten Theils ausmachen. Dann wird die Idee
der religiösbestimmten Menschheit in ihrem Dasein, d. h. die Ent^
Wicklung der in die Wirklichkeit herausgetretenen Idee der Mensch-
heit, der andere Adam oder der erschienene Gottmensch, als
welcher die Idee der Menschheit und der Religion, als Einheit
Gottes mit der Menschheit und der Menschheit in Gott, in sich gegen-
wäriig und aufgegangen wusste und ^iese Idee auch in der übrigen
Menschheit zu verwirklichen begann , den Inhalt des zweiten Theils
bilden, in welchem die Wissenschaft innerhalb der Sphäre der
ReligionsvoHendung steht. Endlich wird die synthetische Einheit
des Ansichseins und des Daseins der Idee, der Prozess ihrer Aufhebung
zur individuell -lebendigen Idealität, ihre Vermittlung zur Reli-r
giosität, oder der allgegenwärtige Gottmensch, die Gottmenschheit
als das Reich der Gottessöhne in seiner actuellen Gegenwart, den
Inhalt des dritten Theils der Wissenschaft bilden.
speeulatiTen R«Kgionswineiischafl. 49
Auf diesem Wegfe erhalten wir drei Hauptthdile der
Religionsphilosophie, deren erster als isagogrisch* propädeutischer
Theil, der andre als die concrete Mitte und der dritte als die
Peripherie der ganzen Wissenschaft sich darstellen, und welche
sich näherhin in folgender Weise bezeichnen lassen: A. als die
Phänomenologie der religiösen Idee, B. als die Ideo-
logie des religiösen Geistes und C. als die Pragmatologie
der religiösen Idee.
A. Den ersten Theil, als die religionsphilosophische Grund-
wissenschaft oder Propädeutik, bildet die PhftnomenoIoKle der
relffl^iSsen Idee, deren Inhalt der Mensch als Adam ist. Die
objective Voraussetzung und den allgemeinen Boden fUr diese
religionsphilosophische Grundwissenschaft bildet der Begriff und die
Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Die Menschheit nach ihrer
religiösen Bestimmtheit, die Menschheit, sofern sie Religion hat,
also der religiöse Standpunkt der Menschheit überhaupt und die
Dialektik dieses Standpunkts bildet den Inhalt der Religionsphilo-
sophie auf dem Standpunkt ihres Anfangs, den Gegenstand der
religionsphilosophischen Propädeutik. Hier ist der religiöse Stand-
punkt als solcher bestimmt unterschieden von der Religion in ihrer
Vollendung oder auf der Stufe der Idee, mit deren daseiender
Wirklichkeit jener propädeutisch- phänomenologische Standpunkt
sein Ende, weil seine Erfüllung erreicht hat. Dem Umfange nach
gehört also in den Bereich der Phänomenologie der religiösen Idee
nur die Betrachtung der Religion auf dem Standpunkt ihres An-
fangs oder Ansichseins, ihres Zusichselbstkommenwollens; es ist
die wissenschaftliche Vorstufe für die Betrachtung der Religion
als absoluter oder der religiösen Idee als solcher in ihrer eigentlich
substantiellen Selbstvermittlung. Der allgemeine Inhalt dieser phä-
nomenologischen Grundwissenschaft ist nur der religiöse Geist der
Menschheit, sofern er als die Weissagung auf die wahrhafte Ver-
wirklichung der religiösen Idee in der Menschheit erscheint, die
Menschheit als Adam, als der erst zu sich selbst, d. h. zur Er-
fassung seiner selbst in seiner Wahrheit, zur Verwirklichung der
Menschheitsidee hinstrebende Mensch. Die religionsphilosophische
Phänomenologie ist, ihrem wissenschaftlichen Begriffe nach, die
Erkenntniss der religiösen Idee nach der Seite ihrer
iabrb. fQr spccolat. Pbilos. T. 1. - 4
^ Di« Id0C der
Dolliwendigen kislofiscben Selbstvoranssclxuiigfea oder
im Prazesse ibres Zusichselbstkommens.
Die objeeijve Seile dieser Deduction der religiöseo Idee isl
» die Ableitung der Beligion an sieh oder ihres aUgcmeine» Wesens
»IS ihrem objeeUven Lebensboden, ihrer mihropologiseben Worcel,
dem Wesen des Ich; die subjeciive Seite der Dednclion der
religi&sen Idee ist die auf die Seile des religiösen Subjects fallende
be^immle Weise ihres Fortgangs, die sich verändermde Form des
religiösen Bewusstseins, des religiösen Thuns und der ganzen
äussern Erscheinung der religiösen Persönlichkeit, und die Ver--
einigung beider Seiten endlich, die subjectiv-objective Seite
der Deduction der religiösen Idee, ist die bestimmte Erscheinung
und concrete Entfaltung des religiösen Geistes in der Geschichte,
die historischen Besonderungen des allgemeinen Wesens der Re-
ligion im weltgeschichtlichen Entwicklungsgang zu ihrer absoluten
Vollendung als Idee.
Die Religion an sich ist dieselbe in ihrem einfachen Wesen
und noch unbestimmten Sein im Menschen; dieses unmittelbare, un-
geschichtliche Sein der Religion entäussert sich zum Werden,
strebt für sich zu sein, und in diesem Streben tritt vermittelnd
die Thätigkeit des Subjects ein, welches in seinem Bewusstwerden
über seinen religiösen Inhalt einen Stufengang durchmacht, der
das im Subjecte sich vollziehende Werden des Wesens durch seine
Reflexion in ihm selbst und damit den abstract*su])jectiven, ab<-
stract- innerlichen Prozess des Werdens der Idee darstellt. Ob-
gleich das allgemeine Wesen der Religion der Grund ihrer be-
stimmten Existenz in der Entwicklung des Geistes ist, tritt doch
in der Geschichte $ sofern diese als Einheit des Wesens und der
Erscheinung sich darstellt, niemals die reine, ungetrübte Offen-
barung des Wesens hervor, sondern dasselbe stets nur in mangel-
hafter, mit dem Schein, Unwesentlichen und Accidentellen vielfach,
behafteter Gestalt. In dieser Erscheinung ist aber nichts desto
weniger die Wirklichkeit der Religion gegenwärtig, ihr Wesen
als in der Erscheinung sich reflektirendes und in dieser als die
auseinandergelegte Zerstreuung der Momente des Wesens. Die
einzebien concreten Gestalten, in welchen das sich entwickelnde
oder erscheinende Wesen der Religion unter gegebnen physischen
und ethnogri^hischen Bedingungen zu bestimmten Individualitäten
•pecttlatiTeB RdlgieiwwiMeBsehafk. 5f
sich damdK, simi die wirkHÄen B^UgimaBwiiieii, ab StnfeBrormeii
und EntwicAlungsknoten des zur yoUendeten und freien Einheit dee
Wesens und der Erscheinung, iwk Idee, sich himniftreibenden
rdigidsen Geistes der Menschheit. Die objectiv^orgunische Re»
produtlion dieses ethnographisch -geschichtlichen Entwicklungs- und
VoBeiidngsg«Bges der Religion ist nun Sache der philosophischen
IMigionsgeschtchte. Aus dieser dreifachen Deduction, der anthro-
poiegischen, phänomenologisch -mythologischen und historisch -eth-^
ttographischen Entwicklung resultirt die Religion erst in ihrer
Wahrheit, als absolute Religion, als das durch die Vermittlung der
Erscheinong und ihrer historischeil Dialektik zur Form der IdealitSI
erhobene Wesen, als die wahrhafte Identität ihres Wesens und
ita-er Existent.
Rosenkranz hat in seiner Bncyclopädie, zweiter Auflage,
iie Nothwendigkdt und die Bedeutung einer Phänomenologie als
isagogischer Disciplin erkannt, indem er ihr die Aufgabe zu-
wies, den Begriff der Religion als der absoluten abzuleiten.
Aber die HegeFsche Identifieirung des Religions- und Gottesbegriift
ist Schuld, dass die von ihm so bezeichnete Disciplin, anstatt eine
Pbünomenologie des religiösen Geistes zu sein, vielmehr zu einer
Phänomenologie des göttlichen Geistes, zur theogonischen Phäno-
menologie gewordmi ist, obgleich er S. 83 selbst sagt, dass der
Begriff des Absoluten den Begriff einer Phänomenologie von sich
ansschliesse. Auf dieser Escamotirung des Gottesbegriffs an die
Stelle des ReKgionsbegriff!3 und seiner historischen Dialektik beruht
der Grundfehler de$ ganzen Hegerschen Standpunktes in der Auf-
fassung der Religion.
Nach den angegebnen Prinzipien aber ergibt sich ans unserm
Begriffe der phänomenologischen Grundwissenschaft -mit innerer Noth-
wendigkeit und ungezwungen ihre Eintheilung. ^Die Religions-
philosophie, als Phänomenologie d^ religiösen Idee, hat nämlich
zu betrachten:
L Den religiösen Geist in seiner substantiellen Unmittelbarkeit
und thatsächlichen Selbstvoraussetzung, nämlich die Religion in
ilffem allgemeinen Wesen, ihrem Ursprung und ihrer ewigen
Grundlage im Wesen des menschlichen Geistes, noch ohne Rück-
sicht auf seine besondere, ethnographische und weltgeschichtliche
Bedtimmlhett, gewittcrmassen das Wesen der Religion als Ur-
4*
52 ^*^ i^® ^^^
religion — in der religiöi^en Anthropologie, welche sich ab
erstes Glied der religionsphilosophischen Grundwissenschaft eng an
die Philosophie der Weltgeschichte anschliesst und das Wesen des
Menschen seiner praktischai Seite nach fUr den Zweck zu be-
trachten hat, um die Immanenz des religiösen Standpunkts im
menschlichen Geiste aufzuzeigen und darzustellen, wie im Wesen
des Menschen das ewige Wesen der Religion begründet ist, wie
im tiefsten Muttefschoosse der Menschheit ihre heiligen Mysterien
sich weben. Daraus ergibt sich nicht aUein die Nothwendigkeit
der religiösen Anthropologie überhaupt, sondern auch insbesondere
die Nothwendigkeit ihrer bestimmten Stellung am Anfang der
religionsphilosophischen Encydopädie. Diesen Standpunkt, der nicht
auf logischem oder metaphysischem Boden, sondern lediglich im
anthropologischen Gebiete das Wesen der Religion begreift, kennt
die Hegel'sche Religionsphilosophie freilich nicht, da sie sich viel-
mehr auf den absoluten Standpunkt stellt und, indem sie die Re-
ligion ala That des Absoluten selbst, als theogoniscben Prozess
fasst, dieselbe als ein immanentes Verhältniss des Menschen zu
Gott schlechthin aufhebt und annihilirt. Gegen diesen theologisch-
metaphysischen Standpunkt der HegeFschen Religionsphilosophie
hat Feuer b ach das sehr erhebliche Verdienst, die Hohlheit sol-
cher Transcendenzen aufgezeigt und die Religion auf den Menschoi
zuruckgeföhrt, diesen als Gegenstand der Wissenschaft der Religion
festgehalten zu haben. Der positive Gehalt, den Feuerbach's „Wesen
des Christenthums^ in seinem zunächst freilich negativen Resultate
birgt, ist eben die Immanenz der Religion im Wesen dps Menschen.
Aber mit dem bloss abstracten Hinstellen und Behaupten dieses
Satzes, dass die Religion mit dem Wesen des Menschen identisch
sei, ist so wenig gethan, dass vielmehr erst jetzt, nachdem diese
Grundlage gewonnen, der positive Aufbau der Religionswissenschaft
beginnnen kann und muss, wozu Feuerbach bk dahin nicht fort-
geschritten ist und wohl auch, bei seiner wesentlich kritischen und
weniger constitutiv- aufbauenden Natur, nicht gelangen wird. Wird
nun der wissenschaftliche Begriff der religiösen Anthropologie,
als dieser besonderen Disciplin im systematischen Organismus der
theologischen Encydopddie, so bestimmt, dass sie die wissenschaft-
liche Deduction des Wesens und GrundbegriiTs der Religion aus
der genetisch- immanenten Dialektik ihrer substantiell -anthropo-
fpoculativen ReligioBiwiiienscbaft. 5S
logisok« Chrundlage ist; so wird der melhodische Gang, in welchem
sich der Inhalt auseinander zu legen hat, der sein, dass zuerst
das autonome Wesen des Menschen als substantielle Grund-
lage der Religion in's Auge gefasst und hier aus der Analyse
des menschlichen Wesens der Grund, das transscendente Prinzip
und die Elemente der Religion bestimmt werden. Hierauf wird
auf dieser Basis die Bestimmtheit des religiösen GrundgefUhls in
seiner Reinheit, als die bleibende Grundform der Religion
betrachtet, wobei wiederum die einfache Bestimmtheit dieser reli-*
gftsen Grundfcmn, die immanente Dialektik derselben, als innere
Selbstvermittlung der Einheit des Menschen in Gott, und endlich
die reale Dialektik derselben innerhalb ihrer daseienden Wirklichkeit
die besonderen Seiten bilden. Aus diesen* Voraussetzungen ergibt
sich encDich drittens als das synthetische Resultat der religiösen
Anthropologie der eigentliche Grundbegriff der Religion,
iier logische Ausdruck flir das begriffene allgemeine Wesen der
Religion, und zwar nach der objectiven Seite als Begriff der
Offenbarung, nach der subjectiven Seite als Begriff der Re«
ligion selbst und nach der subjectiv- objectiven Seite als der
Begriff des religiösen Geistes oder des in der Religion sich ent-
wickelnden Geistes der Menschheit. Mit diesem Begriffe, womit
die religiöse Anthropologie schliesst, wird zugleich der Uebergang
in öie folgende, zweite Disciplin des ersten, isagogisch-phänome-
ludogischen Theils der Religionsphilosophie gemacht, nämlich zur
Phänomenologie des religiösen Geistes im engern Sinne, oder
zur Phänomenologie des mythologischen Geistes.
Die phänomenologische Grundwissenschaft der Religionsphilo-
sopbie hat nämlich ferner zu betrachten:
- II. Die Entwicklungsformen des religiösen Geistes der Mensch-*
heit, sofern in denselben das Wesen der Religion zur Erscheinung
kommt — in der Phänomenologie des mythologischen
Geistes. «In der historischen Erscneinung und fortschreitenden
Entwicklung des religiösen Geistes die relative, stufenmässige
Wahrheit der Formen aufzuzeigen, sowohl in ihrer subjectiv^theo-
rethischen Bestimmtheit — als religiöses, mythologisches Bewusst-
sein ^, als auch nach ihrer objectiv- realen Seite — als Cultus*
fcMrmen — und endlich in ihrer subjectiv -objectiven oder concreten
Einzelbestimmtheit — als Entwicklung der religiösen ^ Persönlich*
54
Die Idee der
keil -^j die^s isl die allgemeine Aufgabe dieser IMsdpIfai, da
deren besondere Theile sich hiernach ergeben: 1. die Phänome-*
nologie des mythologischen Bewusstseins in seiner auf-
steigenden Entwicklung, nümlich a) des symbolischen Bewusstseins
(Idolik, Symbolik als solche, Symbolik der Menschengestalt}, b} des
mythischen Bewusstseins (Mythus, Sage und Wunder, Mystik} und
c} des sich auflösenden mythologischen Geistes (Skepsis, Alle-
gorie, Weissagung}; 2. die Phänomenologie der Cultus-
formen, als der realen Ausdrucksweisen des religiösen Geistes,
und zwar a} phänomenologische Entwicklung des Gebets, b} pffii-
nomenologische Geschichte des Opfers und c} Phänomenologie der
Festfeier, wobei auch die geschichtlichen Hauptformen der religiösen
Kunst ihre Stelle finden; und endlich 3} die Phänomenologie
der religiösen Persönlichkeit, welche sich wiederum beson-
dert zur Phänomenologie a} des religiösen Genius oder des Priester-
und Prophetenthums, b} der heiligen Schriflen und Religionsur-
kunden, sofern dieselben als die Werke der religiösen Genien und
zugleich als die historischen Quellen und Grundlagen der bestimmten
Religionen erscheinen und um desswillen die Eigenschaft der The-
•opneustie und Inspiration für sich in Anspruch nehmen (biblisch-
kanonische Phänomenologie} und c} des substantiellen religiösen
Volksgeistes (ethnographische Phänomenologie}, wobei dasHeroen-
thum, die göttlichen Incarnationen und die Theophanieen und die
Unsterblichkeitsidee als die einzelnen Momente sich darstellen. In-
dem sich auf diese Weise der Inhalt der Phänomenologie des
mythologischen Geistes auseinanderlegt, macht sich mit dem letzten
BegriiTe dieser Wissenschaft, dem Begriffe des religiösen Volks-
geistes, der Uebergang in die dritte phänomenologisch -propädeu-
tische Disciplin, in welcher eben dieser ethnographische Begriff
des religiösen Geistes in seinen historischen Offenbaningsweisen
festgehalten und entwickelt wird.
III. Waren diese Formen des mythologischen Geistes nur der
abstract- allgemeine Prozess der Entwicklung des mythologischen
Geistes, so bildet nun der bestimmte, concreto Stufengang des
weltgeschichtlichen Werdens der absoluten Religion, die ethno-
graphische Geschichte der religiösen Entwicklung der Menschheit
bis zum wirklichen Aufgang der Idee der Religion in der Erfüllung
der Zeiten, den Inhalt der philosophischen Religionsge-
fpeculaUven RdifräiMwiMeiuchaft. ^
•chiel^le) weiche die Au%abe hat, in der objectivea Brscheinuiig
fter 2tt voUmthümlicfaer Totalitäl besiiramteii Religioneti, wie sie in
der Geiduchte aufgetreten sind, die specifische Individualität, den
indiTidiiellen Genius aufzuzeigen und die welthistorischen Beligionett
m einer organischen Reihe geistig zu reproduciren. Dass <Ue
philosophische Religionsgeschichte im f ncydopädischen Organismus
d^ theologisdien Wissenschi^n eine nothwendige Stelle einnimmt,
gdit sdion aus dem oben dargelegte Begriffe derselben hervor;
ein deidEendes B^;reifen der christlichen, als der absoluten Re-
ligion, also eine Theologie im höchsten Sinne des Wortes, als
Wissenschaft der christlichen Religion, ist ohadün gar nicht mdg*
üdi, ohne den ganzen weltgeschichtlichen Erziehungsgang der
Menschheit in sdnen bestimmten Stufen begriffen zu haben; und wird,
wie bisher geschehen ist, die A« T/liche Religion in die Theologie
hereingezogen, so kann diese ihrer Efgentfaümlichkeit und ihrem
Begriffe nach, als eine bestimmte, nothwendige Erziehungsstufe
der Menschheit, nur dadurch wissensdiaftlich begriffen werden,
dass sie in ihrem Zusammenhange mit der ganzen religiösen Ent-*
Wicklung der Menschheit, in ihrem inneren Verhältniss zu den
übr%en vorchristlichen Religionen betrachtet wird. Nach allem
diesem kann der von Seiten der Theologen gegen eine Aufnahme
der ty^rigen vorchristlichen Religionen in die theologische Wissen-
schaft erhobne Widerspruch um so weniger ein ertiebliches Ge-
wicht in der Wagschale abgeben , als die Motive zu solchem hart-
nädiigen Verschliessen gegen den Fortschritt in der Wissenschaft
nicht mehr verborgen sind. An die Stelle derjenigen Disciplinen,
welche in der bisherigen theolog'ischen Encyclopädie das A. T. zum
Gegenstande hatten, tritt nunmehr die philosophische Religions-
geschicfate; der Begriff der biblischen Theologie des A. T.
erweitert sich zum Begriff^ einer allgemeinen philosophischen
Geschichte und Darstellung der vorchristlichen Rd^ionen über-
haupt, in welcher die Religion des A. T. ihre bestimmte organische
Stelle erhält und unter diesem höheren wisaeoacbaftlichen Gesichts-
punkt allein in ihrem eigenthtimlichen Wesen wahrhaft begriffen
werden kann. Was also bisher der A. T.'lichen Theologie allein
zugestanden worden, nach ihren verschiedenen Hoaienten als s. g
EiBleituiig in's A. T. oder A. T/ltche Ltterärgeschichte CKalionik),
ala A, T/UcJie Exegetik und als A. T/lidie Dogmatik in der theo^
50 I>ie Idee der
logtechen Wissenschaft vertreten zu sein, diess haben alle übrigen
Religionsformen in ihrer Art ebenfalls für sieh in Anspruch zvl
nehmen; jede bestimmte Religion hat in diesem Sinne einen bib-
lisch-theologischen Theil, nur dass eine philosophische Religions-*
geschichte als solche die biblische Literärgeschichte und Exegese
nur zu ihren, ausserhalb ihrem eignen Bereiche liegenden, Voraus-
setzungen hat und auf die Resultate derselben sich stiUzt, während
als integrirendes Moment dieser Wissenschaft nur die biblische
Dogmatik, in jener auf alle Religionen ausgedehnten Bedeutung
des Wortes, gelten kann. Zwischen A. T.'licher Literärgeschichte
und der Literärgeschichte der indischen, persischen und anderer
Religionsurkunden findet hinsichtlich der Dignitöt und Wichtigkeit
kein wirklicher Unterschied statt, und das aus der Vergangenheit
überkommene theologische Vorurtheil, welches auch in histori-
scher Rücksicht der heiligen Literatur der luden einen so eminenten
Vorzug beilegt, ist in den Augen Unbefangener längst als eine
antiquarische Voraussetzung erkannt und aus der Wissenschaft als
solcher beseitigt. Die kritische Geschichte der Entstehung und
inneren Entwicklung einer bestimmten Religion nach den vorhan-
denen Quellen gehört aber in die allgemeine kritische Geschichts-
forschung überhaupt und die allgemeine philosophische Religions-
geschichte hat sich nur auf die Resultate der kritisch -gelehrten
Forschungen zu beziehen. Ebenso gibt es keine besondere Kritik,
Hermeneutik und Exegese der biblischen Schriften des A. T., wel-
che von der Exegetik der heiligen Litieratur anderer weltgeschicht-
lich bedeutenden Völker verschieden wäre. Beide sind auf eben-
dieselben Grundsätze gebaut, beide von gleicher Wichtigkeit für
die allgemeine Religionsgeschichte, obgleich die religionsgeschicht-
liche Philologie und Linguistik als solche kein Glied im encyclo-
pädischen Systeme der Religionswissenschaft bilden, sondern eben-
falls nur als gelehrte Hülfsdisciplinen in die Alterthumswissenschaft
gehören und der philosophischen Religionsgeschichte zur Basis und
Voraussetzung dienen, als Mittel für den höheren Zweck der Erui-
rung und Darstellung des Lehrgehaltes der heiligen Schriften selbst.
Diess wäre im Allgemeinen über die philosophische Religionsge-
, schichte zu bemerken, um ihr die bestimmte Stelle im encydo-
pädischen Organismus der speculativen Religionswissenschaft zu
vindidren. Dass ihr auch Rosenkranz keine besondere St^e
speculaliven Religionswistenschafft. 57
kl seiner Encyclopädie zugewiesen und sie nnr bei Gelegenheit -
der speeolativen Dogmatik als eine mil letzlerer znsammenhängende
Wissenschaft kurz berührt hat, ist ein Beweis, dass die Gestall,
welche die theologische Encyclopädie bei ihm erhalten hat, keines-
wegs ein aus der Einheit der Idee frei herausgebomer wissen-
schaftlicher Organismas ist. Womit nun aber die philosophische
Religignsgeschichte schliesst, das Endresultat der vorchristlichen
Religionsentwicklung, die Reife der Welt fllr den Aufgang der
christlichen Religion, als der in's Dasein eintretenden Idee der
Religion, diess ist der concreto Ausgangspunkt Für die nächst-
folgende religionsphilosophische Disciplin, die philosophische Kir-
chengeschichte, mit welcher das Gentralgebiet der speculaliven
ReUgionswissenschaft, die Wissenschaft der absoluten Religion oder
die religionsphilosophische Ideologie betreten wird.
B. In den drei bisher durchgenommenen propädeutischen
oder phänomenologischen Disciplinen der Religionsphilosophie sind
aUe wesentlichen Voraussetzungen der im Christenthum aufge-
gangenen Idee der Religion zum Gegenstand der Betrachtung ge-
nommen, und die Wissenschaft schreitet so zu ihrem zweiten
Haupttheile fort, zur Philosophie der absoluten Religion
oder zur Ideologie des reli|(itf«en Geistes» deren Inhalt der
andere Adam oder der erschienene Gottmensch bildet. Es wird dar-
unter diejenige Stufe der Religionswissenschaft verstanden, auf welcher
die Idee der Religion wirklich geworden, der religiöse Geist zu sich
selbst gekommen ist und als Idee , das ist als die Religion in ihrer
Wahrheit auftritt, so dass also unsere Ideologie im Ganzen dem
dritten Theile der HegeFschen Religionsphilosophie, der Wissen-
schaft von der absoluten Religion als dem realisirten Begriffe der
Religion oder der vollendeten Religion entspricht. Was den Sinn
angeht, in welchem das Wort Ideologie zur Bezeichnung dieses
zweiten Haupttheils hier gebraucht wird, so kann es um so weniger
scheinen, als ob demselben durch die Bedeutung einer Wissen-
schaft von der Idee der Religion Gewalt angethan würde,
da es ja ohnehin hier nicht das Erstemal ist, dass die Stellung
des speculaliven Gedankens auf einer bestimmten Entwicklungs-
stufe als eine ideologische bezeichnet wird. Hatte der erste,
phänomenologische Theil der Religionswissenschaft die religiöse
Idee in ihrem Ansidisein, in ihrer noch nicht zum wirklichen Da-»
5S »»• U^ ^r
Min hervorgetretenen Entwickiiii^ 4tas Werde« der Idee als «Eckert
Silin Gi^enstande, so bildet wm die daseiende Idee der Re-
ligion, die Objectivität der religiösen Idee das Interesse
dier denkenden Betrachtung im zweiten, ideologischen Theile, und
zwar so, da«s zunächst die in ihrer absoluten VoUendimg als Uee
auftretende Religion in ihrer daseienden Unmittelbarkeit oder ge-
gebenen Objectivität als die christUche begriffen, ausserdem die
christliche Idee in ihrem abstract- innerlichen Dasein oder noch
r^ ideellen Fürsichsein im wissenden Subject betrachtet wird,
wobei sich wiederum ihr Inhalt nach zwei Seiten auseinander!^,
indem zuerst das theoretische Prinzip des Christenthums in seinem
systematischen Zusammenhang begriffen, dann die praktische oder
ethische Seite des christlichen Prinzips erfasst und der Begriff
der rein innerlichen Welt des von der christlichen Idee durch-
drungenen Willens systematisch durdigeführt wird. Hiernach er-
geben sich fiir den ideologischen Theil der speculativen Religions-
wissenschaft drei besondre Disciplinen, nämlich:
IV. Die Philosophie der Kirchen- und Dogmenge-
schichte, als philosophische Geschichte des Christenthums in
seinem welthistorischen EntwicUungfi^ng. Sie hat das erste der
angegebenen Momente, die dyective oder historische Dialektik der
daseienden religiösen Idee oder des Christenthums zum Inhalte;
die ideologische Religioaswissenschaft ist hier begreifende Erkennt-
niss des historisch gegebnen Christenthums, welche sich in die
Betrachtung der Stiftung des Christenthums, als der absoluten Re-
ligion, an das Ende der alten Welt, an das Resultat der religions-
gesdiichtlichen Entwickkmg der vorchristlichen Menschheit an-
schliesst. In dieser religionsphilosophischeo Disciplin sind als auf-
gehobene Momente folgende frühere Disciplinen enthalten : 1} die
N. T.'liehe und kirchengeschichtliche Philologie, als die Wissen-
schaft der Quellen des Christenthums und seiner Entwicklungsge-
schichte, also die Einleitung in's N. T., die N. T.'liehe Kanonik,
die Patristik und die Symbolik; 3) die eigentliche Kirchengeschichte
als Verfassungs-, Dogmen- und Cultusg^chichie; 3) die kirchliche
Statistik, als die Wissenschaft des gegenwärtigen Zustoides der
christlichen Kirche. Dieselben Prinzipien , die früher bei der philo-
sophischen Religienageschichte in Bezug auf £e s. g. biblische
Theologie der vorchristlichen Religionen geltend gemadit wurden,
specttlativea Rdigioftswifteiudiafl. 59
werAen Uer auch avf die biMsdie Theologie des N. T. «lUgedeM
und diese ttber flire bisherige enge Schnoike hinausgeführt, zur
höheren und allgemeineren Bedeutung euer Wissenschaft der
historischen Qttellen des Christenthnras in seiner Stiftung und weit*
geschichtlichen Fortentwicklung erweitert, so dass nunmehr unter
diesen Quellen zum N. T. noch die Schriften der Kirchen^üter und
die symboiisdien Schriften der verschiedenen Jahrhunderte und
der Hauptpartheien der christlichen Kirche als gleichbereditigte
Potenzen und Glieder ßner Entwickfamgsreihe hinzutreten, der
Begriff der Bibel abo auch in dieser Beziehung aus seiner
bisherigen starren Form gddst und flüssig gemacht mrd. Die
Kbel des Christentfaums ist durch die christlichen Jahrhunderte
hindurch im Wadhsen begriffen, wie sich das Christenthum selbst
immer neu verklärt; das Wort Gottes und das absolute Evangelium
ist ewig neu und das stets sich veijüngende Zeugniss des sich von
Stufe zu Stufe verklärenden Geistes der ctaristlichen Menschheit.
Dass die bishar s. g. Einleitung in's N. T. eine antiqnirte Disdplin
sei, ist durch die neuesten kritischen Forschungen ausser Zweifel
gesetzt, und es sei hier unter Andern nur an die treffende Be*
merkung Schwegler's in seinem nachapostolischen Zeitalter
0. Theil, S. 11} erinnert? jJHejenigm Schriften, welche im N,
T/lichen Kanon zusammengestellt sind, sind geschichtliche Urkunden
der inneren Entwicklungen vom aposUAschen Zeitalter bis zur
Entstehung der kathoUsclien Kirche am ScUuss des zweiten Jahr*
hunderts, Urkunden und theil weise FdKtoren in der Bildungsge-
schichte des apostolischen und nachapostohsdien Zeitaltars in ihren
verschiedenen Stadien . • . Es ist überhaupt die Frage, ob die
Wissenschaft der Einleitung in's N. T. in der bisherigen Welse
der Bearbeitung wird fortbestehen können. Werden die N. T/Bchen
Schriften als Momente einer Entwicklungsgeschichte begriffen, so
muss sich jene Wissenschaft schon um der breiteren Grundlegung
willen, die sie dann erhält, in eine Entwicklungsgeschichte der
apostolischen und nadiapostoiischen Zeit verwanddn.*
Was nun die methodische Behandlung der philosophisdien
Geschichte des Christenthums betrifft, so ist vorerst das geschicht-
liche Auftreten der christlichen Idee oder die Stiftung des Chri-
stenthums zu betraditen; daran sddiesst sidi daim die Darstellung
der weltgeschicfalHchen ßitwickhuigsstufen der chriaUichen Idee in
gQ Die Mm der
ihren noihwendigfen geschichtlichen Gegensätzen, nttmlich die Ei^
wicklungsgescbichle des Urschristenthums, des KatholicisBiiis oad
des Protestantismus in ihren hauptsächlichen Stadien; und den Sohluss
bildet dann die Darstellung d^ ZukuiA des Christenthums, als der
prophetische Theil der Kirohengeschichte, in welchen aus der be--
griffenen Gegenwart des Christenthums (der Philosophie der kirch-
lichen Statistik), als aus den historischen Bedingungen und Vor««
aussetzungen der Zukunft des Christenthums, der Begriff der zur
freien Kirche des Geistes sich herausbildend«! Gesellschaft in all*
gemeinen Umrissen gezeichnet und das letzte Ziel des Christen-
thums, die vollendete Offenbarung Gottes in dem Gottesretche der
Menschheit als zu erstrebendes Ideal dem gegenwärtigen Bewussl-
sein hingestellt wird. Bei d^ speculativen Behandlung der ein-
zelnen weltgeschichtlichen Entwicklungsstufen des ChristenthuniS
wird die Methode wohl am Einfachsten den Gang nehmen, dass
immer zuerst die Idee einer jeden Stufe in ihrer allgemeinen Eigen-
thttmlichkeit bestimmt, darauf die innere Entwicklung des Prinzips
und seiner geschichtlichen Gegensätze folgt und zuletzt die aussäe
Erscheinung desselben in Verfassung, Cultus und Kunst, und Sitt-
lichkeit zum Gegenstand der Betrachtung genommen wird, in der
Weise, wie es der Verfasser im zweiten Theile seiner „Mythologie
und Offenbarung^ (1846} versucht hat. Die aus dem ganzen kir-
chengeschichtlichen Verlauf im statistisch -prophetischen Theile der
Wissenschaft resultirende und hier als Sollen, als Postulat der
Zukunft erscheinende höhere Einheit der christlichen Idee, nämlich
die Idee der in Gott autonomen Menschheit oder der Gottmens<^-
heit, dieser Begriff, womit die philosophische Kirchengeschichte
schliesst, bildd; wiederum den wissenschaftlichen Ausgangspunkt
für die folgende Disciplin, die speculative Dogmatik, als einer
über die confessionellen Besonderungen und Gegensätze erhabnen,
absoluten Glaubenslehre.
V. Die absolute Dogmatik hat aber die christliche Idee
nach ihrer theoretischen Seite, das dogmatische Prinzip des Chri-
stenthums, wie sich dasselbe im Elemente des reinen Wissens,
also in rein subjectiv-ideellar Wirklichkeit dialektisch entfaltet,
zum Gegenstande. Die absolute oder ideologische Dogmatik ist
reines System, welches alle historischen Elemente der Vorstellung
als Voraussetzungen hinter sich hat und im Elemente der reinen,
speculativen Religioiiiwusenicluift. ß|
immaneslen Diakklik den Inlialt der chruUicIieii Idee organisdi
auseinender legt. Auch sie steht von vorn herein auf anthropo»
logisdiem Boden, so dass vom menschlichen Verhältniss ausgegangen
und das autonome Wesen des Menschen ab bleibende Grundhge
da* ganzen wissenschaftlichen Entwicklung festgehalten wird. Die
Dogmatik, wie sie hier als ideologische Wissenschaft auftritt, Iflsst
sich ab Phibsophie des Gottmenschen, nach der theoretischen Seite,
wie die darauf folgende absolute Ethik ab Philosophie des Gott«
menschen, nach der praktbchen Seite seines Wesens, bezeicbnen.
Von diesem anthropologischen Standpunkt ans betrachtet kann also
nicht das theogonische Moment, wie es von Rosenkranz ge-
schieht, zum Eintheilungsprinzip der Dogmatik genommen werden,
so dass zuerst vom Wesen Gottes, dann von der Manifestation
Gottes ab Erscheinung (Schöpfung, Sündenfall, Erlösung) und
endlich von der absoluten Verwirklichung des göttlichen Gebtes in dar
Gemeinde gehandelt würde; sondern es bt das menschliche Selbst-
bewusstsein zu betrachten , wie es zunächst Gott ab seine absolute,
immanent -transscendente Voraussetzung hat, dann der Mensch in
seiner Entzweiung und Entfremdung von Gott und endlich die
absolute Versöhnung des Menschen in Gott. Der Begriff, womit
die Dogmatik scbliesst, die Versöhnung ab individuelle Seligkeil,
bt dann die Basb und der Ausgangspunkt der theologischen Ethik«
VI. Sofern nämlich das in der speculativen Dogmatik ent-
haltene ethbche Moment, die praktische Seite der christlichen Idee
oder die im Willen lebendig gewordene religiöse Idee zu ideeU-
fürsidiseiender Existenz im Elemente des reinen Wissens organisch
gestaltet und ab der systematische Begriff der rein innerlichen*
Welt des von der christlichen Idee durchdrungenen und bewegten
Willens dargestellt wird, kommt hierdurch die dritte ideologische
Dbciplitt der Religionswissenschaft, die absolute oder im engern
und prägnanten Sinne sogenannte theologische Ethik zu
Stande! welche zum dritten oder pragmatologischen Theile der
Religionswissenschaft dem Systeme der absoluten Praxis der reli-
giösen Idee, den passenden Uebergang bildet. Sie enthält das
System der religiösen Sittlichkeit und kann nur von geringem äus-
seren Umfange sein, da sie den Stoff der im System der Wissen-
schaften der praktbchen Philosophie ab erster Theil auftretenden
reinen Ethik von sich aussdiliesst und nur diejenige höchste
g4| Die Idee der
Sphäre" der Sittlicbkeil darstellt ^ welebe sidi ab die darch dte
Ifenschheit darzusteDende höchste Offenbamns^ Gotted im göfilicheil
Reiche erweist. In diesem Stfine der absoluten Verwirklichung
der Offenbarung Gottes durch die freie That der Menschheit kann
das System der religiösen SütKefakeft filglfeh ab theologische oder
absolute Eethik bezeichnet werden, und demgemäs» wären in die«
ser Dbciplin der Anfang, die Vermittlung und die concrete Er-*
schemung der religiösen Sittlichkeit zuerst zu betrachten nach ^m
Momente ihrer (^jectiven Voraussetzung, dann nach dem Momente
ihrer subjectiyen Diald&tik im Elemente der Persönlicbkeit und
endlich nach der subjectiyo-obgectiven Seite ihrer coficretoi|Mani-*
festation in dem tzcff absohtten Welt erwefterten und verUdrteif
Gottesreiche der Menschheit.
Dass die Ethik überhaupt nicht in die Wissenschaft des Ab^
soluten oder die Religionsphilosophie, sondern in die Lehre Tom
objectiven Geist, im Hegerschen Sinne, faOe, wie diess Strauss
in seiner Kritik der ersten Auflage von Rosenkranz' Eneycl(^ädie
behauptet und damit zu begründen glaubt, dass ja in der Ethik
der Geist noch in sich entzweit sei und ab endlich^' im unend-
lichen sich noch nicht gefunden habe, der Begriff der Freiheit abo
in der Ethik ab moralisches Sollen erscheine, — diese Ansidit
beruht auf einer AuiBissung vom Wesen des Geistes und seinem
Verhähniss zum Absoluten, welche von dem dieser ganzen gegen--
wärtigen Darstellung zu Grunde liegende Standpunkte prinzipiefl
verschieden bt. Da das Ich schon in sich versöhnt sein und sich
in Gott gefunden haben muss, um die sittliche Welt zur absoluten
gestalten zu können; da abo das Sittliche, in hödister Potenz^
ab objectiv-reale oder absolute Offenbarung Gottes durch die
Gesammtthat der in ihm sich wissenden, mithin bereikr religiösbe^
stimmten, in Gott versöhnten Gemeinde, an dem Begriffe der Ver«
söhnung seine nothwendige Voraussetzung hat und mithin die sitU
liehe Gemeinde nur die objectiv-reale Wirklichkeit der religiösen
Gemeinde ist, so wird auch im encydopädischen Systeme der reli^
gionsphilosophischen Disciplinen der organische Begriff der ethischen
Seite der Religion, das System der absoluten Ethik, erst an das
dogmatische System sich anscbliessen, nicht aber, wie Strauss will,
demselben als niedriger stehende Dbciplin vorausgehen können.
Nicht die theoretische, sondern die^ praktbdie Versöhnung des
fpeeolatiYcii lleiifioii»wt8ienMh«ft. ^
Geisles vAt sich adbü isl das HiAcre «rf der letfele Begriff der
abfloluleii Elhik» die Aasdiaaiuig der uniTenaleii sitUiclieii Menech-»
heil oder des Goltesreiches, ab dee Ideeb, welches in die ocnh
<7ele WifUichkeit einzubilden ist» bfldel den anmittelbaren, natur*
genässm Übergang in die dritte und letite Reihe der rehgions-
philosqihiseheB Disciplinen, sofern die dirisUiche Idee, nachdem
sie nadi ihrer theoretischen und praklisdien Seite vom wissen*
s<Aaftlfehen Snbjecl erfassl und begrilTen, fAA nun nach Aossen
wendet nnd durch ihren eignen immanenten Trieb bewegt , sich in
der wkkHchen Welt ein frmes Dasein gibt.
C. Den Prozess dieser Sdbstreaiisirung in sefaien besonderen
Mmneirten hat die vel%l«nipUlM«pUncke PnHpB»tol«i^
oda* die Philosophie der religiösen Praxis, ab der letzte, prak«
tisch-constitutive Haupttheil der Eacydopädie, der ab das reinste
Resultat der beiden andern die Peripherie der ganzen Religions->
Wissenschaft bSdet und sieh ds die Philosophie der Gottmensehheit
oder des in der Gemeinde allgegenwärtigf» Gottmenschen bezeichnen
Ittsst, darzustellen. Der Ausdruck Pragmatologie, zur Bezeichnung
einer besonderen Dbciplin in der Philosophie des Geistes, und
zwar deqenigen Sphäre, in wekher der Geist in seiner freien
SdbstdarsteUnng oder Seibstbestimmung, in seinem freien wbsen-
sohaftliehen, künstlerischen, etUschen Thun auftritt, ist schon bnge
her im Gebrauch; jede einzdne philosophische Disciplin hatte auch
ihren pragmatologischen Thefl, ihre Pragmatik, so dass man von
dner logischen, ästhetischen, ethischen, politischen Pragmatik i%
dem Sinne der wirklichen Realbürung dieser einzelnen Prinzipien
in der Fmnn des menschlichen Daseins sprach. Diesem Gebrauche
ganz anoh)g wird hier unter religiöser Pragmatik die Realisirung
der religiösen Idee im wirklichen Dasein und unter Pragmatologie
der rehgiösen Idee ^ Wissenschaft der religiösen Praxis
verstanden. In diesem Sinne hat ohnediess auch Rosenkranz
bereits in der praktischen Theologie eine kirchliche Pragmatik, ab
allgemeine Theorie der kirehiichen Pra»s angenommen und darunter
den aetnellen Asämilisations« imd Realisationsprozess der absoluten
Bdiglon in der Gemeinde verstanden. War im vorhergebenden,
ideologischen Theile der ReMgionswbsenschafl die Idee der Religion
rein als theoretbche, im Elemente des reinen Wbsens, Object der
specttlativen Betrachtung, so ist nun in diesem pragmatischen Theile,
^ Die Idee der
welcher im Allgemeinen der früheren praktischen Theologie ent-
spricht, d^ wissenschaftliche Organismus ihrer objectiven Selbsttfaat
der Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntniss. Tritt hier der Inhalt
nöckt wesentlich als Ideal auf, im Vergleich zur gegebnen Wirk-
lichkeit als Postulat, so erhd»t sich gerade in diesem .Gd)iete die
Speculation zu ihrer höchsten Bestimmung, nämlich eine wes^tlich
eonstitutive, Dasein setzende, die Wirklichkeit durch die Idee. ver-
jüngende Macht zu sein.
Auch die bisherige theologische EncycIopä<die ging darauf aus,
das Aggregat der überkommenen einzelnen Disciplinen* zu orga-
nischer Einheit zusammen zu bringen; inzwischen wollte diess bis
dahin im so weniger gelingen, als man es verschmähte, das Ge-
gebne im Elemente der reinen Idee flüssig zu machen und seinem
wesentlichen Inhalte nach in verjüngter Gestalt als ideelle Totalität
wiederherzustellen. In diesem Theile vor Allem wird die bisherige
Weise verlassen und eine neue Gliederung des Stoffes versuch!
werden müssen, deren Begründung hier nur angedeutet und die
vollständige Reditfertigung der wissenschaftlichen Ausführung über-
lassen bleiben muss. Wie im praktischen Gebiete überhaupt der
Geist vom Individuellen zum Besonderen und von diesem zum
Allgemeinen fortschreitet, so werden auch in der Sphäre der re-
ligiösen Pragmatik die Momente der Einzelheit, der Besonderheit
und der Allgemeinheit am Schicklichsten als Eintheilungsgründe für
die Gliederung des Inhalts sich erweisen. Mit dem Begriffe der
/eligiös- sittlichen Gemeinde als des sittlichen Organismus der^
Menschheit schloss die theologische Ethik; dieser Begriff ist der
reale Boden, auf welchem das System der religiösep Pragmatik in
der Weise sich aufbaut, dass zuerst das religiös -sittliche Indivi-
duum, die vollendete Persönlichkeit, als concreto Spitze und Pro-
duct des Ganzen in seiner Bedeutung für das Ganze erfasst und
begriffen wird, dann die Glieder der Gemeinde als solche, in ihrem
gegenseitigen gleichen Verhäitniss zu einander Gegenstand der
Betrachtung werden, und zulezt die zusammengeschlossene Totalität
des Ganzen als einheitlicher Organismus begriffen wird. Das erste
Moment lässt sich auch als die subjective, das zweite als. die ob-
jective und das dritte als die subjectiv-objective Seite des Pro-
zesses bezeichnen, welchen die religiöse Idee in dem Streben,
sich als ihre eigne freie That zu haben, sich selbst objective
•peeuiativen ftdifkuMWisieDMlMfl. Q5
WMliohkeil 211 gfeben, aas ihrem atwtrael-iitiiariicheii und noch
rein ideellen Fürsiehseiii io die SphSre der Lebendigkeit ttberzn-
gehen und tut frei venniUellen Unimttelbarfceit rnnzuschlafen,
dnrchlänfl. Hiernach besonderl sich die religionsphaosophische
Pragmatoiogie in folgende Disciplinen:
VH. Die Wissenschaft des absoluten Priesterthums,
deren Inhalt das Tbiin des zur religiös ~ sittlichen Persönlichkeit
vollendeten Subjects, als Priesters und Mittlers der religiösen Idee,
bildet. Schleiennacher hat an mehreren Stellen seiner Reden, in
der Anscteuung des Pnesterthums der Menschheit, und in
seiner Encyclopadie in der Idee des KirchenfUrsten , als welcher
religiöses Interesse und wissoischaftiicfaen CSeist im höchsten Grade
vereinige, zuerst ahnungsvoll, wenn glech nur in* unbestimmter
Gestalt, die'ldee des religiösen Genius oder des abso«
luten Priesterthnms ausgesprochen, welche sich zum wissen^
sefaaftlichen Begriffe herauszuarbeiten hat Die SelbstdarsteUung
des persöiäichen Lebens zur schönen, hannonsscben Vollendung ist
die allgemeine Grundlage für den Begriff des Genius in der höchsten
lind allein wjihrhaften Bedeutung des Wortes, nach welcher die
Genialität wesentlich auf religiös^-sittlicher Persönlichkeit ruht. Der
bihalt dies^ Disciplni wird sich nach folgenden Momenten so zu
gliedern haben, dass zuerst betrachtet wird der subjective
Bildungsgang des Genius (und zwar a) durch die Geschichte,
b) durch die Gegenwart des Lebens und c) durch die schöpferische
Originalität der eignen Individualität), dann die objective
Selbstdarstellung des Genius (und zwar das Priesterthura
a) des künstlerischen Geistes, welches auch das politische Kunst-
werk in sich schliesst, b) der Wissenschaft und c) der Liebe, das
religiöse Priesterthum im höchsten Sinne des Worts) und endlich
das Pantheon der Genien (nämlich: a) die verklärten Genien
oder die Heiligen der Geschichte, b) die gegenwärtigen Genien,
die in Demuth dem Gotte dienend der Hitwelt voranleuchten, und
c) die werdenden Genien, die am Sonnenstrahle der Liebe zu
eigner Vollendung reifen.) Dieses letzte Moment bildet zugleich
den Uebergang zur nächstfolgenden pragmatologischen Disciplin.
VIII. Die absolute Pädagogik enthält als aufgehobene,
jSüssig gesetzte Momente das katechetische, das homiletische und
das priesterliche od^psychagogisch-pastorale Element der früheren
Jahrb. f&r spcciiltt. Philo». I. 1. ' 5
66
Die Idee der
praktischen Theologie in sich und stellt ihrem Begriffe nach den
fürsichwerdenden Prozess der praktisch* religiösen Idee, die Dia-
lektik der besonderen Selbstdarstellung der Glieder der Gemeinde
zu vollendeter Harmonie religiös -sitöicher und frder Persönlich-
keiten dar. Dieser Begriff realisirt sich wissenschaftUch in der
Weise, dass zuerst dip objective Seite der religiösen Pä-
deutik oder die Mittel der religiöson Bildung, dann der am Sub-
ject vor sich gehende Entwicklungsgang oder die absolute Pro-
zession der Erlösung, als der ascetische Prozess der religiös-
sittlichen Persönlichkeit (die naive Versöhnung, die Entzweiung
des Geistes und die Pädagogik der Liebe) und endlich die. abso-
lute Versöhnung und Reife des Geistes, als die durch die
Liebe vermittelte Versöhnung des Subjects mit sich selbst und mit
der Welt, als die subjectiv- objective Seite der rehgiösen Päda-
gogik, organisch sich entfalten. Der Begriff der Harmonie der in
sich selbst und mit der Welt versöhnten Persönlichkeit, mit wel-
chem diese Disciplin scUiesst, bildet wiederum den organischen
Uebergang zur nächsten, der letzten und höchsten pragmatologischen
Disciplin; das in der Liebe absolut versöhnte Individuum bildet den
nothwendigeh Ausgangspunkt zur folgenden Betrachtung der Ge-
sellschaft solcher versöhnten Individuen, als dem Momente der
Allgemeinheit in der Wissenschaft der religiösen Praxis.
IX. Die absolute Liturgik oder hie Wissenschaft
der Dramatik des absoluten Cultus biklet den Schlussstein
der ganzen speculativen Religionswissenschaft. Die objective
Basis des Cultus, der Ort für die Darstellung der Versöhnung
und für den allgemeinen Dienst des Absoluten ist innerhalb des Staates
die freie Gesellschaft; die substantiellen Elemente des Cidtus oder
die absoluten Gnadenmittel sind die Offenbarung Gottes in
der Natur, als Verklärung der Natur, die Offenbarung Gottes im
Leben (die absoluten Sakramente) und die Offenbarung Gottes in
der Kunst, als der Cultus der Schönheit; endlich erscheint die
Verwirklichung des absoluten Cultus als absolute Andacht
(re&giöser Prophetismus, religiöser Dialog, religiöse Rede), als
absolutes Opfer (das absolute Opfer der Liebe) und als absolute
Festfeier (die speculativen Feste), welche als der Genuss der
seligen Verklärung ^^r in der Gegenwart Gottes versöhnten Ge-
meinde die höchste reale Erfüllung der Religion ist. Ein solcher,
•pecnlativen ReligionswiMenschaft. ffj
aus cter ewigen Idee der Religion und dem höchsten, freiesten
Selbstbewusstsein der Zeit wiedergeborner Cultus ist allein geeignet,
dem religiösen Bedürfniss Aller entgegenzukommen, insbesondere
auch die philosophisch Gebildeten bleibend zu gewinnen; nur ein
wahrhaft freier Cultus des Geistes, dessen Inhalt — wie F. Vis eher
in seinem geistvollen Aufsatze über Gervinus und die Deutschka-
tholiken, in Schweglers Jahrbüchern der Gegenwart, 1845, S. 1106 ff«
mit Recht hervorlfebt — die ewigen redien. Mächte und Ideen des
Menschenlebens bilden und der, neben der Weihe jeder neuen
Gründung sittlicher Lcbenszustände, auch festliche Zeiten und Tage
als Zeiten der Besinnung und des erhöhten Selbstbewusstseins kennt.
Von dieser heitern, freien Höhe des speculativen Begriffs aus
erscheint freilich die bisherige Form der Theologie als eine niedrige
und unscheinbare Wissenschaft, die diesen Namen kaum verdient;
nur so betrachtet, wie sie in der Idee sich darstellt, in ihrer aus
jder Taufe des philosophischen Geistes wiedergebornen Gestalt als
speculative Religionswissenschaft, im Strahlenglanze ihrer Verklärung
geschaut, ist die wahrhafte Form dieser Wissenschaft erreicht. Und
wenn es auch gewiss zu erwarten steht, dass die gegenwärtige
Theologie der Idee, die hier in ihren allgemeinen Grundzügen aus^
zuführen versucht worden, zunächt noch feindselig und polemisch
sich gegenüber stellen wird, so ist doch mit aller, der erkannten
Wahrheit zustehenden Zuversicht die Ueberzeugung auszusprechen,
dass eben diese Idee die Leuchte der Zukunft sein tvird. Wenn
die theologischen Fakultäten voraussichtlich noch eine geraume
Zeit in ihrem bisherigen Plunder sich ausbreiten werden, so muss
diese Wissenschaft vorläufig von der Philosophie vertreten und
verwaltet werden, bis sie in den theologischen Fakultäten sich
Jünger und Pfleger erworben, bis die Zeit so weit fortgeschritten
ist, dass Theologie und Religionsphilosophie sich vollständig decken.
Worms, im Februar 1846.
«uaek«
*♦
^>*>^
4^ -p^ H.
Ueber
das Prinzip der Pbllosophie und die Idee
des üystems der UriUensbestimiimnsen« *)
Von Prof. Reiff in Tübingen.
Die Philosophie bewegt sich durchaus im Begriffe des Unbe-
dingten; dieser Begriff ist ihr Prinzip, von welchem sie ausgeht
und auf welches sie Alles bezieht.
Die erste Aufgabe der Philosophie ist daher, diesen Begriff
zu rechtfertigen. Sie entsteht in und mit diesem Begriffe; die
Nachweisung der Genesis . dieses Begriffs ist auch die Begründung
der Philosophie. Diese Nachweisung wird zugleich den bestimmten
Sinn geben, in welchem der Begriff des Unbedingten, der Prinzip
der Philosophie ist, genommen werden müss.
Ist die Idee des Unbedingten uns in unseren Vorstellungen , so
Avie wir diese im Bewusstsein vorfinden, gegeben?
Was heisst das : eine Idee ist uns gegeben ? Zunächjst scheint
es, dass diess von keiner Vorstellung könne gesagt werden; jede
Vorstellung eines Gegenstandes ist ja unsere Thätigkeit; die Sinnes-
empfindungen entstehen durch eine bestimmte Thätigkeit der Seele
. und aus diesen Empfindungen bilden wir Vorstellungen von Gegen-
ständen, welche eben darum uns nicht bloss gegeben sind. Allein
diese auf Sinnesempfindungen beruhenden Vorstellungen weisen
doch immer auf etwas ausser uns zurück, welches in unserem
*) Diese Abhandlung schliesst sich an eine Abhandlung über die Krause'sche
Philosophie in den Jahrbüchern der Gegenwart, 1845 Februar, an und
führt die vornehmlich in der Einleitung eu dieser Abhandlung gegebenen
Ideen weiter aus.
Ueber daf Priuip der Philofophi« ete. , 09
Empfinden percipirt wird, so dass diese Perceptiooen nicht su Stande
kommen, wenn nicht etwas ausser uns auf unser Organ wirkt.
In diesem Sinne sind uns unsere Vorstellungen« gegeben. Und in
eben diesem Sinne ist uns die Idee des Unbedingten nicht gegeben.
Das Unbedingte, das Unendliche ist kein Object, das uns durch
die Sinne gegeben wird; Gott ist. kein sinnliches Object; aber auch
die Weit, als absolutes Ganzes, als Universum, ist kein Object der
Wahrnehmung. Nur dass wir den Begriff des unendlichen Ganzen
der Welt haben, das allein treibt uns, in der Einbildungskraft über
den Theil der Welt, den wir sehen, hinaus zu gehen und das
räumliche BiM desselben immer weiter ins Chrenzenlose auszudehnen.
Dieser Begriff kommi also nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung;
er hat .einen höheren Ursprung, d. h. der Begriff des Unendlichen,
des Unbedingten ist uns nicht gegeben.
Diess nun, dass der Begriff des Unendlichen uns im bemerkten
Sinne liicht gegeben ist, dass wir über das, was uns gegeben ist,
hinausgehen müssen(,f um zu jenem Begriffe zu gelangen, diess ist
es, was eine Einleitung in die Philosophie notbwendig macht, welcho
in und mit dem Begriff des Unendlichen entsteht und völlig Eins
out demselben ist. Diese Einleitung zeigt uns den Weg, auf wel-
chem wir uns über das unseren Sinnen Gegebene zum Begriff des
Unendlichen erheben; sie weist die Entstehung dieses Begriffes
nach, welcher nur in einem von den Sinnen unabhängigen — man
erlaube mir diesen populären Ausdruck — • höheren Vermögen der
Vernunft, angetroffen werden kann.
£dne solche Einleitung wäre nun aber nicht möglich, wenn
der Vemunftbegriff des Unendlichen und die sinnliche Vorstellung
durch eine unübersteigliche Kluft geschieden wären, wenn kein
Uebergang möglich wäre von der sinnlichen Vorstellung zu jenem
Vemunftbegriff, wenn es kein Mittleres gäbe zwischen beiden, in
welchem ebenso die sinnliche Vorstellung wie der VernunftbegrifT
enthalten wäre. Gibt es ein solches Mittleres, wenn ich so sagen
darf, eine Mischung von Vemunftbegriff und sinnlicher Vorstellung,
dann dürfen wir nur zusehen, wie sich der Vemunftbegriff von
diesem Ineinandersein mit der sinnlichen Vorstellung befreit, um
als reiner Vemunftbegriff des Unendlichen ins Bewusstsein zu treten ;
wir haben damit den Begriff des Gegenstands der Philosophie, haben
den Standpunkt, den Anfang der Philosophie erreicht.
70 * Ueber dfw Prinzip der Philosophie
Die Einleitungr hat also eben dieses Mittlere aufzusuchen. —
Dabei haben wir aber wohl zu bedenken, dass wir in der Einleitung
in die Philosophie» uns noch ausserhalb der Philosophie befinden.
Wir haben daher jenes Mittlere eben nur als Thatsache aufzu-
fassen, beweisen können wir es nicht, wir können nicht zeigen,
dass das sinnliche Bewusstsein nothwendig sich zu jenem Mittleren
erhebt, das würe schon eine philosophische Betrachtung des Be-
wusstseins. Nur als Thatsache 'können wir es hier auffassen und
finden sofort durch die Analyse dieser Thatsache den reinen Begriff
des Unendlichen.
Dieses Mittlere findet sich als unlängbare Thatsache vor. Alles,
was wir sinnlich vorstellen, stellen wir in der Idee des Raumes
vor (denn auch das in der Idee der Zeit Vorgestellte versetzen
wir doch in den Raum). Die Einbildungskraft trägt aber unser
sinnliches Vorstellen immer über jede begrenzte, wirklich wahr-
genommene Raumgrösse hinaus; sie dehnt die Raumgrösse immer
weiter ins Grenzenlose aus. Diese Erweiterung des wahrgenom-
menen Raumes beruht aber nicht auf Empfindungen, auf wirklichen
Nachahmungen, sondern sie ist eine freie, von äusseren Eindrücken
unabhängige Construction des unendlichen Raumes. So wirkt offen-
bar in der Einbildungskraft schon ein höherer Begriff mit, der
Vernunftbegriff des Unendlichen, und beides, dieser Vernunftbegriff
und die sinnliche Vorstellung, ist in ihr noch in einander. Indem
die Einbildungskraft sinnliches Vorstellen ist, ist das Raumbild, das
sie vorstellt, immer ein begrenztes, eine begrenzte Grösse; weil
aber der Vernunftbegriff in ihr wirksam iiSt, geht sie immer wieder
über die Grenze hinaus und zwar ganz unabhängig von einer
wirklichen Wahrnehmung. Wie diess bereits in der Thätigkeit der
Einbildungskraft zusammen sein könne, das haben wir hier nicht
zu erklären; wir haben dieses Zusammensein nur als Thatsache
aufzufassen. Wir haben also nur diess festzuhalten: das Object
der sinnlichen Vorstellung ist immer eine begrenzte Raumgrösse;
dieselbe geht aber auch, ab Einbildungskraft, immer wieder über
diese Grenze hinaus, dehnt dieselbe weiter aus. So haben wir
diese Thatsache vorerst rein als Thatsache aufzufassen.
Wir bestimmen nun aber diese Thatsache; wir unterscheiden
die Elemente, die in ihr ungeschieden in einander liegen. Durch
und die Idee des Systems der IVüleiiKbeitimmMiigen. 71
diese Unterscheidung wtrden wir den Vernunftbegriff des Unend-
lichen, den Begriff der Philosophie, finden.
Unser Vorstellen geht über jedes Raumbild , als ein hegrenztes,
hinaus. Das erweiterte Raumbild ist aber selbst wieder ein be-
grenztes, über welches ebenso wieder hinaus gegangen wird, u. s. f.
ins Unendliche. Es wird also in der fort und fortgehenden Aus-
dehnung des Raumbildes nicht der unenilliche ganze Raum selbst
erreicht, .sondern so wie wir über die Grenze einer Voi^tellung
hinaus gehen, fallen wir in unserem Vorstellen immer wieder in
die Grenze zurück. Wir streben also in diesem Vorstellen, das
Unendliche zu erreichen, erreichen es aber nicht wirklich. — Da
haben wir nun offenbar folgende zwei Elemente zu unterscheiden:
13 die Vorstellung eines begrenzten Raumbildes; 2} die Vorstellung
als hinausgehend über diese Grenze. Indem die Vorstellung hinaus
geht über die Grenze, hört sie überhaupt auf, ein Object vorzu-
stellen; denn ein objectiv vorgestelltes ist als solches ein begrenz-
tes Raumbild. Folglich wendet sich das Vorstellen, indem es über
die Grenze des vorgest^en Raumbildes hinaus geht, vom objectiv
Vorgestellten weg auf sich selbst zurück; d. h. das Bewusstsein
stellt nicht ein objectives vor, sondern sich selbst. Hier haben
wir also in einer unläugbaren, Jedem nahe liegenden Thatsache^^
das eigentliche Motiv der Reflexion des Bewusstseins auf sich selbst.
Und wir werden sehen, dass die Philosophie mit dieser sich er-
öffnet.
Diese Reflexion des Bewusstseins auf sich selbst ist zwar eine
Abstraction von jedem möglichen objectiv vorgestellten Gegenstande,
aber sie ist darum keineswegs die absolute Abstraction von allem
Inhalte, das völlig Leere und Unbestimmte; sondern sie trägt in
sich einen Inhalt, und zwar allen Inhalt, das Unendliche. Indem
das Vorstellen eine begrenzte Raumgrösse vorstellt, geht es zugleich
über diese Grenze hinaus. Es fasst. daher in diesem Hinausgehen
über die Grenze offenbar das Unendliche, das unendliche Ganze
zusammen ; nicht eine begrenzte Summe des im Räume befindlichen
Mannigfaltigen, nicht ein begrenztes Vieles, sondern das unendlich
Viele als solches fasst es zusammen. Aber eben darin geht das
Vorstellen in sich selbst zurück; das Bewusstsein findet somit sich
selbst als den Act der Zusammenfassung des unendlichen Raumes,
welcher nicht begrenzt, sondern vollendete, absolute Einheit ist.
/
73 Ueber dti Pfinzi> der Phiiosophto
In der Reflexion auf sich selbst hat dad fiewusstsein die Idee des
Universums, des unendlichen Ganzen; und das, was wir „das höhere
Vermögen, Veniunft'* genannt haben, ist nichts anderes, als das
Bewusstsein, sofern es in sich selbst zurü(^ geht und in sich die
Idee des unendlichen Ganzen ist. Indem das Bewusstsein sich
selbst denkt, den Begriff von sich selbst bildet, hat es auch den
Begriff des unendlichen Ganzen. Die Idee des UnendUchen ge-
winnen wir ursprünglich nur durch den Begriff von uns selbst.
Und indem mit dieser Idee die Philosophie entsteht, folgt hieraus
von selbst, dass die ächte Wissenschaft der Philosophie die Wissen--
Schaft des Bewnsstseins ist.
Aber wir haben hiermit noch nicht die ganze Thatsache, von
der wir ausgdien, bestimmt. Das Bewusstsein erfasst sich selbst
als die absolute Einheit des unendlich Vielen, indem es hinaus
geht über das begrenzte Mannigfaltige seines sinnlich vorgestellten
Objets. Allein es geht iii seinem Vorstellen hinaus über die be-
grenzte Raumgrösse innerhalb dessen , dass es eine solche vorstellt,
und beides wechselt mit einander ab. VMr haben daher zunächsl
folgenden Ausdruck für unsere Thatsache : das Bewusstsein ist eben
sowohl der Act der Zusammenfassung des unendlich Vielen , als der
Act der Zusammenfassung einer begrenzten Summe des Mannig-
faltigen. Aber nachdem wir gesehen haben, dass das Bewusstsein
über die Grenze seines Objects hinausgehend sich selbst als die
Einheit des unendlich Vielen erfasst, so wird daraus von selbst
eine nähere Bestiumiung der anderen Seite unserer Thatsache fol-
gen, in welcher das Bewusstsein in seinem Vorstellen nur eine
begrenzte Summe des Mannigfaltigen zusammenfasst. — Wir haben
gesagt: das Bewusstsein , als in sich das UnendKche zusammen-
fassend, wende sich weg von allem objectiv Vorgestellten und
denke darin sich selbst. Nun aber gehört der Act der Zusammen-
fassung eines begrenzten Mannigfaltigen ebenso zum Bewusstsein,
folglich wendet er sich in seiner Reflexion auf sich selbst, worin
er in sich selbst die Unendlichkeit ergreift, nicht blos weg von
dem vorgestellten Object, das ausser ihm liegt, sondern von sich
selbst, d. h. er unterscheidet sieh als Einheit des unendlich
Vielen von «ieb seltot als der Einheit, der Zusammen-
fassung einer begrenzten Summe des Mannigfaltigen.
und die Idee de« Systemi der Willen^ettiiuininigen. 73
Wir müssen nun sehen, was hiermit gesagt ist und müssen
aqf diesen Punkt unsere ganze Aufmerksamkeit richten. Beide
Acte, der Act der Zusammenfassung des unendlich Vielen und der
Act der Zusammenfassung einer blos begrenzten Summe des Man«-
nigfaltigen, sind hiermit unterschieden, sie sind auseinander ge*
halten. Betrachten wir, diess näher, so wird der Act der Zusam-
menfassung einer begrenzten Summe des Mannigfaltigen verschwinden,
es wird etwas anderes an dessen Stelle treten; wir können die
gegebene Formel nicht festhalten. Unsere Thatsache ist darin
nicht vollständig bestimmt; unbestimmt ist noch der Act der Zu-
sammenfassung eines begrenzten Mannigfaltigen , und dieser Act in
die gegebene Bestimmung der Thatsache aufgenommen, verändert
sich nothwendig in einen anderen Begriff. — Die Zusammenfassung
des begrenzten Mannigfaltigen geht als solche auch über die Grenze
hinaus, laut unserer Thatsache; so geht also dieser Act in sich
selbst über in den anderen, den Act der Zusammenfassung des
unendlich Vielen, er wechselt mit diesem, er ist also nicht von
letzterem unterschieden^'' beide sind nicht auseinander gehalten.
Indem daher das Bewusstsein als Act der Zusammenfassung des
unendlich Vielen sich unterscheidet von sich selbst als Act
der Zusammenfassung des begrenzten Mannigfaltigen, so tritt an
die Stelle des letzteren nothwendig etwas anderes: dasBewüsst-
sein unterscheidet sich alsEinheit des unendlich Vielen
von sich als nicht-Einheit desselben, so dass es in letz-
terer Beziehung schlechthin nicht -Einheit ist, also überhaupt nicht
Zusammenfassung des Mannigfaltigen, auch nicht eine begrenzte,
denn diese geht als solche immer in die erstere über.
In diesem Negativen dieser Nichteinheit liegt aber etwas Posi-
tives. Das Bewusstsein unterscheidet sich damit von sich selbst;
es gibt sich damit ein Sein, das demjenigen entgegengesetzt ist,
worin es sich als Einheit des unendlich Vielen erfasst. Und dieses
Sein ist eben durch den Begriff der .Nichteinheit bestimmt, d. h.
das Bewusstsein ist darin nicht die absolute, das unendliche Ganze
in sich zusammenfassende Einheit, sondern einzelnes Wesen, Glied
des unendlichen Ganzen, diess ist der einfache Ausdruck des po-
sitiven Seins , welches in jenem Begriff der Nichteinheit gesetzt ist.
Wir haben also folgenden Begriff: das Bewusstsein, .indem
es sich selbst erfasst als die Einheit des unendlich
•jrc Ueber das Priactp der Philosophie
Vielen, unterscheidet sich als solche Einheit von sich
selbst als einzelnem Glied der unendlichen Reihe der
Wesen; es unterscheidet sich so von sich selbst, es ist
also beides als dasselbe mit sich einige Wesen, abso-
lute Einheit der unendlichen Reihe der Wesen und
Glied der Reihe, und indem es beides in Einem ist,
unterscheidet es sich darin von sich selbst.
Diess nun ist der Grundbegriff, den wir an die Spitze der
Philosophie zu stellen haben. Aber um denselben als solchen zu
erkennen, bedarf er einer ausführlichen Erörterung.
•^^ Wir haben hiermit den Begriff des Bewusstseins. Denn das-
jenige, was sich von sich selbst unterscheidet, ist Bewusstsein,
Wenn in einem Wesen der Act der Unterscheidung seiner von
sich selbst .möglich sein soll, so muss dieses Wesen als dasselbe
auf entgegengesetzte Weise existiren. Diese Bedingung des Be-
wusstseins haben wir in unserem Begriffe, das menschliche Wesen
ist in Einem Glied der unendlichen Reihe der Wesen und Einheit
dieser Reihe, darin haben wir die Möglichkeit, dass es sich von
sich selbst unterscheidet, dass es sich weis. Nur dasjenige
Wesen kann also seiner selbst bewusst sein, welches
Glied der Reihe der Wesen ist Dieser Begriff wird wohl im
weiteren Verlaufe in seiner vollen Bedeutung hervortreten; vorerst
wollen wir diesen Begriff, so weit er bis jetzt bestimmt ist, uns
merken.
Darin, dass das Bewusstsein sich als Einheit der Reihe von
sich als Glied der Reihe der Wesen unterscheidet, ist von selbst
mitgesetzt, dass. es in beiden völlig Eins mit sich selbst ist; denn
sonst könnte es nicht darin sich von sich selbst unterscheiden.
Das bewusste Wesen ist also ganz Einheit der Reihe und ganz
Glied derselben. * Daraus, dass es beides ganz und so in beiden
völlig einig mit sich selbst ist, begreifen wir sehr leicht, dass es
sich schlechthin setzt als Einheit der Reihe und damit sich als
solche von sich selbst 'als Glied der Reihe unterscheidet. Wir be-
greifen, wie ein so mit sich selbst einiges Wesen sich von sich
selbst unterscheiden und damit seiner selbst bewusst sein könne.
Allein wir gehen hier nicht von seiner Einheit aus, um aus ihr
den Unterscheidungsact, worin das Bewusstsein besteht, zu be-
greifen; sondern in dem durch Bes^timmung unserer Thatsache
und die Idee des Systemf der WiUensbfttinuBiiiigeB. ^5
gefundenen Unterscheidtingsacte .finden wir zugleich diese Einheil
des bewussten Wesens mit sich selbst als seine nothwendige Vor-
aussetzung. Wir haben also im Bisherigen gezeigt, wie
das Bewusstsein in seine Voraussetzung zurück gehend,
darin sich als Bewusstsein vollzieht.
Wir haben somit diese Voraussetzung des Bewusstseins zu
bestimmen. Das Bewusstsein ist — so fanden wir — in Einem
absolute Einheit der Reihe der Wesen und Nichteinheit derselben,
Glied der Reihe, es ist beides ganz. Es ist ganz, schlechthin nicht
Einheit der Reihe, es ist diess sein Sein, worin es ganz aufgeht,
es ist ganz als Glied der Reihe, worin es nicht die Vielheit der
Wesen in sich zusammenfasst. Ist es nun damit etwa in sich
selbst ein Vieles? Keineswegs, sondern sofern es in sich selbst
ein Vieles ist, ist es die Einheit, welche die unendliche Vielheit
der Wesen in sich zusammenfasst. Es ist also, so betrachtet,
einfach. Aber es ist ebenso ganz Einheit des unendlich Vielen.
Aber diess widerspricht sich ja, dass das einfache Wesen in
sich die Einheit des unendlich Vielen sei? wie kann es als Ein-
faches in sich zugleich ein Vieles sein ? so ist es ja nicht einfach.
Und wenn es darin, dass es ganz als Glied der Reihe ist, zu-
gleich ganz als Einheit der Reihe ist, wenn es Letzteres ist, ohne }
über sich «ms* Erstere^hinaus zu gehen, so wird es ja doch nicht
alle anderen Wesen in sich enthalten können, so dass sie wären
bloss als in ihm gesetzt; denn dann wäre es ja nicht Glied der
Reihe. Wenn es als Glied der Reihe der Wesen absolute Einheit
der Reihe ist, so können alle anderen Wesen nicht bloss als in ihm
gesetzt existiren, als die blossen modi der Einen absoluten Sub-
stanz. Diess ist also keinenfalls die Form, in welcher das be-
wusste Wesen Einheit der Reihe der Wesen sein kann. Es ist \
einfach; was einfach ist, ist als solches in sich vollendet, in sich
selbstständig, es ist in sich ganz und bedarf keiner Ergänzung
durch anderes ausser i^m; denn diese würde seine Einfachheit
aufheben. Als solches ist es Glied der Reihe der Wesen. Es ist
klar, dass alle Glieder der Reihe als solche einfach, in sich selbst-
stöndig sind. Folglich kann es alle anderen Wesen nur in sich
enthalten als einfache, in sich selbstständige Wesen.
Wir haben also eine Reihe einfacher, in sich selbstständiger
Wesen; und jedes dieser Wesen enthält in seinem Sein als ein-
I
>2A U«ber Uaa Prinzip der Philosophie
faches und in sich selbstständiges Wesen das Sein aller anderen
als eben solcher. Diess ist die' Form, in welcher das bewusste
Wesen Glied der Reihe der Wesen und Einheit derselben ist. Sc
ist dasselbe ungeschieden selbstständig, unbedingt und
bedingt durch alle anderen; indem es in seinem Sein als;
einfaches, in sich selbstständiges Wesen das Sein aller anderen als
eben solcher enthält, ist es offenbar ganz unbedingt und ganz be-
dingt durch alle anderen und damit beides ungeschieden.
M,/;o..^' Dieser Begriff ist aber nicht der Begriff des Bewusstseins ^
^^^:u-^^U selbst als solchen; denn dieses besteht im Acte der Unterscheidung
j v-W*^^ seiner von sich selbst. Es ist der BegrifiF seiner völligen unge-
'][/! schiedenen Einigkeit mit sich selbst in seinen beiden Elementem ,
^^ .% d. h. des bewussten Wesens als bewusstlosen Seins; und dieser >*. 7'-^
^^^1 ^^ Begriff ist der im Bewusstsein als Unterscheidung seiner von sich
^/o ^_v selbst gesetzte Begriff seiner nothwendigen Voraussetzung. —
, .,\,)J,' Derselbe enthält aber zugleich den Begriff der unendlichen Reihe
w. V der Wesen, deren jedes als einfach, in sich selbstständig, zugleich
V ^ V/». ungeschieden das Sein aller anderen als eben solcher enthält. Folg* |
V ^^ lieh enthält der Begriff des Bewusstseins von ihm selbst den Begriff
. .' *-^<'der unendlichen Reihe der Wesen als seine Voraussetzung*
, ./ Es ist der Begriff einer unendlichen Reihe einfacher Wesen,
.'den wir somit aufstellen; einer unendlichen Reihe, einer actu
unendlichen. Ein jedes Glied enthält als einfaches, in sich selbst-
,, //Ständiges, in sich vollendetes Sein in sich das Sein aller ander»,
* '.c. so gewiss also jedes als in sich vollendet gedacht wird, so gewiss
/ wird auch die Reihe als in sich vollendet gedacht. Wir haben
^ >' also hiemit den Begriff der Totalität der Wesen, welche vor^ und
' ' . unabh£^ngig vom Bewusstsein ist, d. h. den Begriff der Totalität
desJRealen an sich. So sind wir, vom sinnlichen Vorstellen aus-
gehend und dasselbe, wie es in der aufgestellen Thatsache sich
darstellt, bestimmend zum Begriff des Realen an sich gelangt,
welches unabhängig vom Bewusstsein ist, und sind damit über dag
sinnliche Vorstellen selbst hinausgekommen. Und das Bewusstsein,
das in dieser seiner Voraussetzung sich selbst ergreift, vermittelst
derselben sich selbst vollzieht, muss wohl ciuch ein anderes, höheres
Bewusstsein sein als das sinnliche. Doch vorerst bestimmen wir
nun den Begriff der Voraussetzung desselben.
and die Idee de« Systemf der WitlensbettimniuiigeD. 'j'j
In diesem Begfriffe der unendlichen Reihe der Wesen ist der
Be^ff des Verhältnisses dieser Reihe der Wesen, welche sänunt-
lieh endlich sind, zu Gott enthatten.
Jedes Wesen der Reihe ist ganz unbedingt und ganz bedingt
durch alle andern, sofern es als einfaches, in sich «elbstständiges
das Sein aller andern als eben solcher enthält. In diesem Begriffe
ist unmittelbar der bestimmte Begriff des Verhältnisses der end-
lichen Wesen zu Gott enthalten.
Jedes Wesen ist ganz unbedingt und ganz bedingt durch alle
andern; diess ist es als endliches Wesen, hierin liegt nun unmittel-
bar ein gedoppelte Sinn: 1} Es ist ganz unbedingt und ganz be-
dingt, so dass sich seine Unbedingtheit nicht trennen lässt von
> seinem Bedingten, sein selbstsändiges Sein sich nicht trennen lässt
von dem selbstständigcn Sein der andern Wesen, und so, dass
seine Unbedingtheit in der Bedingtheit durch alle andern, seine
Selbstständigkeit in seiner Abhängigkeit von allen andern affirmirt
ist. So ist es als endliches Wesen. 2) Indem es so endliches
Wesen, ganz unbedingt und ganz bedingt ist, ist es eben darin,
ohne sich als solches zu negiren, ganz unbedingt, schlechthin
unbedingt, es ist über sich selbst als Glied der Reihe hinausge-
hoben, und ist das absolut unbedingte Sein, welches nicht Glied
der Reihe, und in sich selbst, für sich selbst ein vollendetes Sein
ist. — Um diese an sich sehr einfachen Begriffe richtig zu fassen,
ist nothwendig, jede Negation zwischen den beiden Begriffen in
1} und 2} hinwegzudenken. Die Hegersche Dialektik lässt jeden
Begriff «nur durch Negation seiner selbst sich in einen andern Be-
griff verändern; so kommen wir nur durch Negation des Endlic^hen,
sei es auch, dass diesef'sich selbst negirt, zum Begriff des Un-
endlichen; so wie sie den Begriff der Vielheit der Wesen (im
Räume) vonftEins ausgehend, nur durch Negation des Eins, in
welcher wieder ein anderes Eins gesetzt sein soll, herausbringt,
während für uns das Sein des einfachen Wesens ohne alle Negatiorf
auf schlechthin positive Weise das Sein aller andern in sich ent-
hält. Also kein Verhällniss der Negation zwischen dem Endlichein
und Unendlichen. Das endliche Wesen ist in seiner Selbstbejahung
als endliches, als Wesen, das ganz unbedingt und ganz bedingt
ist, als ein Sein, dessen Unbedingtheit sich nicht trennen lässt von
seiner Bedingtheit, indem es als solches ist und bleibt, über sich
7g Ueber das Pritisip der Philosophie
selbst hinausgehoben, ist das absolut unbedingte Sein. — Dieses
nun ist als solches in sich selbst vollendet, es bedarf nur seiner
selbst zur Existenz, es enthält in seinem Begriff nicht ein anderes
Sein, das endliche. So ist das absolut unbedingte Sein als solches
wahrhaft geschieden vom Endlichen, in seinem Begriffe ist nicht
der Begriff des Endlichen enthalten , es hat seine Wirklichkeit
schlechthin in sich selbst als absolut unbedingtes Sein, nicht im
Endlichen; es ist, abgesehen vom Endlichen, das in sich selbst
vollendete Sein. Aber das endliche Wesen, enthält in seinem Be-
griffe den Begriff des absolut unbedingten^ Seins als eines so in sich
selbst vollendeten; es ist als ganz unbedingtes, das ganz bedingt
ist, indem es als solches ist, Eins mit dem absolut unbedingten
Sein, und daher eben darin von ihm geschieden, d. h. es ist in
Gott, dem absolut unbedingten, an und Tür sich selbst vollendeten
Sein. Denn ist das endliche Wesen so als selbstständiges Eins mit
Gott und geschieden von ihm, so ist es in Gott als selbstständig^es
Wesen. Es ist aber auch — und diess ist nur ein anderer Aus-
druck für denselben Begriff ^ in seinem durch sich und durch
Gott als das über das Endliche als solches erhabene Wesen.
Denn, unbedingt sein und, durch sich sein ist dasselbe; das end-
liche Wesen^ als ganz unbedingt und ganz bedingtest also durch
sich und durch alle andere endlichen Wesen. Es ist aber, indem
es so als endliches Wesen ist, Eins mit Gott als dem absolut un-
bedingten, schlechthin durch sich Seienden, über es selbst als end-
liches erhabene Wesen und geschieden von ihm, es ist also in
Einem, als endliches Wesen, durch sich als endliches Wesen
und durch Gott als Gott. In diesen Bestimmungen ist femer
unmittelbar diess mit enthalten, dass <las endliche Wesen nicht für
sich in diesem Verhältniss zu Gott steht, sondern eben nur als
Glied des Ganzen der Wesen, wie in und mit allen andern. Ge-
rade darin, dass sein Sein als selbstst^idiges das Sein aller andern
als selbstständiger in sich enthält, darin dass es ganz unbedingt
und ganz bedingt ist, ist es so in Gott und durch Gott. Wir
denken daher in einem und demselben Begriff mit dem Sein eines
jeden endlichen Wesens in Gott das Sein aller als solcher, die
sich gegenseitig bedingen, in Gott; d. h. wir denken die Totalität
der endlichen Wesen, die Welt, als seiend in Gott und durch tsE^tt.
Der Begriff eines jeden Wesens schliesst das Sein aller andern
und die Idee des Systems der WUlensbettimmniigen. 79
in sieb, eben darin ist es in Gott, durcb GoU, das Eine in sich
vollendete absolut unbedingte Sein; wir denken daher jedes
endliche Wesen, sofern es in seiner Selbstst^digkeit die Sribst«*
ständigkeit aller andern in sich schliesst, 3. h. wir denken die
Totalität der selbststandigen endlichen Wesen als solche, als seiend
in Gott, durch Gott als dem absolut Einen schlechthin unbedingten
Sein.
Der aufgestellte Begriff Gottes enthält entschieden die Negation
des Pantheismus, nach welchem der Begriff Gottes nur gedacht
werden kann, sofern er an ihm selbst zugleich den Begriff des
Endlichen enthält, so dass Gott selbst seine vollendete Wirklichkeit
nicht in sich selbst, abgesehen vom Endlichen, hat, sondern im
Endlichen, in der Welt. Dieser antipanth eistische Begriff Gottes
ist aber unmittelbar enthalten im Begriff der Selbstständigkeit des
Endlichen als solchen, und das Endliche bildet nicht die unendliche
Weise der Modi, welche in der Einen absoluten Substanz begriffen
werden, sondern die unendliche Reihe der Substanzen (Monaden),
welche als solche in Gott, dem absolut Einen in sich vollendeten
Wesen sind; eben durch diesen Begriff ist der Pantheismus ent-
schieden aufgehoben. #
Gott ist das absolut unbedingte Sein. Man wird gegen diese '
Bestimmung an und für sich nichts haben. Aber das vrird man
nicht zugeben wollen, dai^s das göttliche Wesen durch diesen Be-
griff ganz bestimmt werde. Gott ist, wird man sagen, nichts so
abstractes, unlebeudiges, als das absolute Sein; Gott ist Geist, er
ist persönliches Leben. Was ist denn aber Gei^t, was ist Persön-
lichkeit ? Doch jedenfalls — und das behauptet ihr selbst — !i(|i)- *
S^\^ als mit sich einiges Wesen sich von sich selbst unter-
scheidet? Aber eben dieser Begriff, wenn er kein blosses Wort,
sondern ein Begriff ist, passt-nur auf das endliche Wesen, das
Glied der Reihe der Wesen ist und weist damit auf den Begriff
der Totalität, ^er i'ealen Wesen hin, welcher die Voraussetzung des
Bewusstseins iff uhserm Begriff Gottes, als des absolut unbedingten
Seins, von selbst enthält. Die Frage ist daher nuü die, ob wir un-
mittelbar vom Begriff des Bewusstseins ausgehen ,. und dasselbe
zum absoluten, voraussetzungslosen steigernd den Begriff Gottes
bil(ßft, oder ob wir, die innere nothwendige Voraussetzung des
Bevmsstseins denkend, in dieser, in dem den« Bewusstsein als solchem
g0 Ueber das Prinzip der Philosophie
vorausgesetzten Realea an sich, den Begriff Gottes finden. Unsere
ganze bisherige Entwicklung - kann uns nicht im Zweifel lassen,
auf welche Seite wir uns zu wenden haben, ohne dass wir in
eine nähere Kritik der entgegenstehenden Ansicht uns einlassen.
Gott ist das absolut unbedingte Sein, und als solches schlecht-
.i^<^l jj}u einfach. Denn im Begriffe des endlichen einfachen Wesens,
' '**' das als solches den Begriff aller andern als eben solcher in sich
': '^'/^/'^schliesst, d.h. als ganz unbedingt ganz bedingt ist durch die andern,
t*"f'/j ist der Begriff des absolut unbedingten Wesens enthalten, welches
f'**'"^"^ somit als einfaches schlechthin in sich vollendet ist. Dieser Begriflf
y' '} C ' Gottes ist so alt, als die Metaphysik ist; er ist der eigentlich meta-
t V . '.'physische Begriff. — Aber bei diesem Begriff lässt sich ja nichts
• /, ], ''"denken; nichts vorstellen! Sinnlich vorstellen, wollt ihr sagen.
\ » • ^, Denken lässt sich allerdings bei ihm, nämlich eben der Begriff des
' /'schlechthin in sich vollendeten Seins. Ihr denket doch wohl den
Begriff des Raums? was denket ihr in demselben anders, sobald
ihr nämhch über die sinnliche Vorstellung desselben hinausgehet,
als unendlich viele einfache Wesen — denn diese sind als solche
discret, — aber so, dass jedes derselben in seinem Sein das Sein
aller andern als eben solcher in sich schliesst, d. h. so, dass sie
continuirlich sind. Und findet ihr nun nicht in diesem Begriff den
..r. / Bcg'^iff ^^^ absolut unbedingten, schlechthin einfachen Seins? Frei-
.s^ /;/ ; lieh müsst ihr, um in diesen Begriff Gottes euch zu finden, gbr
, v ,v. joctiv denken; ihr müsst aufhören, alles bloss -tiuf euer Ich zu
' -' ..v.'L beziehen, ihr müsst vom Ich, vom Bewusstsein abstrahiren, ihr
'/''*^ müsst einsehen, dass dasselbe in sich selbst auf die von ihm un-
'" *• *i'' ''abhängige, ihm vorausgesetzte Totalität des Realen hinweist, diesQ
' ; Voraussetzung des Bewtisstseins müsst ihr denken und in ihr Gott
erkennen.
j*,^^ Alle eigentliche metaphysischen Beweise des Daseins Gottes
y gehen auf diesen Begriff. Der ontologische Beweis sucht nicht
'' .7 bloss die Realität einer jrgend welchen Vorstellung von Gott nach-
" zuweisen, sondeicn es besteht ganz eigentlich darin, dass er den
. Begriff Gottes als des absoluten Seins aufstellt, als welches er eben
an sich, un^hängig vom Bewusstsein ist, in welchem Begriffe
Gottes somit vom Bewusstsein als solchem abstrahirt ist. Und der
kosmologische und physicotheologische Beweis, welche! wm Be-
griff der Welt ausgehend aus demselben das Dasein Gottes zu be-
QBd die Idee dei Systems der WineDsbeslimmniigeh. gf
weisen Sachen, müssen diese nicht, wenn sie leisten sollen, was
sie wollen, vor allen Dingen die Realität der Welt beweisen, d.h.
die Welt denken, wie sie an sich ist, abstahirt vom Bewusstsein,
und der im BegriiT der an sich seienden Totalität des Realen enU'
haltene BegriiT Gottes wird dann von selbst der Begriff seiner
wahrhaften Realität sein.
Wir haben im Begriff des Endlichen den Begriff Gottes. Wir
gehen nicht so vom Endlichen ans, dass wir durch seine Negation
zum Begriff des Unendlichen gehngen, da hätten wir ja doch kein
Yerhältniss de's Endlichen als Endlichen zu Gott als Gott; Aet wir
gehen auch nicht von Gott, dem Absoluten ans, um etwa durch
die Selbstnegation des Absoluten das EndLiche entstehen zu lassen. ^
Wir müssen daran festhalten: kein Yerhältniss der Negation zwischen
dem Endlichen und Unendlichen; das Endliche sich selbst bejahend, ^
als Endliches ist Eins mit Gott dem absolut unbedingten, in sich W
vollendeten Sein und geschieden von ihm. Also keinenfalls eine )
Entwicklung des Endlichen aus dem Absoluten durch dessen Selbst-
negation, sondern ein wahres Sein des Endlichen in Gott, als
dem absoluten Sein, welches, wie von selbst klar, nicht negirt
werden, noch sich selbst negiren kann. Ueber dieses Sein des
Endlichen in Gott können wir nicht hinaus; jedes Hinausgehen über ^l^^/' /
das S^in des Endlichen als solches, d. h. jede Negation des End- - *. ' '
liehen, im Begriff des Unendlichen, so dass dann von diesem soll "^ ""^
ausgegangen und aus diesem durch seine Negation das Endliche ]7^
soll abgeleitet werden, enthält einen falschen Begriff des Verhält- ,v ^
nisses des Endlichen zum Unendlichen. ^
Im Begriff des Encilichen ist der Begriff des Unendlichen ent- y
halten. Diess liegt dem gewöhnlichen Gange, in wekhem man vom f <
Endlichen aus zu Gott kommt, offenbar zu Grunde. Der kosmo- *^'
logische Beweis, wie er sich von Wolf her datirt, geht von jedem | ,'
Endlichen als Bedingtem fort zu einem andern Endlichen, welches'^ .
ebenso wieder bedingt ist durch ein anderes Endliches u. s. f. in's ^..
Endlose; sodann springt er auf einmal .von dieser ganzen Reihe.',
als solcher, welche ihren Grund nicht in sich selbst hat, znrällig
ist, ab, denkt ein Absolutes, Unbedingtes, wekhes als Grund seiner
selbst Grund der Reihe des Endlichen, Bedingten sein soll. Es ist
aber klar, dass man nicht vom Endlichen, Bedingten abspringen
und zttfti Begriff des Unbedmgt^ übergehen könnte, wenn man
Jabrb. für »pcciitet. Philo*. I. t. ' ^
f
g2 Ueber dM Prioxip der Philetopht«
nkdit im BegriSe des Endlichen schon den Begrriff des Uflbedin|teii
hätte. Und was eigentlich in diesem Abspringen geschieht, isl
dieses: man hat den Begriff des Endlichen als eines solchen, das
in Einem ganz unbedingt nnd ganz bedingt ist, (man hat ja im
Begriffe des Endlichen sdion den des Unbedingten) und damit gehl
man über den Begriff des Endlichen hinaus zum absolut Unbe-
dingten, als Grundes der Reihe des Endlichen. So bildet unser
Begriff die leicht erkennbare Grundlage dieses Gangeä'^des kos-*
mologischen Beweises«
Der bis jetzt entwickelte B^iff der Totalität der realen Wesen,
welche in Gott sind, ist für uns im Begriff des Bewusstseins als
dessen Voraussetzung enthalten. Wir haben denselben hier bloss
zu betrachten als im Begriff des Bewusstseins eingeschlossen. Das
Bewttsstsein, sich als Einheit der Reihe der Wesen von sich selbst
als Glied der Reihe unterscheidend, ist darin sich selbst voraus--
gesetzt als ungeschiedene Einheit dieser beiden Elemente, worin
es ganz unbedingt und ganz bedingt ist durch alle anderen Wesen,
oder in seiner Selbstständigkeit ungeschieden das selbststandige Sein
aller anderen enthält; diese ungeschiedene Einheit mit sich gehört
zum Begriff des Bewusstseins; es besteht darin, so Eins mit sich
selbst zu sein und darin sich von sich selbst zu unterscheiden.
Wir bleiben also hiermit vorerst ganz innerhalb des Bewusstseins,
sofern dieses den Begriff seiner Voraussetzung in sich selbst ent-
hält. Wir in unserer Reflexion haben allerdings den Begriff des
dem Bewusstsein vorausgesetzten Realen; aber es fragt sich, ob
das Bewusstsein, so wie wir es bestimmt haben, selbst den Begriff
desselben als seine Voraussetzung habe. Erst wenn diess nach-
gewiesen ist, ist die innere Nothwendigkeit der Metaphysik, welche
auf dem Begriffe des dem Bewusstsein vorausgesetzten, des Realen
an sich als solchen beruht, dargethan. Wenn das Bewusstsein als
sich denkend, zugleich das Reale an sich als solches denkt oder
den Begriff seiner Voraussetzung hat, ist das metaphysische Denken,
der metaphysische reale Standpunkt begründet. Allein so weit sind
wir noch nicht. Das Bewusstsein, als sich von sich unterscheiden-
des^ ist einig mit sich selbst; es- tritt somit in diesem Acte der
Unterscheidung gar nicht aus seiner Einheit mit sich heraus; es ist
als Bewusstsein in dieser begriffen, als seiner Wurzel. Es hat also
diese seine Einheit mit sich, worin es ganz unbedingt und ganz
«nd die Idee dee SytteMs der Wülembcatinmui^ea gg
I»ediafl ist, in fleinem Sein nngeadneden dm S«ia «Her
Wesen tk selbstständiger enthält^ und somit aach die Totaütü der
realen Wesen noch nicht zn seinem Objecte; dazu mttaste es seihst •
heraas sein aus derselben, und nur so könnte es, sich denkend,
die Totalitat des Realen als solche als seine Yoraussetinng denken.
Es ist aber als Bewusstsein noch in dieser ungeschiedenen Einheit
mit ach selbst, in diesem Sein im Qanzen begriffen.
Das Bewusstsein, sagen wir, sich als Einheit der Reihe dar
Wesen Ton sich selbst als Glied derselben unterscheidend, isl we?*
sentlich einig mit sich selbst^ Indem es in ungeschiedener Einheit
beides ist, Einheit der Reihe und Glied der Reihe, hat diess sich
dahin bestimmt, dass es — nicht die andern in sich zusammenfasst,
ids bloss in ihm gesetzt, sondern -~ als einfaches, selbstgtändiges
Sein die anderen als d>en solche in sich enthält, d. h. als ganz
unbedingt ganz bedingt ist durch alle anderen. Es hat damit seine
Absolutheit, worin es über Alles gestellt in sich sdbst AHes, was
ist, als gesetzt begreifen will, aufgegeben und sich als selbst-
ständiges, einfaches Sein in die Reihe der realen Wesen als eben
solcher eingeordnet und dieses Sein im Ganzen sich als Bewusstsein
zinr Voraussetzung gegeben. Der Standpunkt der Absohitteit des ] * ,.
Bewusstseins, wornach Alles nur sein soll als in ihm gesetzt, und 1 "'' ^.^
das Bewusstsein in Allem, was ist, nur sich selbst als absolntea, ) '
als absoluten Geist vollziehen soU, ist damit von vorn herein ver- \
nichtet. In der Thatsache, von der wir ausgegangen, strd^te ^
das Bewusstsein, in sich das Unendlicbe, die Totalität des Wirk-*
liehen zusammenzufassen; dieses Streben konnte nur dadurch sidi
realisiren, dass das Bewusstsein sich selbst als Glied in das Ganze
der Wesen einordnete, nur so, dass es in seinem Sein als selbst-
ständiges Wesen das Sein aller anderen als eben solchar enthält.
Nur in der vollständigen Hingabe an das Ganze der Wesen kann
es sich selbst als die Einheit desselben reaUsiren. Wir mttssen die
Trennung des Bewusstseins vom Ganzen dar Wesen, in webtet
es über dasselbe sich zu stellen und Alles, was ist, nur in sich
hereinznziehen sucht als in ihm gesetzt, aufgeben und uns vdUig
einigen mit dem Ganzen.
Darin allein entspringt die Philosophie, entspringt die Uee des
Unbedingten, der Totalität der Wesen, die in Gott dem absi^
nnbedingien Sein sind. Das Bewusstsein, einem Ganzen «nu«
6*
QA Ueber das Prinzip der Philosophie
gehören, welches dwin besteht, dass jedes Glied desselben als
1 selbstständiges das Sein aller anderen als eben solcher enthält, ist
. -es überhaupt, welches in unserer Zeit mit einer neuen, wahrhaft
ursprünglichen Energie erwacht ist. Ob dieses Bewusstsein , dieses
te^K'/w^'rstarke Gefühl, mit einem Ganzen verwachsen zu sein, in ihm zu
^c,,^iÄ>^. leiben, zu denken und zu wollen, möglich ist bei jener Absolulheit
^*/«;/j^v^ desBewusstseins, welche Alles nur als im Bewusstsein gesetzt sein
'-^V'\^ lassen will, ob es möglich ist, bei einer Weltanschauung, welche
i^rjl f^^L J^^f dieser Absolutheit beruht und welche den Menschen statt ganz
^0^'^^^ in ein Ganzes hineinzustellen, vielmehr ihn nur aus demselben hin-
t*/'''/^f^ aus versetzt, und welche in den verschiedensten Formen durch
M^^''**^"^', unsere ganze Bildung sich hindurchzieht'? — Ich glaube, das Be-
'"''/ i'^^'l^wusstsein, einem Ganzen anzugehören, wenn es wahr sein, unsere
cT/^' ^nze Anschauung und Gesinnung durchdringen so]I|, muss diese
^'''^^& Absolutheit desselben aufheben; es muss sich noth wendig andere,
l dieser Absolutheit durchaus entgegengesetzte Grundlagen geben.
Und dieses neu erwachte Bewusstsein, einem Ganzen anzugehören,
hat eben die tiefe, durchgreifende Bedeutung, dass es die Rückkehr
des Geistes in seine Voraussetzung, seine Natur,, wenn auch nur
zunächst in der Form der Nationalität, ist, und dass der Geist sieh
das Bewusstsein von sich selbst neu ha*vorbringen will aus dieser
Steiner Voraussetzung.
Darin nun, dass das Bewusstsein als einfaches, selbstständiges
Wesen das^ Sein aller anderen als eben solcher enthält; dass es auf
diese Weise in Einem Einheit der Reihe der Wesen« und Glied der
Reihe (oder was dasselbe, ganz unbedingt und ^anz bedingt} ist,
darin, dass es so völlig einig mit sich selbst ist, unterscheidet es
sich als Einheit der Reihe von sich selbst als Glied der Reihe,
d. h. darin ist es Bewusstsein, weiss sich. Denn sich von sich
selbst unterscheiden heisst: sich wissen. Es wei$s sich also, sofern
es sich weis, als Einheit der Reihe der Wesen und als Glied der
Reihe. Jedes bewui$ste Wesen hat die Idee seiner selbst als ein-
zelnen Wesens, aber auch die Idee seiner Einheit mit anderen zu«
nächst gleichgearteten Wesen, und in letzter Beziehung seiner
Einheit mit allen Wesen; und jede^hat immer im Bewusstsein von
sich selbst als einzelnem Wesen, die wenn auch dunkle Idee aller
anderen Wesen, des Ganzen der Wesen, dem es angehört. Das
einzelne Wesen aber für sich ist nicht kh, als Bewusstsein; es ist
iwd die Mee de« Systems der WülensbesiiuiuiunffeD. ^
nur Ich in einer bestimmten Form des Verhältnisses snm Gänsen,
aus welchem es schlechterdings nicht heraustreten kann. Man
sieht nun aber allerdings in diesem Begriffe des Bewusstseins die
Möglichkeit jenes falschen Begriffs von ihm, nach welchem es als
absolut sich über das Ganze soll stellen können. Das bewusste
Wesen unterscheidet sich als absolute Einheit der Reihe von sich
selbst als Glied derselben; so scheint es aus der Reihe der Wesen
herauszutreten. Aber man sieht auch, dass hierbei nur ein Mo-
ment des Bewusstseins einseitig und abstract festgehalten und eben
damit selbst falsch gefasst wird.
Im Sichwissen liegt jedenfalls der Act der Unterscheidung; es
ist daher ein gedoppeltes, verschiedenes Sichwissen, in der Art,
.wie es von uns bestimmt werden.
Ein Wesen kann sidi aber nur von sich selbst unterscheiden,
sich wii^sen, sofern es mit sich ungeschieden einig ist. In dieser
ungeschiedenen. Einigkeit mit sich selbst üst es bewusstlos, bloss 1 ^
seiend, und auf die gezeigte Art Glied der realen, bloss seienden
Wesen. In diese ungeschiedene Einigkeit mit sich selbst, in dieses
sein bewusstloses, blosses Sein geht das Bewusstsein als Act der
Unterscheidung seiner von sich selbst zurück. So ist das Sich-
wissen , welches als solches im Acte der Unterscheidung Iseiner von
sich selbst sich vollzieht, noch verschlossen in diese bewusstlose,
bloss seiende Einheit mit sich.
Das menschliche Wesen ist darin auf gedoppelte Weise; es
ist ein gedoppeltes Sein. Es ist erstens ganz unbedingt und ganz Ai
bedingt, und in. beiden ungeschieden Eines, zweitens setzt es
sich schlechthin als unbedingt (oder überhaupt: es setzt sidi
schlechthin), sich als solches von sich selbst als bedingtem (als
Glied der Reihe der Wesen) unterscheidend. Es ist somit als
unbedingtes auf doppelte Weise, es ist ein doppeltes Sein. Aber
sofern es als Act der Unterscheidung seiner von sich selbst un*
mittelbar ungeschiedene Einheit mit sich ist und in sich selbst als
solche Einheit zurückgeht, ist es hiermit als solches, das sich
schlechthin als unbedingt setzt , sich von sich als bedingtem unter-
scheidend, völlig ungeschieden Eins mit sich selbst als solchem,
das die bloss seiende, bewusstlose Einheit mit sich selbst ist.
Jenes doppelte Sein ist vorhanden, aber noch als Eines, und das
Bewusstsein als solches in dem Acte, worin es sich vollzieht, hat
gig bliebet du fr'm*ip 4er PhüotopiiftB
sich noch nichi geiM^yeden von rieb ds bewusstlosem Sein. So ist
das Bewusstsein in seinen Gnmd surüdcgegangen, die bewusstlose
«eieade Einheit mit sich, und ist als Bewusstsein in demselb^
**'• vorhanden, aber noch als verschloänsen in denselben. Dies ist die
6nie7 urspröngliche Existenz des Bewusstseins; es ist der Keim,
r «aus diem es sich erst zran wirklichen Bewusstsein zu entwickeln
^- liat. So haben wir durch die Bestimmung der Thatsache, von der
war aiisgeg«ngra sind, das Bewusstsein seU>st in seinen Grund
aurückgernhrt and habra den Be^^ff seiner ursprünglichen Existenz
erreicht.
Das Bewusstsein als bloss seiende Ehdieit mit sich ist Glied
der Reihe der Wesen, enthält als dnfadies, selbststündiges Sein
das Sein aller anderen Wesen ab eben solcher in sich; e^ ist so
in mid mit dem Ganzen der Wesen in Gott« fis ist nui^in Gott
als so Uos seiendes Wesen uad als Glied der Totdität dier realen
Wesen« D^n nur daraus, dass em Wesen ganz uubedingt und
iganz bedingt ist, kann sein wahres Sein in Gott begriffen wferden,
Dunit haben wir denn aber auch ein wafaihaftes, reales Sein
des Bewusstseins in Gott, widches von ihm als. Bewusstsein un^
aUiängig und selbst die Möglichkeit des Bewusstseins ist. Ate
diese ungeschiedene Einheit mit sich selbst und mit dem Ganzen
der Wesen, welche ^^ reales Sein in Gott ist, ist es nun zugleich
der Act der Unterscheidung seiner von skh selbst, der Act des
;Sichmssens, es k(t ungeschieden j^e Einheit mit sidi, weldie sein
Sein in Gott ist, und der Act der Unlersdieidung seiner von sich
willst. Beides durchdringt einander so zu sagen völlig. Das be-»-
wusstiose Sein des Menschen ist sds sol<^s ganz als bewusstes
und umgekehrt. Als ächwissend ist es in Gott uud ais seiend in
I 4jSott weiss es sich. Diese ungeschiedene Identität des bewussten
und bewusstlosen Seins, worin doch jedes gmz ist, eiklärt daher
das Sichwissen des Menschen in Gott, welches zugleich ein reales
Sein des Menschen in Gott ist, das und)hängig vom Bewusstsein
selbst dessm Möglichkeä und Voraussetzung ist.
Das Bewusstsein ist als gedoppeltes Sein völlig Eins mit sich
selbst; es ist als sich von sich unterscheidend Eins mit sich als
solchem, das in der völligen ungeschiedenen Einheit dar
fitemente im Ganzen der Wesen ist und das Ganze in sidh
enthälL Es ist <darin in Gott, dem absolut unkedingten Sem^
und die Idee des Bfa^ma der WiUensbestimmun^en. 'g7
und weiss sich in diesem Sein in <3olt Ms fiewusstsein ist auf /' |
ifiese Weise — das Eine. Dieser Begfriff des Einen isl das
Prinzip dar Philosophie , denn es ist in ihm das Bewusstsein, de^ • /'
fieist als solcher als Eins gesetzt mit sich als GKed der Totalität
<des Realen, worin esm dieser Totalität ist und sie in sidi enthält,
in und mit dieser Totalität realäier in Gott ist «ad unfesobieden
dieses Sein m Gott als sein Siehwäsen hat. Wir deiAen also in
4liesem Begriffe die :ganze, YoHe WirUidikeit als Eine, in der
Einheit Sines Begriffisr, und haben in dieser Einheit Eines Begriffs
den bestinrnitenfiegrüBT des Geiles und seines Verhtitnisses ni sich
■selbst «Is Glifid ides Ganxen und darin zun Ganzen, den BegriS
des Veitiiltnisads des <Sanzen zu Gotl^ und damit zugleich den Be-
griff des Verhältnisses des Geistes zu Gott. Wir laben^ eine ganze
Weltansdiauung in der Eiaheil Eines Begriffes, im Begriff des
Einen. ^ Dteser Begriff i£(t d^ am Anfanjg ^gdbrderte Begriff des
•X;bd)6dingten; denn wir denken in ihm das Bewusstsetn, wie es in
jkh salbst im Ganzen ii^, und das 6ai»e in ihm, iMtd wie das
Ganze in Golt dem absolut unbef£ngten Sein ist. Nidit das wai' \
die Mdnung bei jener Forderung, dass wb vom Absoluten als
solchem ausgehen soB^, «m von ihm aus das Endliche abzuleiten,
sondern dass wir die Totalität des Endlichen als seiend in Gott be-
greifen soQen. Dieser Begriff ist Prinzip der Philosophie. Nicht
das Absohlte als solches ist ihr Aiisgangspuidit, sondern der Be- '
griff, weldier in einer Einheit mit Einem Sdilage den Begriff des
Endlichen, d. h. den Begriff des Bewusstsdns und in ihm den Be-
griff der Welt und in diesem Begriff des Endlichen den Begriff
Gottes enthalt. Dies macht der oben auseinandergesetzte Begriff
des Verhältnisses des Endlichen zu Gott durchaus nothwendig. Das
Eine, das wir an die Spitze stellen., ist nicht das abstracto Eine^
sondern das in sieh erfüllte, das volle Eine, in welchem in Einem ;
der B^riff des Bewusstseins und der Begriff der Totalität des
Bealen als seiend in Gott gedacht wird. Dieses Prinzip haben
wir vom Begriff des Bewusstseins aus gefunden; es ist ursprüng-
lich in diesem 'und nur in diesem gesetzt. W«nn wir das Eine,
ganze, volle Wirkliche in Einem Begriffe fassen woUen, so ist vor
allen, Dingen nothwendig, die Trennung des Bewusstsein^ von
demselben aufzuheben und dieses zur ungeschiedenen Einheit mit
sich selbst als Glied des Ganzen, worin es im Ganzen ist, und
gg lieber da» PrioBip der Philosophie
^ f , y dfts Ganze in ihm, und so in Gott ist, zurUckzufilhren. Schon
,^,^ Y daraus folgt die Noth wendigkeit, die innere Identität desBewusst*-
H ' ^ pc \ ^®^"^ ™** ^^^^ ®'^ bewusstlosem Sein zu begreifen; dieser — viel-
'JKC^,il^ leicht schwierig scheinende — Begriff wird aber später in der
/^. C^ ' Erörterung der Idee des Systems der Willensbestimmungen in sei-
:C4^'^. ner vollen Bedeutung hervortreten.
Das Prinzip der Philosophie kann niefit das abstracte,
das leere Sein sein; denn aus diesem kann nichts ent«
wickelt werden, d. h. es ist kein Prinzip. Im Prinzip
der Philosophie muss Alles schon dem Keime nach, d. h.
noch ungeschieden, enthalten sein, um mnm ihm ent-
wickelt zu werden. Das Prinzip der Philosophie muss
ein bestimmter, inhaltsvoller Begriff sein, weil ans
diesem allein weitere Begriffe folgen können, nicht
oine leereAbstraction, aus welcher nichts folgen kann.
Fichte und Hegel, indem sie das Prinzip der Philosophie auf-
suchen, gehen' ebenfalls vom Bewusstsein aus. Das Bewusstsein,
sofern es sich selbst denkt, ist Prinzip der Philosophie. Aber bei
ihnen^ist dieser Act eine blosse, leere, in sich inhaltslose Ab-
straction; er wird von ihnen nicht in ihm selbst bestimmt und
damit in ihm aller Inhalt erkannt.*}
Das Ich setzt sich schlechthin: das ist der absolute Grundsatz,
von welchem Fichte ausgeht, der Act, in wechem das Ich sich
selbst denkt und in welchem es nur als Ich ist. Dieses Sichseibst-
denken des Ich ist aber bei Fichte nichts anderes, als die blosse
leereAbstraction von allem Gegebenen, Bestimmten, es ist in sich
inhaltslos. Nur als das Negative wird dieser Act gedacht, als die
Negation alles Anderen, alles bestimmten Wirklichen; nicht auf den
positiven Inhalt, der in jenem Sichselbstdenken liegt, wird reflec-
tirt. Im zweiten Grundsatz: das Ich setzt sich schlechthin entgegen
ein Nichtich, kommt dieser eigentliche Inhalt des ersten Grundsatzes
zu Tage; das Ich, sich schlechthin setzend, ist darin die Negation
alles Anderen ausser ihm; als diese blosse Negation, d.' h. als die
blosse leere Abstraction, wird das Ich im zweiten Grundsatze ge-
setzt. In diesem zweiten Grundsätze sucht Fichte zwar die ab •
solute Abstraction, mit der er anfangt, in sich selbst zu bestimmen;
*) Ycrgl. System der Willcnsbestirainungcn S. 44 flf.
nnd die Idee de« Systems der Wiltenibestimiiiiiiigen. g9
aber sie schliesst darin vielmehr aUen bestimmten Inhalt von sich
ans. So soll, denn auch im dritten Grandsatz das Prinzip als
in sich bestimmt erscheinen, und dass Fichte drei Grundsätze auf-
stellt, hat eben die Bedeutung , dass er ein in sich selbst bestimm-
tes Prinzip, aus welchem von selbst Weiteres folgt, aufzustellen
Bucht. AlIeiA die im ersten Grundsatze enthaltene absolute Ab-
straction macht diese innere Bestimmtheit des Prinzips unmöglich.
Das Ich setzt sich schlechthin und setzt sich- schlechthin entgegen
«in Nichtich, diess soll vereinigt werden. Diess ist nach Fichte
nur so möglich, dass das Ich sich schlechthin setzend, worin es
selbst alle Realität zu sein behauptet, darin zugleich sich setzt als
beschränkt durch ein Nichtich. Allein dieser dritte Grundsatz, in
welchem die absolute Abstraction, mit der er anftlngt, in ihr
selbst bestimmt zu sein scheint, besagt doch nichts anderes, als:
das Ich ,'^ das die absolute Abstraction, die Negation aller Realität
ausser ihm ist, reflectirt zugleich auf das, wovon es abstrahirt hat,
und erkennt dasselbe als ausser ihm seiend an. Und es ist damit
nur zugestanden., dass das Ich als sich selbst denkendes nicht in
sich selbst bestimmt ist, dass es nicht in sich selbst den Begriff
des Wirklichen enthält, dass also nicht aus diesem Acte der Begriff
ides Wirklichen folgt, dass er nicht Prinzip ist. Der Fichte'sche
Idealismus, nach welchem Alles nur im Ich gesetzt sein soll, beruht
daher auf der absoluten Abstraction, von welcher er ausgeht; ver-
möge dieser Abstraction soll Alles im Ich gesetzt sein; es bleibt
aber ewig ausser ihm; nicht die volle Realität gibt uns dieser
Idealismus, sondern nur die leere Hülse der absoluten Abstraction.
Wenn wir dagegen den Begriff des Bewusstseins im Acte des
Sichselbstdenkens in ihm selbst bestimmen, ist damit, wie die Dar-
stellung unseres Prinzips zeigt, der Idealismus in seinQr Wurzel ^
selbst, im Ich, entschieden aufgehoben; denn so zeigt sich, dass
das Bewusstsein in seinem Begriff den Begriff seiner von ihm -un-
abhängigen Voraussetzung, der Totalität des Realen, enthält.
Der HegeUsche Anfang der Philosophie ist ausgesprochener-
massen' nicl^its als die absolute Abstraction, das ganz leere und
unbestimmte Sein. Diese absolute Abstraction ist bei Hegel der
Sache nach ganz wie bei Fichte darin enthalten, dass das Be-
wusstsein sich selbst denkt. Der Entschluss, rein denken zu wol-
len, ist der Anfang der Philosophie. O^gl. Ertcycl, 3. Ausg. S. 78.)
^ Ueber das Priiuip der PbiloMphie
Das rdne Denken ist da&j^ige, wdcäies aus allen Empfifidungea
und sinnlichen Vofstellungen kenms iät; diese AJbstraeiion ist n«n
iber ^en dfts leb , a\s. reine Bezieteng «äf sieb säbsl;. {Vgl. £nc.
S. 39 und im^esondere Logik von Werder [Berlin 1841] S. 15
«rs. f.} Darin eiso^ dass das Bewusstsein ssdh seH>sl denkt, haben
wir das reine Denkeoa. Abe^ dieses Sichsettistdeiiken ist nur die
sdbsdi^ Ahstiraclion. / Es wird nicht in ifafti selbst l)estimmt, son-
dern nur das Negative darin, dass in ihm nicht ein Objectives,
Bestimmtes, Gegebenes gedacht wird, wird festgehalten, und so
ist das reine Abstraetnm, das Sein überhaupt der Anfang der Phi-
losophie. Indem Hegel auf diese Weise das Uoss Abstracte sum
Prinz^e madht, wird denn auch das eiigeittliehe Motiv der abso-
luten Abstradtton, der Act des Bewusstseins, sich zu denken, der
bei Fichte noch festgehalten wird, zurückgeslelk. „D<as, womit der
Anfang zu machen ist, kann nidki ein Coneretes, nicU; ein solches
sein, das eine Beziehung innerhalb sdner selbst «enthält. Denn
ein solches setzt ein Vermitteln und Herübergehen von einetn
iErsten zu eiiiem Anderen innerhalb seiner voraus," wovon das
etnfadi gewordene Concreto das Resultat wäre. Aber der Anfang
5oll nicht selbst sdion mt Erstes und ein Anderes sein; ein sol-
ches, das ein Erstes und ein Anderes in sich ist, enthält jbeceits
ein Foitgegangensein. Was den Anfang-macbt, der Anfang selbst,
ist daher als ein Nichtanalysirbares in seiner unerTüllten Unmittei-
l)arkeit, also als Sein, als das ganz Leere zu nehmen.^ C^S^^'»
Werke 3. B. S. 70.) Hier wird offenbar jenes subjective Motiv
des Anfangs, die absolute Abstraction im Sichdeniten, ganz faüen
gelassen. Es wird ganz nur vom Begriff des Anfangs ausgegangen,
der als solcher nicht schon ein Erstes und ein Anderes enthalten
könne. Wir wollen absdien von der hierbei sich ganz von
seB)st aufdringenden Frage, worin denn' die Nothwendigkeit des
Anfangs selbst als Anfang liege, worauf hier gar keine Rimksidit
genommen wird. Aber — und darauf legen wir hier allen Nach-
druck — warum soll denn ^in concreter, inhdtsvoUer Begriff, ein
Fortgegangensein von einem Ersten zu einem Anderen enthalten?
Allerdings ist eine solche Meinung da nothwendig, wo sdion
vorneherein die dialectische Methode angenommen ist, nach wel-
cher ein Begriff nur durch seine Negation sich zu einem anderen
Begriffe soll fortentwickeln können. Da gebt man fort von einem
luid die Idee de« fljritoa« der WHlwuhwIieimiMgen« 9|
&slen au einmn Andern, nämlich durch die Ifafction des Ersten.
Aber wie nun? wenn das Erste^gar nicht gedacfal werden könnte,
ohne anf ganz positiye Weise, ohne alle Negation seiner selbst
ein Andres in sich zu enthalten? da müssten wir dfenbar das
Andre von vorn herein hinzunehmen zum Ersten, und das Erste
als soldies wäre ein Concretes. Der HegeTsche Anfang mit
dem Sein, als dem ganz Leeren und Unbestimmten, weil
nur dieses das Erste sein könne, beruht auf der schon
vorausgesetzten dialektischen Methode, welche das Ver«
hältniss unterschiedner Begriffe durch, die Negation bestimmt und
nichts von einer durchaus positiven Idealnet derselben weis. Dass
diese dialektische Methode der Hintergedanke dieses Anfangs ist,
diess tritt denn auch sogleich im weiteren hervor.
Das Sein ist Nichts, wird gesagt, depn ^s ist die reine Ab*
stradion, das Absolut-Negative (Encyd. 8. Ausg. P. 87). Ich habe
längst geze^t, dass diess eine blosse leere Tautologie ist (et An-
fang der Philosophie S.34. System der Willensbestimmungen, S. 56
U) f.) Und kann diess deutlicher gesagt werden, als von Hegel
selbst (Werke SB. S.Ol): „der Unterschied von Sein und Nichts
ist völlig leer, jedes der beiden ist auf gleiche Weise das Unbe*
stimmte.^ Es ist daher auch natürlich, dass Nichts = Sein ist. Wir
haben also nur die leere, inhaltslose Absiraction, nicht einen be-
stimmten Begriff. Prinzip kann diese leere Abstaction nicht sein,
denn aus ihr folgt nichts; das Unbestimmte als solches ist das
Gegentheil des Prinzips, von einer solchen leeren Abstradion aus
ist nur dadurch ein Fortschritt mögUch, dass dasjenige, wovon
abstrahirt worden ist, wieder aufgenommen wnrd; und die Be-
stimnmng dieses Gegebenen, des Wirklichen folgt nicht aus dem
Anfang und dieser ist kein Prinzip. Das Gegebene wird als sol-
-ches ganz prinziplos wieder aufgenommen, und so wie es gegeben
ist, bestimmt; ohne dass wir einen higheren durch sich selbst gUU -
tigen Begriff haben, aus welchem seine Bestimmung folgt. Die
absolute Afastractioii an die Spitze zu steUen, ist die Prinziplosig-
fceit selbst.
Wir haben nur die Tautologie: Seines Nichts, und Nichts =Sein.
In dieser Gleichheit des Seins und Nichts ist sicher nichts vom
Werden enthalten. Bas Werden wird dieser Gieicfaheit unter-
schoben. Das Uebergehen des Seins in's Nichtsein, des Nicht-
M V Ui^er das Prinsip der Philosophie
Seins in's Sein wird an die Stelle der blossen Gleichbeit des Seins
und Nichts durch eine ziemlich handgreifliche Erschleichung gesetzt-
So ist in der That das Werden als solches d^r erste Begrifl", der
Grundbegriff der HegeFschen Philosophie; daher denn die HegeFsche
Dialektik, welche alles in den Fluss des absoluten Werdens kom-
men littt und jeden Begriff nur in seiner Selbstnegation (v^*
mittelst seines inneren Widerspruchs} zu einem andern übergehen
lässt. Daher ist das Absolute selbst eben das absolute Werden,
der Wechsel des Entstehens und Vergehens des Endlichen, in
welchem selbst nichts Festes wahrhaft Bleibendes und Seiendes ist.
(Eine scharfsinnige, treffende Kritik des absoluten Werdens hat
uns Hartenstein gegeben, Metaphysik S. 95 u. f.) Dass nun das
absolute Werden Prinzip sei, ist in sich unmöglich; wo lässt sich
denn in demselben — und diess ist ja selbst die Forderung Hegels
für den Anfang — ein Erstes iixiren? Ein Erstes, d. h. ein
schlechthin Durchsichseiendes, das als solches bleibt und keinem
Wechsel des Werdens in der Veränderung unterthan ist, ist damit
geradezu ausgeschlossen. Allein Hegel beschreibt in der That auch
nur das Werden oder, was dasselbe, die Zefl;, wie sie die Vor-
stellung gibt. Es ist Uebergehen des Seins in Nichts, des Nichts
in Sein. Gut, aber wie viele Fragen bleiben bei einer solchen
blossen Beschreibung unaufgeworfen und unbeantwortet, welche
einem genaueren Denken sich von selbst aufdringen? Hegel hat .
daher auch darum gar kein Prinzip, weil sein Prini^ip durchaus
nur die bloss gegebene Vorstellung der Zeit ist, welche selbst
eines Prinzips zur Erklärung bedarf. Das absolute Werden,
welches als Solches zum Prinzip gemacht wird, steht haltungslos da,
weil es, seiner Natur, nach überhaupt ein schlechthin Beharrliches
und Bleibendes voraussetze/id, selbst nach einem Prinzipe sucht, auf
>irelches es sich stützen könnte. Und gerade dieses absolute Wer-
den und die auf flim beruhende Dialektik ,'J^elcher de^C Begriff^
sich selbst negirenisich fortwährend wiedeiäeugt und so in einer
Reihe von Momenten sich realisirt, ist es, wodurch dieses System
eine so grosse Anziehung ausgeübt hat. Denn in der wirklichen
Erkenntniss der Gegenstände konnte diese Anziehungskraft nicht
liegen.
Unser Prinzip hat seine EigenthümUchkeii unter Andrem darin,
dass es das Gegentheil des absoluten Werdens ist. Daher kein
und die Idee des Systems der Wülensbesliiiiniungeo. 93
Verhättniss der Negation zwischen dem Endlichen und Unendlichen,
ein wahres Sein des Endlichen, der Welt in Gott; daher das
Sein des einzelnen endlichen Wesens im Sein der andern, ohnS
alle Negation, daher das Sein des Bewusstseins in dieser Reihe,
die Selbstbejahnng desselben als solchen, das Glied dieser Reihe
ist. Daher denn alles diess in der Einheit seines Begriflb, des
BegriiTs des Einen, welcher gerade darum so bezeichnend ist, weil
durch diesen Ausdruck ein Varhttltniss der Negation zwischen den
einzelnen in ihm enthaltenen Begriffen unmittelbar abgewiesen ist«
Wir begreifen sehr wohl, dass im ersten Begriff der Philosophie
ein so grosser Reichthum enthalten sein kann, weil wir begreifen,
dass zwischen den einzelnen Begriffen durchaus das VerhUtniss
der Bejahung stattfindet. In dem durch die Bestimmung unserer
Thatsache gewonnenen Begriff des Bewusstseins, das sich als Ein-
heit der Reihe der Wesen von sich selbst als Glied der Reihe
unterscheidet, war unmittelbar auf ganz positive Weise der Begriff
der Totalität der einfachen, selbstständigen Wesen, deren jedes
selbst in seinem Sein auf ganz positive Weise des Seins aller
andern Wesen 'als eben solcher in sich schliesst, enthalten, und
in diesem ebenso auf ganz positive Weise der Begriff Gottes. Wir
wissen nichts davon, dass das Bewusstsein sich als solches auf-
hebt, indem es bewusstlose, bloss seiende Einheit mit sich ist,
dass das endliche Wesen als selbstständiges sich aufhebt, indem
es ein Anderes^ ist, dass das Endliche sich aufhebt im Begriff
des Unendlichen. Die Dialektik ist nicht unsere Voraussezung. -*
Und dainit, denke ich, haben wir ein wirkliches Prinzip, einen
ersten Begriff, der in sich selbst fruchtbar und entwicklungsrähig
ist, der Jedem von vorn herein zeigt, was er von uns zu erwarten
hat, weil er in sich selbst eine bestimmte Weltanschauung ausdrückt.
Wer wird so scharfsinnig sein, aus dem leeren, abstracten Sein
heraus sich Vemuthungen bilden zu können über die philosophischen
Begriffe, die mjenigeA aufstellen werdeij, der mit diesem Nichts-
denken — dieser „absoluten ** Pause des Denkens — zu philo-
sophieren anfängt? Erst wenn das absolute Werden hervorgetreten
ist, wird man wissen, woran man ist.
Einzig darum muss es dem Prinzip der Philosophie zu thun
sein, dass es nicht der absoluten Abstraction verfalle. Ich habe
94 Ueber das Prinzip der Philofophit
diese Aufgabe , die im Prinsip der Philosophie liegiy sebon aelir
bestimmt ausgesprodien in meinem „Anfanfj^ der Pbilosopbie^ (Stutt-
gart 1840). Die Yoraussetzungslosigkeit, sage ich (S. 2},. muss,
indem sie alle Voraussetzung aufhebt, zugleich alle Bealilät setzen,
so wenigstens, dass der Anfang es schon in sich selbst enthält^
dass alle Realität aus ihr hervorgehen wird. Und nicht die Ab-
straction vom Gegebenen als solche, wie mir Ulrici Oit^Teinem
Grundprinzip der Philosophie} Torwirft, habe ich zum Prinzip ge-
macht, sondern so, dass ich in derselben (sie hiermit als blosse Ab-
straction aufhebend}, als der Re^exion des Bewusstsdns auf sich
selbst, einen bestimmten Inhalt nachsuwdsen suchte; und dieser
bestimmte Inhalt ist mir Prinzip.
Wir müssen die absolute Abstrac^ion, d. h. die Lostrennung
^ des Bewusstsdns vom Weltlichen, worin dasselbe aus dem Ganzen
sich herausversetzend sich über dasselbe stellt und zunv Absoluten
erhebt, mifgeben; wir müssen uns in's Ganze, in's Wirkliche
ganz hineinversetzen und dasselbe in uns; d. h. wir müssra das
Bewusstsein auf seinen Grund, auf seine. Voraussetzung, worin es^
so im Ganzen ist und das Ganze in ihm, zurückfuhren; wenn wir
in unserem Wissen und Erkenneu das Wirkliche greifen wollen,
wenn unsere Philosophie wirklich ein Prinzip haben soll, welches
das un^rüngliche YerhälUHias des Bewusstseins zum Ganzen und
der einzelnen Wesen zu einander und m Gott ausdrückt Die
absolute Abstraction ist nur ein beständiges Schwanken zwischen
ihr selbst, in welcher nichts gedacht, nichts erkannt wird, und der
Reflexion auf das, wovon abstrabirt worden, welches eben darum
nur als gegeben aufgenommen und besdirieben wird, ohne aiuf ein
Prinzip zurückgeführt zu werden. Das Bewusstsein als sieh
denkend, (womit die Philosophie immer sich eröffnet,} darf
nicht heraustreten aus der Totalität des Wirklichen,
sondern muss sich in diesem Acte in diese Totalität
selbst ganz hineinversetzen; dann wird die &kenntniS;s des
Wirklichen als solchen möglich sein. Vergl. Anfang der Philos.
Vorr. S. VIIL. u. f. $. 46. 48. S. 22». 280.
Wir gehen nun zum zweiten Theil unserer Aufgabe, zur Er*
örterung der Idee des Systems der Willensbestimmungen.
Fürs Erste enthält das aufgestellte Prinzip in sich die Idee
einer besonderen Wissenschaft, der Wissenschaft des Bewusstseins.
und die^ I«ke des Syatem« der WiNettsb^ttioimmigeD. ^5
De«n e» ist donil der Begriff deis Bewim^eins bestfnniit, wie es
van ihm selbst m seinen Gmnd, sein Sein im Ganzen, welches
sm Sein in Gott ist,, zurückgeht und darin ursprünglich sidi ak
BewusGBtsein^ i^bs Unters<^ddang' seiner von sich selbst, ToUrieht.
Indem das Bewasstsein anC diese Weise in sekiem Begriffe den
Begriff seiner Y0ranssetznng« enthält, so ist es ein in sidi yoII-
ständiger Begriff; es ist möglich und n^wendig, es für sich selbst
2« betrachten; es^ ist fähig, Gegenstand einer besonderen Wissen-
schaft zu sein. Das Bewusstsein in seiner firsprüngHchen Existenz
im Eänen ist aber msr Bewusstsein der MögUchkeÜ nach; denn
als Bewusstsein *- als Unteradieidung seiner von sich selbst — ist
es noch mgesdiied^i Eins mit sich als bewusstloser Einheit. Es
lässt sich daher zum Voraus denken, dass es sich aus diesem bloss
potentiellen Zustande zur Wirklichkeit entwickeln werde. Und die
Darstellung dieser Entwicklung wird die Aufgabe der Wissensek^
des Bewusstseins sein.
Zweitens aber — und hiermit treten wir diesem Begriff selbst
näher — ist das Bewusstsein, so wie wir es bestimmt haben, sei«
nem ganzen Wesen nach Wille. Die Wissenschaft des Bewusstseins
ist System der Willensbestimmungen.
Das menschliche Wesen ist in Einem ganz unbedingt und ganz
bedingt durch alle anderen, also beides ungeschieden; in dem
selbstständigen Sein desselben ist unmittdbar das selfostständige
Sein aller änderet mitgesetzt, und umgekehrt: sein Sein ist im
Sein aHer anderen mitgesetzt. Es ist durdi sich als unbedingtes)
aber es ist unmittelbar darin durch alle anderen , weil es darin
zugleich ganz bedingt ist. Es ist daher nicht frei, nicht durch
sich, was es ist; sondern es ist auf nothwendige Weise. Aber
indem es so ganz unbedingt und ganz bedingt ist, und damit auf
noihwendige Weise ist, unterscheidet es sich als unbedingt von
sich selbst als bedingt, d. h. offenbar^ es setzt sich als unbedingt
und setzt sich als bedingt. Es hat also in diesem Acte als Be-
wusstsein sein nothwendiges, unmittelbares Sein als seine freie
That; es ist so, indem es so sein will, sein Sein als seinen Willen
hat; imd das Bewusstsein besteht als solches darin, dass das
menschliche Wesen, was es ist, sein Sein ganz in seinem Wollen j
gaiiz als seine That hat, so wie umgekehrt dieses Wollen nur im
Acte des Bewusstseins möglich ist
0ß lieber das ^rinitp der Philosophie
Man sieht wohl hieraus schon leicht, dass das Wdlen, von
welchem hier die Rede ist, ein anderes höheres Wollen ist, als
was man Begehren nennt. Doch um diesen Unterschied zu er-
örtern, müssen wir vorerst unsern BegrifT des Wollens näher be-
stimmen. — Das Bewusstsein, sagten. wir oben, sei vermöge sei-
nes Begriffs ein in sich selbst gedoppeltes Sein; denn es ist erstens
ganz unbedingt und ganz bedingt, beides ungeschieden; es ist ein
unbedingtes Sein, das als solches ungeschieden das Sein aller an-
deren Wesen als eben solcher enthält; zweitens ist es ein unbedingtes
Sein, das sich als schlechthin unbedingt setzt, sich von sich als
bedingtem unterscheidend; es ist beides in Einem, ohne dass das
eine vom andern negirt wird, so dass es als sich von sich unter-
scheidend sich selbst bejaht als ungeschiedene Einheit mit sich,
also wahrhaft ein gedoppeltes Sein ist und darin mit sich selbst
identisch. — Dieser Begriff des Bewusstseins ist für die Erkenntniss
des Willens von entscheidender Wichtigkeit.
Das Bewusstsein ist eben vermöge dieses seines Begriffs Wille.
Wir haben also damit zugleich die Momente des Willens. So ge-
wiss das menschliche Wesen in unserm Begriffe des Bewusstseins
als sich von sich selbst unterscheidend Eins mit sich ist als solchem,
das in. ungeschiedener Einheit mit sich selbst, so gewiss ist« das
Wollen, indem es als solches ist, seinem Begriffe nach Eins mit
dem nothwendigen Sein des Menschen als solchem. Der Wille
ist als freier und als nothwendiger, er ist wesentlich als diese Dua-
lität; aber der freie Wille ist zugleich völlig Eins mit sich als
nothwendi^em. Der freie Wille, der in sich selbst Eins ist mit
sich als nothwendigem, der in sich selbst als freier sein Gesetz
hat, ist der göttliche Wille.
Sofern jedoch der Wille als freier sich noch nicht gesondert
hat von sich als nothwendigem, ist der freie Wille der blossen
Möglichkeit nach, und der Anfangspunkt der Entwicklung des Wil-
lens, als deren Resultat erst der Wille in seiner Wirklichkeit her-
vortritt. Der au^estellte Begriff, die erste Existenz des Willens
ist der Begriff der Unschuld. Unschuld ist eine Bestimmung des
Willens. Wir schreiben sie im eigentlichen Sinne nicht den blos-
sen Naturwesen zu, die keinen Willen haben im bisher bestimmten
Sinne. Sie ist kein bloss bewusstloses Wollen, das als solches
auf bloss nothwendige Weise dem Gesetze des Ganzen, dem allge-
und die Idee des Systems der Willensbertimmiingeii. 97
meinen Naturgesetze folgt (indem es sich selbst erhält nur in und
mit der Selbsterhaltung aller anderen Wesen). Sie ist vielmehr
schon ein bewusstes, freies Wollen, das aber, indem es als sol-
ches ist, ebenso noch ganz bewusstlos ist und auf bloss noth wen-
dige Weise dem allgemeinen Naturgesetze folgt. Unschuld ist das
nothwendige Wollen, das aber zugleich als freies ist; beides ist
vorhanden, aber ungeschieden. So ist die Unschuld der erst noch
mögliche Wille, die ursprüngliche Existenz desselben. Dieser
bloss mögliche Wille wird sich nun aber selbst seine Wirklichkeit
geben. Er wird sich als freier von sich selbst als nothwendigem
sondern. Diese Sonderung ist möglich und nothwendig vermöge
der ursprünglichen Dualität im Wesen des Willens, sofern er ur-
sprünglich freier und nothwendiger Wille ist, obwohl beides un-
geschieden. Man sieht wohl leicht, dass hierin die Möglichkeit
und Noth wendigkeit des Bösen liegt, es ist der nothwendige Act
der Sonderung des freien Willens von sich selbst als nothwen-
digem' und damit das Zurückstreben des ersteren gegen sich als
letzterem. Das Böse ist daher immer die erste Wirklichkeil
des Willens als solchen, oder was dasselbe, auch die erste Wirk-
lichkeit des Bewusstseins als solchen. Hat nun aber das Bevvussl-
sein sich als Bewusstsein von sich selbst als bewusstloser Einheit
mit sich gesondert, so vnrd es auch dahin gelangen, als Be-
wusstsein in sich is^lbst seine Einheit mit sich zu haben, Ich zu
sein und als Einheit mit sich nicht mehr bloss im bewusstlosen
Sem begriffen zu sein. Der Wille, der als freier sich von sich
selbst als nothwendigem Willen gesondert hat, wird alß freier sich
selbst sein Gesetz (die nothwendige Form des Wollens) geben.
Aber Bewusstsein und Wille können sich damit doch nicht von
ihrer ursprünglichen Voraussetzung losreissen. Der freie Wille
hat sich selbs* als nothwendigen zu seiner, von ihm als freiem
unabhängigen Voraussetzung, und ohne dass diess aufgehoben wird, '
ist er in sich selbst als freier zugleich der nothwendige Wille, er
gibt sich selbst als freier sein Gesetz. Und die innere Vollendung
des Willens (oder des Bewusstseins) wird daher darin bestehen,
dass^ der Wille in Einem als freier sich selbst sein Gesetz gibt, und
zugleidi dieses Gesetz als von ihm, als freiem, unabhängigen, als
seine Voraussetzung weiss. Das System der Willensbestimmungen
stellt die Entwicklung des Willens von seiner ursprünglichen Mög-
Jthrb. fQr speculat. Philos. I. 1. >J
^ Udber das Prinsip der Phiiosoplii«
lichkeit (im Einen) zu dieser seiner Wirklichkeit dar. Auf diese
Entwicklung, in welcher die wesentlichen Formen des Willens
entstehen (vgl. System der Willensbestimmungen oder die Grand-
wissenschaft der Philosophie. Tübingen 1842} gehe ich nun hier
nicht ein; sondern erörtere bloss die mit diesem Begriff des Wil*
lens gegebene Idee des Systems der Willensbestimmungen.
Der Wille, der in diesem System dargestellt wird, unter-
scheidet sich durchaus vom Begehren.
Das Begehren ist eine psychologische Funktion. Der Mensch,
wie er in der Psychologie betrachtet wird, bildet sich aus öfter
wiederkehrenden Vorstellungen ein Bewusstsein seiner Totalität
mit sich selbst, welches an Riesen wiederkehrenden Vorstellungen
seinen bestimmten, ihm einverleibten Inhalt hat. So entsteht das
psychologische empirische Selbstbewusstsein, welches seinem Inhalt
nach durchaus abhangig ist von den Gegenständen, deren Vor-
stellungen sich aus den Empfindungen entwickeln. So hat das
Selbstbewusstsein an diesen gewohnten Vorstellungen seinen be-
stimmten Inhalt. Sofern nun dieses so in sich bestimmte Selbst-
bewusstsein zugleich sich innerhalb einer bestimmten neu hin-
zukommenden Vorstellung eines Gegenstandes vollzieht, so ist
dasselbe zugleich gefesselt an diese bestimmte Vorstellung und zu-
gleich hinaus über sie, sofern es in sich die ganze Summe seiner
ihm einverleibten Vorstellungen zusammenfasst, und es muss sich
damit in der ersteren als beschränkt und gehemmt fühlen. Es
wird dieser Hemmung entgegenstreben und darin das Begehren
entstehen, welches ein Streben ist, die Vorstellung des Gegen-
stands mit dem Selbstbewusstsein zu vereinigen, oder dieselbe von
sich wegzustossen.*)
So hat das Begehren durchaus seinen Ursprung im Verhältniss
der Seele zu Gegenständen. Das Begehren richtet sich immer auf
einen vorgestellten Gegenstand. In dem Wollen aber, welches
Gegenstand des Systems der Willensbestimmungen ist, richtet sich
das bewusste Wesen ganz auf sich selbst, worin es sich «tis
allen Empfindungen, Vorstellungen von Gegenständen herausver-
setzt hat. Es geht auf das reine Wesen des Menschen, worin er
völlig, einig mit sich selbst und mit dem Ganzen und so in Gott
**) Vergl. Anfang der Philog. P. 60.
und die Idee des Systems der Wittensbeftmunuiifea. gg
ist; dieses reine Wesen des Menschen ist es, das allein That,
Wille ist. So ist das Wollen, von dem hier die Rede ist, das
höhere sittliche Wollen. Der Begriff des sittlichen Wollens
ist nur da möglich, wo das Bewusstsein als sich den-
kendes von ihm selbst bestimmt wird. Denn es ist das-
jenige Wollen, worin der Mensch sein Wesen will; und das Be-
wusstsein, weil es ursprünglich darin besteht, dass der Mensch
sein Sein will, ist in diesem ursprünghchen Begriffe Eins mit dem
sittlichen Wollen.
Im sittlichen Wollen liegt immer zugleich der Begriff des
noth wendigen Wollens, des Gesetzes des Willens; es ist das
freie Wollen, welches als solches Eins mit dem nothwendigen
Willen, dem Gesetze des Willens ist. Dieses Gesetz des 'Willens
muss von ihm als freiem unabhängig, es muss die innere Voraus-
setzung des freien Wollens sein, so dass dieses selbst nur möglich
ist, indem es sich selbst als der nothwendige Wille vorausgesetzt
ist; so ist der freie Wille unabhängig von sich als freiem schlecht-
hin durch das Gesetz gebunden und bestimmt; ohne das gibt es
kein Gesetz des Willens. Dieser richtige Begriff ist es, der un-
mittelbar in unserem Begriff des Willens ausgedrückt ist.
Wollen wir daher das Wesen des sittlichen Willens begreifen,
so müssen wir den Begriff des Bewusstseins denken, das nicht
absolut ist, sondern an ihm selbst den Begriff einer von ihm unab-
hängigen Voraussetzung enthält. Denn nur damit haben wir den
Begriff des Gesetzes des freien Willens, welches von diesem als
freiem unabhängig und seine Voraussetzung ist. Der Begriff des
Sittlichen ist mit dem absoluten Idealismus unverträglich.
* Das Gesetz des Willens ist von ihm als freiem unabhängig,
ihm vorausgesetzt. Es ist das vom freien Wollen unabhängige
Sein des Menschen, d. h. das Sein des Menschen als Naturwesens;
denn das was ich unabhängig von meiner Freiheit bin, das bin
ich als Naturwesen, beides ist ganz dasselbe. Und so haben wir
denn von vorn herein dieses dem Bewusstsein und der Freiheit
vorausgesetzte Sein des Menschen so bestimmt, dass er allein als
selbsständiges Wesen ungeschieden die Selbständigkeit Aller Andern
in sich schliesst, als Glied des Ganzen der Wesen ganz unbedingt
und ganz bedingt durch alle andern Wesen ist. Diess ist der all-
gemeine Begriff des Naturwesens; denn dieses tritt nicht als un-
7*
fOO V^^ ^^ Prwp d«r Philosophie
bedingtes beraiis sm seinem Bedingtisein durcii d^s Ganze, weldi^
nur dem BewussIse^Qs dßm Geiste als solchfvn zukommt, gandern
Idejbt a)9 selbststündiges in völliger Einheit mit seinem Bedingtse^in
dDFpb de^s Ganze^ — DiefitO^ Sein des Menschen, worin er ebenso
ganz unbedingt und gaivs bedingt ist durch alle andern Wesen,
worin seine Se)bstertmH^ng in völliger Qarjpäonie steht mit der
Selbsterhaltung aller Q^dern We^en, ist auf die bezeichnete Weise
besetz d^s freien WiUens- Das Gesetz des. freiem Willens als
seine von ihm als freiem Willen unabhängige Voraussetzung ist
datier seinem ufsprüQgliphe^ Begriife nach das allgemeine Natur-
gesetz, welches zugleich Gesetz d^es Menschen stls Naturw^sens ist.
Und d^s sittliche Wollen besteht darin, dass das Wollen als sol-
ches Eins ist mit diesem durch das allgemeine Naturgesetz be-
stiino\iUten Sein des Menschen als einem solchen, das seine ypn ihi»
un^hängig^ Yoraussetzun|r hat, und durch welches als seine
fiQtbweudige Form es d^^r feinem Begriife nach schlechthin ge-
bunden ist.
Das. Sittengesetz ist daher ursprüngUch Igins mit dem allge-
meinen Naturgesetz. Äbgesel^en davp^n, dass dieser Begriff nothr
wendig daraus sich ergibt^ ^9ss d^ Gesetz des Willens von ihm
al^ freiem unabhängig ist — denn insofern ist es eo ipso Natur-
gesetz — , so ist uatüjrlich, d|ass, wenn wir einmal in unserem
BegriiTe des Einen dasr menschliche Wesen in seiner ursprUnglJM^heQ
positiven ISyp^eit mil d^iu Ganzen der Wesen erkannt haben j^ das
Gesetz se^ies Wejieu^ I^eiu besonderes von dem allgemeinen Welt*^
gesetze v^s^edeiies s^ k^ann.
Das Geset?! de& freieU: Willens aber, dus, wie wir bisher ge-i*
z^igK von il^m als f|tei^i)(). unabhängig und damit seife V9rau«-
setzuug iffK "9u$s ^uch, di^nit es Gese^2; des freiten Willens sei,
der WiUe selbst als freier sidi selbst geben. Beide& gehprt m-^
sammen mm begriff des sijttiichen WoUens. UipM} das System der
WiUeo^iftefiitiminuBgen, iiide^ es zeigt, wie der WiUe aus seiner
ursprupglichen Möglichj^t sip)| s^t daiffu eut>^iokelt, dass er aU^
freier sj^ selbsjt sein Qese^ gibt uyad dieses Gesetz zugleich von
ihm oUf (reiem uncbbhängig wfi$#> Tieigt d^her die Genesis des
Qegriffii. des sittlichen WoUens. Es gil^ damit der Moral ihre
Grundlftg^; es ist niqht selbst M^i^i» ip^e«^ diese aujf dem voll-,
endeten Begriff d)es silUiphea WoUens. beruht, d^sen Geue»s ifk
nnd die Idee de« Systems der WiTlettsheftimiiraogeii. {Ol
det Zusammenfassung alter Momente Ode¥ BeSfifrHnimgeft &e^ Wii>*
lens zur Einheit des Systems det Willensbestimmtingei! darstellt.
Aus diesem Verhölthiss des Systems .der Wissensbestimmungen zur
Moral folgt jedoch keifteswegs, dass wir im Systeme der Wissen-
schaft vom System der Willensbestimmungen unmittelbar zur Moral
überzugehen haben. Vielmehr, indem sich das System der Willens-
bestimmungen mit dem Begriffe schliesst, dass der Wille in Einem
sich selbst als freier dai^ Gesetz gibt und dieses Gesetz zu-
gleich als von ihm alife freiem unabhängiges Naturge-
setz weiss, wird zunächst bei ein^m streng methodischen Port-
gange des Dfehk^ns der ßegriff des vom freien Willen, oder vom
Bewusstäeln önabhäfigigen Naturgesetzes, der Begriff der vom Be-
wusstsein unafbhängigen Totalität des Realen als solöhe^ für sich
zu denken j^^in. Dieser ist es gerade, der in jenem vollendeten
Begriff des Willens entsteht, — der metaphysische Begriff des
Realen art sich. Das System der WillensbestimmungeU, diess iÄt
seine weitere Bedeutung, ist die eigentliche Deduction des Heal-
prinzips aus dem Begriff des Bewusstseins. Ursprünglich ist im
Bewusstsein, wie dessen Begriff in unserm Prinzip im Einen be-
stimmt ist, der Begriff der Totalität des Realen an sich enthalten,
aber er ist darin noch nicht für's Bewusstsein. Wir müssen zeigen,
wie das Bewusstsein an ihm selbst dazu kommt, den Begriff seiner
von ihm unabhängigen Voratissetzung zu bilden. Wie es diese seine
Voraussetzung, mit der es im Eineft üngeschieden Eins ist, selbst
als solche zu seinem Objecte macht und den Begriff derselben
denkt. Diess Wäre aber nicht möglich , Wenn nicht im Bewusstsein
selbst \0n vorn herein dieser Begriff seiner Voraussetzung ent-
haften wäre. Also nur dadurch, ddfss wir das Bewusstsein seinem
üTsprüftglichen Wesen nach als sittfehes Wollen fassen, worin das
freie Wollen (das Bewusstsein) von selbst auf das von ihm unab-
hängige, ihm vorafüsgesetzte Sein des Metischen im Ganzen als sein
Gesetz Mnwdj^, sirid wir im Stande, aus dem Begriff des Be-
Wässti^öins selbst den Bfegriff des Realen an sich abzuleiten und
dÄmit? die Metaphysik zu begründen. Der Begriff des Realen an
sich ist dafimit wii^klfch begründet, nicht bloss dogmatisch voraus-
gehet; ttttd' dieser Begrifft ist immanent, nicht transscendent, weil
^t im Be^ffe des ^WUsstseiAs selbst gefuüdeh ist; und man
weis^', dafSii hifcriA ü^ Auf^abfe der Philoi^öphie besteht, wie sie
fQ2 Ueber das Prinsip der Fliilosopilt«
uns in neuerer Zeit sdt Kant zum Bewusstsein gekommen ist.
Die Kant'sche und namentlich die Fidite'tsche Philosophie wussle^
dass im Begriff des sittlichen Willens (im höchsten Gute} der Be-
griff einer vom Willen und damit vom Bewusstsein unabhängigen
Ordnung der Dinge entstehe; sie wusste, dass nicht von der theo«-
retischen, sondern von der praktischen Vernunft aus der Begriff
des Realen gewonnen werden könne; und dass dem wirklich so
ist, diess wird im Bisherigen klar geworden sein, und darin be-
steht unter anderem die Bedeutung der Idee des Systems der
Willensbestimmungen. — Man bemerke aber, dass dieses so de-
ducirte Realprincip keine blosse Abstraction, keine bloss abstracto
absolute Einheit ist , welche als solche gar nicht Prinzip sein kann,
sondern dass es ein inhaltsvoller Begriff ist, welcher als solcher
wirklicher j&klärungsgrund der Welt zu sein fähig sein muss.
Man bemerke ferner, dass dieses Prinzip der Welt ein immanentes,
nicht transscendentes ist, dass in ihm die Welt aus sich selbst,
aus ihrem ursprünglichen Sein in Gott erklärt wird; darauf ist von
je her die Metaphysik ausgegangen, die Welt aus sich selbst, aus
ihren ursprünglichen einfachen Elementen zu erklären. Sodann ist
leicht zu sehen, dass eine so begründete Metaphysik, sofern sie
darauf beruht, dass das Bewusstsein den Begriff seines Prius bildet,
dem Idealismus der .neueren Zeit sich entschieden entgegenstellt,
für welchen das Bewusstsein das Prius der Natur ist, so dass diese
nur in den Prozess^ der Sichselbstvollziehung des Bewusstseins
hineinfallt, nur in diesem gesetzt, somit nicht wahrhaft an sich
und upabhängig vom Bewusstsein ist. — Eben diesen immanenten
Standpunkt nimmt nun das System der Willensbestimmungen inner-
halb seiner selbst ein» Es ist die Entwicklung des Bewusstseins
— des menschlichen Bewusstseins, ein anderes als das menschlidie,
oder jedenfalls als das endliche Bewusstsein kann es nicht geben —
aus sich selbst, aus seinem ursprünglichen Sein in Gott. Wie
wir überhaupt nicht über das Endliche selbst hinaus auf eine
absolute Ursache desselben zurückgehen können, um sein Werden
aus derselben zu begreifen, so können wir auch nicht über das
menschliche Bewusstsein, das ja seinem Begriffe nach in ganz
gleicher Linie mit der Reihe der endlichen Wesen steht, hinaus
gehen, um sein Werden aus einem höheren absoluten Grunde
zu begreifen. Wir können nur auf sein ursprüngliches Sein, in
and die Mte, dM Sjg^mü der WfllWKbeiilimnmiigen. |^
weldiem es in Gott ist, zorttck gehen, um ans diesem sein Wer-
dtti zu begreifen, um es ganz aus sich selbst zu erkUüren. Wir
denken aber unsar ursprüngliches Sein als das unsrige nur, in-
dem von Tom herein das endliche menschliche Wesen in seiner
Selbstbejahung als eines solchen Eins mit Gott, als .dem abso-
lut unbedingten, Ober das Endliche erhabenen Sein und geschieden
von ihm ist; wir denken das menschliche Wesen als solches in
seinem ursprünglichen Sein, weil wir es in seinem Begriffe zu-
gleich bestimmt vom göttlichen Sein zu sdieiden vermögen.
Diese Entwicklung des menschlichen Bewusstseins aus sich
selbst schliesst von selbst alle Bestimmung dieser Entwicklung
durch eine trarisscendente Gausalitit aus; sie schliesst von selbst,
aus, dass in diese Entwicklung je ein transscendentes, übennensch-
Hdies Agens eintreten könne; und sofern diese Entwiddung des
Geistes aus sich selbst in der Geschichte als die Entvrickhmg der
Gattung objective Realität hat, so ist die Geschichte des mensch-
lichen Geistes durch und durch eine Entwickhing desselben aus
sieh selbst; sie ist eine Reihe menschlicher Gestalten, welche
auf keinem Punkte durch Uebermenschliches durchbrochen sein
kann. Aber ntcbtUoss dagegen, dass die Geschichte des Geistes
an einzelnen Punkten durch Uebermenschliches durchbrochen sei,
müssen wir unsern B^iff festhalten, sondern namentlich auch
dagegen, dass die ganze Entwicklung des menschlichen Bewusstseins
ihrem ganzen Umfange nach nicht eigentlich seine — mensch-
liche — That, sondern die That des in ihm sich vollziehenden
absoluten Geistes oder Weltgeistes sei. So nahe es hier allerdings
liegt, dass dieser absolute Geist, weil er sich selbst in der Ge-
schichte des menschlichen Bewusstseins vollzieht, eben der Men-
sdiengeist selbst sei, so beruht doch dieser absolute Standpunkt
auf der Entäusserung des menschlichen Bewusstseins an eine abso-
lute Substanz, eine absolute Objectivität, in welche es, was seine
— menschliche — That ist, aus sich heraus versetzt, um, waä
seine That ist, als den sogenannten Prozess des Absoluten an-
schauen zu können. Gegen diesen sogenannten absoluten Stand-
punkt machen wir den subjectiven, menschlichen geltend darin,
dass wir das menschliche Wesen als solches, das sich selbst als
endliches bejaht, in sdnem ursprünglichen selbststttndigen Sein in
Gott denken, dass wir dasselbe ganz aus sich selbst als
fO^ Ucher.dis FriD«i|i to Ilkitoilei^
meBschliobe» entwickeln bifiden und damil seile Enlvirtoidirag he*
ftimmt als s^ne ciigfene menschiiehe That fe^halten. — Wir wissen
ittohts von einem im Prozesse , des Bewussiseins sieh selbst ent-*
lü^elodea GofI; wie da^ menschliclie Betmsslsein ab solches sich
ganz aus sieb selbst entwickelt und seine Entwicklung ab s^inie
mensdUiohe That bat, so ist andrerseits Gott fttr umr dt» ewig ia
9|ch selbst vollendete, ewig unbewegte Sein, und diese Eßi^
wicklnng des Bewusstseins besteht nur darin, dass es sein ewiges
Sein in Gott, welches an und für steh vor allem Bewussiseia ood
4ie unwandelbare (kundlage desselben ist, immer m^ m mnem
selbf^bewus^ten, freien Sein erhebt.
Nur 9uf Bia^s will ick noch airf«erksam machen, auf das Yer-«
hiOtniss unseres Begriffs des Bewusstseins zum Begriff äer Religio».
Es ^ oienbar ein reales von allem Wissafi und Wollen un-
abhängiges Sein des Mensehen in Gett, auf welchem die Religioa
b^uht; eim Sein, w^kes dem Wissen und Wollen des Menschen
^eQhthin vorausgesetzt und als so vorausgesetztes aUein in's
Wissen und Wollen erhoben werden kann, so dass in letzter Be--
j^iehung das Wissen und Wollen, 'weil es ja an diesem realen
Sein des Mensehen in GiHt seine Voraussetzrag, seine Bedingung
mi sdine Möglichkeit hat, seinen eigentlichen ihm eingebornen
Inhalt an diesem Sein des Menschen im Ganzen und damit kk Gotl
hat. Die Religion ist Wissen des Menschen von seinem Sein in
Gott und Wollen desselben, so dass das Wissen und WoUen seinem
Begriffe nach Wissen und Wollen dieses Seins in Gett ist.
Man wird zugeben, dass in nns^em Begriffe des Bewusstseins
dieser Begriff unmittelbar enthalten ist; das Sichwissen des Men-
schen ist — diess ist der Inhalt dieses Begriffs — immittelbap
Wissen seines realen Sems in Gott.
btt aufgestdlten Begriff des Bewusstsmns (im Begriffe des
Einen^i ist das Bewusstsein als solches noch völlig Eins mit seinem
realen Sein, sseinem Sein in Gott; darauf gerade beruht es, dass
das Bewusstsein an diesem Sein seinen ursprünglichen Inhalt hat.
Aber die Entwickhing des Bewusstsein besteht darin, dass es skh
von diesem seinem Sdn, von seiner ungescUedenen, bewussttosen
Einheit mit sich, sond^, nm als Bewusstsein für sich selbst wkk-
lioh zu sem und. sein bewnsstloses Sein mn selbslbewnssien zu
erheben und das mrspriinglidie Sein des Meiisdien in Gott tds em
und di« Um te SyrtMM dw WfltoAcMüniiiiiiig«. |f5
in BclhilbewwstoeBi effeobiirM m teflitten« So oAabaret aMi dar
Mensch in der Bntwickhng des Bewusstsein am sich seihtl fein
Seilt in Gotl im Bewnsslsein «id diese fortfehende Ofibnbttinngf
ist die Geschichte der Religion. Von diesem Gesichtspanhie aas
sdieint namenUich das Ghrislenihnni «id die Person seines Stifters
airfgefasst werden n mtlBsmi. In dkr Pierson Christi schauen wir
dasjenige mensehliche Selbstbewumtsein an, welches sein Sein *—
das Sein des measchUehen Wesens fiberhaapt — in Gott al»
Selbstbewnsstsein in sich offenbar hat. Die eigenthttmliche OigniUll
dieser Person besteht nicht in einer nur ihr zukiHumenden Wesens-*
einheit mit Gott; diese Wesenseinheit mit Gott, d. b. das Sein in
Gott liegt im Begriffe des Menschen tf>erhaapl; sondern seiner
eigenthümüche Dignitfit, d. h. das in der religiösen Enfwiehlang
Epoche machende seiner Person besteht diMrin, dass er dieses Sei*
des mensehUchen Wesens in Gott als S(riche5 in seinem Selbstbe^
wnsslsein offenbar hatte. Halten wir hierbei nur fest, dass es zu
<eser Offenbarung Gottes keines ttbermenschlichen Wesens bedarf,
dass Christus als menschliches Wesen sich zu dieser Offenbarung^
des Seins des Menschen in Gott in seinem Selbstbewusstsein erhob»
ond dass diess auf einem gewissen Punkte in der Entwicklung de«
Bewusstsein eintreten musste; so wird sidi zum Vomuar aodh* keiner
Schwierigkeit dagegen erheben hisseii) dassder Begriff dieser Fer«*i
son kein bisss metaphysischer Begriff,- sondeni der Begriff einei^
historischen Person ist; und ursprünglich, ht den Zeilen des ersten
Christenthums, ist ja doch Christus eben als meuschlieheis Wesel»
gedacht worden, nicht ab übermenschliches und der Glaube an ihn
konnte ancitnur dadurch entstehen, dass wiis ihm Ms sein iilnereif
YerhäKhiss zu Gott offenbar geworden, an tsrich das VtfrhdItotSiS
der Menschen überhaupt ist. Ungeachtet das* Christenthutn auf
der Idee beruht, dass in Ohristus das reale Sein des Menschen
in Gott ein selbstbewussles geworden ist, afaro diarattf beruht, dass
der Menseh sein renies Sein in Gott ris bewusstes Wesen sklk
srfbst ofitehbart, und ungeachtet dilMer menschliche Standpunkt iil'
und mit dem Christenthum entstanden üst, und immer iis d^r Ge^
schichte de» Christenihums sein Recht bebauplel hat, so Ist doch
auch innerhalb des Cbrotenthoms diesem^ immimenlen, menscHicben'
Slandpunifile der transsaendente gegenühergeslaadenv der^ was^ eäio'
That der Menschen selbst ist, die Offenbarung seines Seins in
109 Vih^i dtf Prinup &» Pbiloiwpliie
^U.im Bewusatscdn, ate das Hemnli^eii «in«i ttermensoldMicn
Wesens in die menschliche Erscheinung ansiebt, und iti diesier &-•
sQb&inung die OfTenbarung Gottes an die Menschen anschaut
Diese Vorstellung kann natdrlieher weise nur da entstdien, wo
der Mensch mit seinem. Bewusstsein aus seinem realen Sein, mit
welchem es ursprünglich Eias ist, heraustritt, um dasselbe zu einem
selbstbewussten zu erheben; denn da wird dasselbe ihm als ein
firemdes. von dem Bewusstsein unergriffenes Wesen gegenüber-
treten, sein Sein in Gott wird das Sein eines göttlichen über-*
menschlichen. Wesens in Gott. Dieses höhere Wesen, waches
sdnem Begriffe nach in Gott, ewig in Gott ist, wird zwar Mensch»
d.h. der Mensch weis. dieses sein Sein in Gott als das seinige, aber
ebenso, bleibt dieses sein Sein in Gott ein ihm fremdes über ihn
hinausragendes, das Sein eines Wesens in Gott, welches im Fleische
erscheint, in der That aber über die menschliche Natur als ein
iM)ermenschUches Wesen hinaus ist. Diese Vorstellung entsteht
also als ein notbwendiger Schein, wo das Bewusstsein sich von
seinem Sein in Gott losreist, um dasselbe zu einem selbstbewusstea
zu erheben, ist also eine nothwendige Folge des Standpiuikts,
auf welchem das Christenthum steht. Man sieht aber auch, wie
dsjiS Christenthum nothwendig zugleich den menschlichen Stancl-
fjßvlkX festhält und von jenem transscendenten immer wieder auf diesen
zurückweist. Und da, wo die urspriUigliche Einheit des Bewusst-
seins mit seinem realen Sein in Gott in der Unterscheidung des
Bewusstseins von derselben sich wieder hergestellt hat, wo das
Sein des Menschen in Gott als solches wirklich und vollkommen
zum selbstbewussten Sein in Gott erhoben worden, da muss der
Mensch auch wissen, dass der Mensch sein Sein in Gott als Be-
wusstsein sich selbst offenbaret; und das Recht des immanenten
Standpunkts muss sich hier entscheiden.«
Welche Bedingungen aber erforderlich sind, damit das Sein
der Menschen in Gott als sein Sein ihm ins Bewusstsein trete, was
darin enthalten ist, dass er sein Sein in Gott, die innere Wurzel
seines Bewusstseins, sich selbst zum Objecto macht und als Gegen-
stand der Anschauung von sich bringt, diess zu erörtern, würde
uns weiter in den Begriff der Religion hineinführen, als hier am
Orte ist, wo nur die allgemeinen Consequenzen, die sich aus dem
und die Uee dm Systemt der WiUeoii^ettiaimaDgeii. \Qf
System der WUlenabestiniiiiuiigea ftr die Anffwong der Rdigion
ergeben, dargelegt werden sollten.
Die Religion ist das Sichwissen des Menschen in Gott; sie be-
steht dtttin, dass das Sein des Menschen in Gott, welches ihm
mit dar ganzen Reihe der Wesen gemm ist, ihm zum Bewnsstsein
kommt. Sie ist kein blosses Wissen von Gott, so dass das un-
mittdbare Object des Bewusstseins Gott wäre, sondern das Sich-
wissen des Menschen in Gott; denn sein Sein in Gott ist darin
Object seines Bewusstseins. Dieser aus dem System der Willens-
bestimmungen iiessende Begriff der Religion ist in zwiefacher Be-
ziehung Ton Wichtigkeit. Erstens nämlich heisst „sein Sein in Gotl
wissen^: sich als selbstständig in Gott wissen, und das Verhältniss
des Menschen zu Gott liegt dabei durchaus in seiner' Selbstständig^
keit, in seiner Freiheit. Dagegen wenn das Bewusstsein zu Gotl
als seinem unmittelbaren Objecte sich verhält, so kann Gott als
Object nur der Gegenstand der absoluten Hingebung sein, der
Gegenstand, von welchem wir uns schlechthin abhängig wissen.
Aber schlechthin abhängig können wir von keinem Wesen sein;
denn wenn wir darin nicht doch wieder selbstständig wären, so
wäre das eine Abhängigkeit ohne etwas, das abhängig ist; es kann
nur von einem Wesen, das selbstständig ist, auch gesagt werden,
dass es abhängig sei. Und wenn wir uns wissen als schlechthin
abhängig, schreiben wir uns nicht eben, sofern wir uns wissen,
ein selbstständiges Sein zu? Wir können also nicht schlechthin
abhängig sein von Gott, denn wir wären darin nothwendig eben
so selbstständig gegen ihn und Gott wäre hiermit selbst Glied der
Reihe der Wesen, er wäre nicht Gott. Und sofern wir uns wissen,
können wir uns nicht bloss als abhängig wissen, sondern zugleich
als selbstständig; wir können also nur, sofern wir unser selbst-
ständiges Sein im Ganzen -wissen (worin wir eben zugleich ab-
hängig sind von diesem), uns in Gott wissen. Die Reljgion kann
daher nur darin bestehen, dass wir unser Sein im Ganzen zum
Object unseres Bewusstseins haben, anschauen, und darin eben unser
Sein in Gott als solches wissen. — Dieser Begriff nun enthält
zweitens den Begriff der Religion, als ethischer, praktischer;
denn nach dem oben Nachgewiesenen ist das Wissen des Menschen
von seinem Sein wesentlich das Wollen seines Seins, und dieses
Wollen eben das sittliche Wollen als solches. Die Religion ist
fQ^ lieber das Prinzip der Phflosoi^ie etc.
d{th«r iirsprttngfieh tiiclit eM WiDseh (im bloss tteoretijtchenk SiAike),
sondern ein Wollen; sie ist das sitlUche Wollen selbst, so wiö
diesen ohbe Religion, obne Wissen seines Seins in Gott gaf nicht
gedacht werden kann. Die Religion ßlllt ihrem Wesen nach zu-
Ifttmmen mit der" ttrsprüngUcfaen Existenz des Geistes, mit dem ur-
sprünglichen Wollen, das er ist'. Und ein blosses Fürwahrhalten
von Dogmen oder von Erzählongeü, mögen sie nun wirkliche 6e-
SKihichte geben oder nicht, hat an und fftr sich mit der Religion
nichts zu schaifed. Ebensowenig kann das sittliche Wollen bedingt
Sein durch die Annahme gewisser Dogmeb, sondern es hat seinen
Omnd in sich selbst, indem es mit der nrsprünglichen Existenz des
Haschen zusammenfäilt; an diesem ursprünglichen Wollen allein
Wird die Wahrheit des religiösen Glaubens gemessen, aus ihm al-
feltt folgt der Glaube, und dieser hat nur insofern Wahrheit, als er
die in dem ursprünglichen Wollen mitgesetzte Gewissheit seines
Seins in Gott ist. Und diess ist ohne Zweifel die Tendenz unserer
Zeit, das sittliche Wollen unabhängig zu machen. von den Dogmen,
dasselbe seinen eigenen Grund sein zu lassen und es umgekehrt
zur Bedingung und zum Maassstab des religiösen Glaubens zu ma-
chen; erst von dieser Grundlage aus wird die religiöse Einigung
der Völker möglich sein; denn die Dogmen tretmen, das sittliche
Wollen aber verbindet die Menschen zu Einem Ganzen.
ilL
Ein historisches Portrait.
Im Allerthum überwog das Staatsganze die Einzelnen, der
Uensch ging im Bürger auf, er war nicht seiner selbst, sondern
der Stadt und fand im offen tlicheri Wohl seine private Befriedigung;
der moderne Staat sollte auf die Selbstständigkeit der Individuali-
täten gebaut werden, welche den antiken aufgelöst hatte, sie musste
desshalb für such ausgebildet werden, ehe die Einzelnen iQ der
Einheit einer freien Gemeinschaft sich verbinden konnten. Die
Zeiten des Mittelalters sind diese Lehrjahre der christlichen Welt.
Die einzelnen Kreise der Ritter, der Geistlichen,, der Städte waren
nach Gesetzen und Sitten verschieden von einander und verwalteten^
ihre Angelegenheiten n^ch eigener Ordnung und Macht, ohne
Wechseldurchdringung, ohne allgemeine Ideen, gewaltsiam. Die
Bauern wurden zinsbar und höri^; die Bürger waren wohl inner«"
haU) ihrer Mauern frei, aber sie blieben ohne Einfiuss nach Aussen.
Jahrhunderte lang scheitern die Versuche der Befreiung und Um-
gestaltung, weil Alles zu eng, zu local und zu speziell war. Man
mi)sste trauern über das vergossene Blut, über die verschwendete
Kraft, wenn nicht a)le Zeiten und Lagen zur Entfaltung eines
tüchtigen Menschend^ein^ Stoff böier\ und gerade in der Nacht der
Stern der Tugend um so beller leuchtete , wenn nicht dennoch
jedes Samenkorn imverloren in der Zukunft aufginge und der Baum
der MenschheiJ von Tag zu Tag Höher wüchse, durch die Stürme
fester wurzelnd.
110
Maechiavelfi.
Es ist ein grosses und wahres Wort: der Mensch steht b(Aef,
wenn er auf sein Unglück trittw So erweckte die Noth des g#-
fiflgsteten Gewissens ganz Böhmen , dass es in den Hussitenkriegen
dem Feinde wie Ein Mann entgegenstand; aber wie bald theilen
sich die. Sieger selbst in zwei- Lager und wie schnell werden nun
die beiden Banner in den Staub getreten! Georg Dosa, der,
Ungarn zu befreien, die Gleichheit Aller vor Gott und Menschen
verkiindete, konnte die Leibeigenen nur zum Rachekampf voll Mord
und Brand entfesseln und musste selber einen glühenden eisernen
Thron besteigen, während eine feurige Krone sein Haupt verbrannte.
Die Bewegungen des armen Mannes in England, Frankreich und
Deutschland scheiterten an der Stärke und Ueberlegenheit der Be-
sitzenden; die glorreichen Kämpfe der spanischen Städte errangen
nichts als den Kranz des Heldenruhms für die Erschlagenen. Es
fehlte eine öffentliche Macht und öffentliche Meinung, und dass
beide sich bilden konnten ohne schreckliche Verwirrung und Zer-
störung alles. Gewordenen, dazu bedurfte es der Concentration der
Staatsgewalt in Einer Hand, damit dann aus der Verschmelzung'
selbstständiger Persönlichkeiten mit dieser allgemeinen Einheit der
Volksstaat der neuen Zeit hervorgehen konnte.
Der Mann, welcher diesen Gedanken fasste und unter bestän-
digem Hinblick auf das Alterthum für seine Mitbürger aussprach,
war Macchiavelli.
Er war 1469 geboren, verlebte seine Jugend in der glück-
lichsten Zeit der Mediceer zu Florenz, ward frühzeitig Staats-
sekretär und war vierzehn Jahre lang hauptsächlich in Gesandt-
schaften thätig. Der Sturz Soderini's zog auch Macchiavelli's
Entlassung nach sich. Dass er an einer Verschwörung Theil ge-
nommen, ist ganz unerwiesen; erfolglos ward er desshalb gefoltert,
und seine Einsicht im Allgemeinen, wie seine «verständig klaren
Ansichten über diesen Punkt rechtfertigen ihn zur Genüge. In
gezwungener Müsse suchte er sich durch den Umgang mit Land-
leuten vor'm Roste zu wahren , während er das Alterthum studirte,
oder er las die Liebeslieder Ovid's und TibulPs zur Würze sinn-
licher Freuden, getreu dem Grundsatze Boccaccio's: lieber thun
und bereuen, als nicht thun und bereuen. Er musste selbst die
Armutb erproben, die er an dem glücklichen Staate preist, der
seinen Dictator vom Pflufl^e holt. Wir verdanken diesem Umstände
seine vorlreffliekeii Werke; er sdhst lernte mar aHmiKg im Schrei«-
ben einen Ersats fttrs unmittelbare Handeln finden. Zunächst g$h
ihm die Dichtkunst Trost, und er verfasste einige Komödien yoH
genialer Keckheit und heidnischer Ausgelassenheit, sich selbst ver*
theidigend mit den Worten: ,,Wenn diese leichten Dinge nicht
würdig scheinen sollten eines Hannes, der fikr ernst und weise
gelten will, so entschuldigt ihn damit, dass er dureh diese ^iele
der Phantasie^ die trüben Stunden, die er verlebt, aufheitern mik^hte,
indem er eben jetzt nichts anderes hat, wohin er seine Blicke
wende, und es ihm benommen ist. Gaben anderer Art in anderen
Unternehmungen 2u zeigen.^ Zugleich aber erwies er sich ernst
und weise in seinen Terzinen, ethischen Gedichten voll Kraft und
weihendem Sedenadel.
Dann schrieb er seine sieben Bücher über die Kriegs-
kunst. Gute Gesetze und gute Waffen sind ihm die Grundlagen
des Staates. Der Hass gegen die fremden Söldoerheere , die Ein-
sicht, dass nur die Wehrhafligkeit der eigenen Bürger dem Staate
frommt, der Drang, zu helfen an der Rettung Italiens, Züge und
Ideen, die wir in allen seinen Schriften finden, bilden hier das
Thema der Untersuchung. Er denkt vom Scfaiesspulver zu gering,
aber erkennt richtig die Bedeutung des Fussvolks vor der Reiterei
und wirkt für die Umgestaltung des Kriegswesens, die es den
Rittern entzog und den Kern des Heeres im dritten Stand suchte.
Ziemlich gleichzeitig und in einem Buch auf das andere sich
beziehend, verfasste er seine Discorsi über die erste Dekade
des Livius und den Principe. Beide sind durchaus in demselben
Geiste geschrieben. Vieles ist gleichlautend in ihnen; das erste
Werk zeigt, wie ein gesundes naturwüchsiges Volk durch Gemein-
sinn emporkommt, das andere will in zerrütteter Zeit die verlorne
Einheit durch Einen gewaltigen Mann dargestellt sehen, dass von
da aus die Freiheit sich wieder entwickle. Wie ernst es ihm mit
seinem Fürsten war, beweist das ganz ähnliche Verlangen, das er
an Leo X. zur Erneuung des Vaterlandes stellt; wenn ihm die
Gründung von Religionen und Staaten als dasGrösste galt, so fand
er für sich den nächsten Ruhm darin, das Wesen des Gemeinlebens
zu untersuchen und die Mittel zu seiner Erhebung anzugeben; in
jener Zuschrift an Leo sagt er sdbst: „Ich glaube, dass die grösste
Ehre, welche die Menschen erlangen können, die sei, welche ihnen
»
Hoa ftpem Vitarkiide Cfeiwil% ferdcM wird; Idi gfiaiabe, daM
dan Besle und GM Wohlgefälligste, das man Ihun kann, jenes dei,
iras nMin för das Yat^land YoHbringt. Kein Mensch ist jemaki om
lügend eine Handlung so gepriesen worden, als jene, wekiie die
deaetze und Eiwehtungen ihrer Staaten reformirt haben; diese
werden mlküat den Göttern als die Erstes genannt, und da nur
Wenige gewesca sind, welche Gelegeidieit gehabt haben^ das ta
tlnm, und sehr Wenige, die es zu thun verstanden haben, so ist
4igi Zahl derer ^ die es wirklich gethlöi^ haiken, sehr gering. Und
dieser Ruhm ist ron solchen Männern, die niemals Anderes als
RttlMnwiiPdiges angestrebt haben ^ so hod» geschätzt worden, dass
sie, wo sie nidil in d^ Wirklichkeit einen Staal ordnen konnten,
es in ihren Schriften gethan haben, wie Aristoteles, Pli^on und
viele Andere, die der Wdt zeigen wollten, dass, wenn sie nicht
wie Soloo «Dd Lykurg eine RepuMik zu gründen vermochten, es
. ilmen dazu nicht »i Wissen, sondern an Gelegenheit mangeKe, ihre
Kenntnisse gebend au machen.^
Beide Werke steigerten sein Ansehn, so dass er wieder in
Staatsangelegenheiten gefragt nd benutzt wurde. In diesen Tagen
schrieb er die Geschichte von Florenz, ein Meisterwerk Hchthisto-
riaeber Davstelhing. Wenn er in seinen Briden und Gesandt-
sekafteberichteH die Dinge einzefa» betraditete und gern auf die
Perstolichkeit der Menschen, auf ihre Lddensehaften und IntHguen
Kurückftthrte^ wenn er m seinen Gedichten die innere Notbwen-
digkeit^ de» grosse» Plan des Schieksri^ tiefeihnig wie iw Pante's
Orabeltoo) verkündet, so bitde» in sevier Geschichte, wie G^vinus
sagt, beide Betrachtungsapten, auf eine unüberb'efifiche Weise ge-
ordael^ Veiv und Hintergrund der Ireigrasse, und während er
mit genauer Forsdümg cHe freien Beweggründe der handelnden
Personen in's Licht steHt, deutet er in^ solchen Sfomenten wo, wie
er m einer Stelle, m der er von Camiftis redet', sehr tief empfin-
det^ die Eingriffe des UnsiehÄaren' in dem Gang der »inge sehr
aichthtt sind,, leise auf diese lenkende Band zurück So üÄeriegt,
so besonnen, s» umsichtig ist diese öeschichic Angelegt, dass von
Ar auch, der gründUchst^ Kenner würdi? rühmen können, was
ßittgueaö vom seinen Discwsen sagt, dass überall Tiefe der Ge-
dttdceft und. uaersek^iehoh Mamrigfaftig^t der Thattsachen vor-
tettoUe.
ilacehuiT«lli. j[|3
In Macchiavellis {Jahrhundert hatten die Menschheit tvicder die
Augen aufgetha» und die Natur zu beobachten angefangen;
ebenso hatte sie ihrer Vergangenheit sich erinnert und die Alter-
thumswissenschaft wiedei* erweckt. Beide Richtungen seiner
Zeit vereinigt Macchiavelli : die Freude an der Erfahrung, nach der
ihm die Zeit für die Mutter aller Wahrheit gilt, durch die er zu
einem Naturforscher des Staates wird, und der Sinn für das Alter-
thum, das er nicht bloss in seinen Statuen und Schriftwerken,
sondern mehr noch in seiner politischen Grösse und Weis-
heit ergründet und erneut sehn möchte. Er dringt auf klare Er-
fahrung, aber auf die ganze volle, die auch das Mysteriöse nicht
verwirft und über die Sympathie der Natur mit den Ereignissen
der Menschen nachdenkt; er blickt auf die Vorzeit, aber um von
ihr Lehre und Kraft für künftige Thaten zu gewinnen.
Macchiavelli ist durchaus ein Römer. Auch von ihm gilt,
was die St. Simonisten von Napoleon sagten, wenn sie ihn das
Genie nannten, welches zu erzeugen von Rom sei vergessen wor-
den. Darum dringt er überall auf die eiserne Consequenz des
Charakteriä und der Unternehmungen, und findet das Unglück der
Menschen darin, dass sie weder zum Guten noch zum Schlechten
die rechte Entschiedenheit besitzen und desshalb verkehrte Mittel-
weg^ einschlagen; darum geht i^m der Staat über Alles imd hat
ihm nur dasjenige Werth, was in Bezug auf diesen steht, so wie
ihm Alles entschuldigt und gerechtfertigt ist, was dem Zwecke des
Ganzen dient und seinem Wohle frommt. Die Blüthe der Kunst
und Wissenschaft in seinen Tagen bietet ihm keinen Ersatz für die
versunkene politische Grösse Italiens; die um ihrer selbst willen
forschende Weisheit und die schöne freie Poesie der Griechen
bleiben ihm fremd, abar die Römischen Schriftsteller mit ihren
grossen Staatsgedanken und ihren kolossalen Heldenbildern sind
seine Führer, seine Genossen. Er spricM bestimmt aus, dass kein
- Volk ohne Religiosität ein weltgeschichtliches Werk vollbringe, aber
er preist besonders die religiösen Einrichttfhgen der alten Römer,
wegen ihres ununterbrochenen Zusammenhanges mit dem Staat und
den Zwecken des politischen Lebens. Aus den^selben Grund stam-
men seine Angriffe gegen die mittelalterliche Kirche, die er in
folgender Stelle seiner Discorsi concentrirte. „Wäre die christliche
Religion nach' den ursprünglichen Satzungen ihres Stifters von den
Jahrb. für specnlat. Philos. I. 1. * g
4f4 MieebiaTeUi.
Häuptern der christlichen Republik aufrecht erhalten worden, sp
würden unsre Staaten um vieles einiger und glücklicher sein. Die-
sen Verfall derselben lernt man nicht besser einsehn, als wenn
man betrachtet, wie gerade die Länder, welche der Römischen
Kirche, dem Haupt unserer Religion, näher sind, weniger Religion
besitzen. Und wer die ursprünglichen Grundlagen unsers Glaubens
betrachtet und die Abweichungen des heutigen Gebrauchs von
jener einsieht, der wird urtheilen müssen, dass nahe ohne Zweifel
der Untergang oder die Zuchtruthe sei. Dnrch das schlechte Bei-
spiel des Römischen Hofs hat unser Land alle Frömmigkeit und
Religiosität verloren, was unendliche Uebel und unendliche Aus-
artung mit sich bringt; denn wie man unter Erhaltung der Reli-
giosität jedes Gute voraussetzen darf, so jedes Uebel, wo sie
mangelt. Das also haben wir nnsrer Kirche und unsren Geistlichen
zu danken, dass wir entartet und gottlos geworden sind, wir
haben aber noch eine grössere Verpflichtung gegen sie, die die
Ursache tinsres Ruins geworden. Diess ist die immerwährende
2ertheilung unsres Landes durch die Kirche. Und wahrlich nie-
mals war ein Land einig und glücklich, wenn es nicht unter Eine
Republik oder Einen Bürsten gekommen, wie es in Frankreich
und Spanien geschah. Und die Ursache, dass Italien sich nicht in
derselben Lage befindet und niolit Eine Republik bildet oder Einen
Fürsten hat, der es regiert, ist einzig die Kirche; denn obgleich
sie hier ihren Sitz und eine weltliche Hierrscfcaft hat, ist sie doch
nie so kräftig und mächtig gewesen, dass sie den Rest von Italien
hätte erobern und beherrschen können; auch gestattet sie keinem
Andern die Eroberung des Ganzen und verursachte dadurch, dass
unser Land niemals unter Ein Haupt kam, sondern unter mehrere
Fürsten getheilt voll Zwietracht und Schwäche die Beute jedes An-
greifers ward." Durch das Studium der antflcen Literatur ist aller-
dings Macchiavelli von ihrem Geist ergriffen und durchdrangen
worden, und so entstand in ihm, um nrit Fichte zu reden, jene
hohe Ergebung in das unbekannte Schicksal, jenes feste Berußen
auf sich selber, als das Einzige worauf man bauen könne, jenes
frische Ergreifen des Lebens, so lange es noch da Ist, indem wir
für die Zukunft auf nichts rechnen können, jene Prometheische
Gesinnung, die iwan woH das moderne Heidenthum genannt hat;
dass er aber keineswegs das Christenlhum hasste öder blindlings
MacehtayelK. f\^
verwarf, weil er an mit dem Mönchs- anii PfaiTenthtim verwechseU
hütte^ mögen seine ausdrücklichen Aussprüche beweisen, die da*
darch nicht geschwächt werden, dass er anderwärts behauptet,
jeder Staatenordner habe zu Gott seine Zuflucht genommen, weil
sonst seine Gesetze von der Menge nicht wären angenommen wor«
den^ denn hieran liegt wohl ein Verkennen der Einheit aller Le-^
benssphären in der Jugendperiode der Völker und ein irriger ratio-
nalisirender Pragmatismus, keineswegs aber die Mdmsng, als sei
die Rdigion nur ein Mittel der Klugheit, zttmal er sie selbst wie«
d^holt für die Mutter alles Guten und alles Glücks erklärt und in
ihrer Verachtung die Queue des Missgeschicks und Untergangs der
Einzelnen, wie der Nationen findet. Seine Ansicht über das
Christcnthum ist nun diese: „Unsere Religion lehrt uns das Welt-
liche minder zu achten , die Heiden ^ber setzten hierin das Höchste.
Sie entbehrten daher die Menschlichkeit des jetzigen Geschlechtes,
das zeigt schon die Pracht und blutige Wildheil ihrer Opfer. Der
alte Glauben hat Niemand heilig gesprochen, als Feldherrn und
Fürsten und wer sonst sich weltlichen Ruhm gegründet, während
das Cfaristeathum beschauliches Leben und Demuth verherrlicht.
Das Christenthum hat das höchste Gut in Stelbsterniedrigang, in
G^ingsdiätzung and Verachtung der irdischen Dinge gesetzt, jene
aber in Geistesgrösse und Körperkraft und was soivit den Mensoben
stark macht. Und wenn auch unser Glaube verlangt, dass man
Stärke i>esitzen soll, so ist's mehr zur Geduld, als zur Thatkraft.
Diese Ldbeiis»nsioht schdnt die Welt schwach gemacht und sie in
die Hände von Bösewichtern gegeben zu haben, welche die Men-
schen leicht zu bä)Bdig^ vermochten, sobald die JUenge, um des
Paradieses thmlfaaftig zu werden, lieber ihr Joch ertrug, als räch-
end abschüttelte. Dodi (ä^ich die Religion selbst die Welt eiil-
mannt und den Himmel entwaffnet ^u haben scheint, so rührt diess .
_ alles ohne Zweifel vielmehr von der Verworfenheit derer her, die
den Glauben mehr der Unthätigkeit als der kraftvollen Tugend zu
Gunsten gedeutet haben. Denn hätten sie bedacht, dass die Reli-
gion die Erhebung und Vertheidigung des Vaterlandes gestattet,
so würden sie gesehen haben, dass sie will, wir sollen es lieben
und ehren und uns zu seinem Sdhutze bilden.^
Wie das Alterthint auch das Werk der (^t^ßmmtheii und der
Jahrhunderte gern an einzelne ffamen knüpft« ^o t^V^^ Macchia-
8«
^^§ ' Nftcehiflvelli.
velli an die Macht heryorragender Persönlichkeiten and an den
Einfluss ihres Beispiels, und nennt nur dasjenige gut und dauernd,
was von uns seihst und unsrer Tugend abhängt. Der Geist regiert
die Welt, und darum findet er, wie schon im Alterthum Sallustius,
in der treiHichen Tugend einzelner Bürger den Quell für Glanz
und Dauer des Römischen Staats, der emmal schon durch Ueppig-
keit und Müssiggang dem Verfall nah, doch durch die Grösse der
Feldherrn und Beamten aufrecht erhalten ward. Darum will er die
Ireie Entfaltung jeglichen Vermögens und meint, es sei niemals
weise gewesen, das ganze Glück auf das Spiel zu setzen, ohne
alle Kraft anzuwenden; die Stärke erwirbt sich leicht den Namen,
nicht der Name die Stärke. Gleich den Alten sucht er sich in's
Unabwendbare zu fugen:
„Wenn Unglück kommt, und wohl kommt's jede Stunde,
Schling' es hinab wie bittre Arzeneien,
Ein Thor ist, wer sie kostet mit dem Munde. '^
Gleich den Alten preist er die harte Schule der Noth, weil
sie den Charakter stählt, weil das mit Anstrengung Erarbeitete und
Gebaute auch fest begründet und für die Zukunft sicher steht;
Hände und Zunge des Menschen, die edelsten Werkzeuge seiner
Veredlung, würden ohne antreibende Nothwendigkeit es zu keiner
Vollendung gebracht haben; die Ruhe des Friedens vernachlässigt
die seltnen und grosseh Männer, aber stürmische Zeiten ziehen
sie hervor und bilden ihre innerliche Stärke für umfassende Thaten
aus; jede Widerwärtigkeit gibt dem Menschen Gelegenheit zum
Sieg, zu höherem Steigen. Wer im Glück und Unglück denselben
Muth, dieselbe Würde bewahrt, der zeigt, dass das Glück keine
Macht über ihn habe. Das Schicksal und die eigne Thätigkeit des
Menschen müssen im Bunde stehn, Gott hilft nmr denen, die sich
selber helfen.
„Die* Kraft ist's, die den Völkern Frieden schafft,
Der Friede zeuget Muss', und Müssigkeit,
Hat manche Stadt' und Lande hingerafft.
Ist dann ein Volk zerrüttet eine Zeit
In Ausartung, so kehrt es oft zurücke
Noch einmal zu der alten Trefflichkeit.
MacdiuiTelli. ff^
So wiU di^ Ordnung dess, der die Geschicke
Der Menschheil lenkt, dasi siele Dauer niiiimer
Was unter dieser Sonne lelrt, beglücke.
Es ist, wkrd immer sein und war so immer,
Dass Gut auf Bös und Böses folgt auPs Gute,
Und Eins sHch pflanzet auf des Andern Trümmer.
Wohl giaubl- ich stets, dass Gift des Todes ruhte
In Zins und Wucher, dass die Fleischessünde
Der Erdenreidie Geisel sei und Ruihe,
Und dass si<^ ihrer Grösse Ursach finde
Im Wohlthun und im Beten und Enthalten,
Und dass hierauf sich ihre Hachl begründe:
Doch denkt, wer tiefem Sinn weis zu entfalten,
Diess Uebel gnüge nicht, sie zu vernichten,
Noch gnüge dieses Gut, sie zu erhalten.
Der Wahn, Gott wcrd* ein Wunderwerk verrichten
An uns, dieweil wir faul die Kniee beugen,
Huss Reich' und Staaten gar zu Grunde richten.
Wohl Noth ist's, vom Gebete nicht zu weichen.
Und sinnlos sind die sich zu stören freuen
Ein Volk in seinen heiligen Gebräuchen;
Denn wahrhaft scheint's, dass sie die Gründer seien
Von Zucht und Eintracht, und mit diesen war
Stets gutes Glück und fröhliches Gedeihen.
Doch Keiner sei so hirnlos ganz und gar.
Zu harren, wenn sein Haus den Einsturz droht,
Ob ihn ein Wunder rette vor Gefahr:
Ihn hascht in der Ruinen Sturz der Tod.^
Der Mensch kann das Schicksal unterstützen, nicht aber sich
ihm widersetzen; er kann seine Fäden spinnen helfen, nicht aber
sie zerreissen. Darum darf Niemand sich jemals selber aufgeben,
da er niemals sein Ende kennt, und da das Schicksal auf ver-
borgenem und krummem Pfade geht, so hat man immer zu hoffen
und nie sich selber zu verlassen, in welcher Noth man sich auch
befinden mag. Und Keiner zweifle daran, dass auch er das kann,
was Andere vermocht haben. So lehrt Macchiavelli in den Discorsi,
und im Principe sagt er bei der Untersuchung von der Frage, wie
viel das Glück über .die menschlichen Unternehmungen vermöge:
„Es ist mir nichl^ uobekwBtfi^ da» Viele daftr SDhtlti» kaben und
noch dafür hdlen, die tveltlkhen Dinge seien dorcb das Geschick
und durch Gott so unabfindeplich besthnml, dass die Menschen dabei
nichts zu ihrem VorAeil verijyBdern könnten und dürcbaus kejn
Gegenmittel hätten; dessh^Ib soll man aemes Sehweisses schonen
und sich vom Schicksal regieren lassen. Diese Meinung hat in
unseren Tagen grösseren Beifall gefunden, als je um der grossen
Umwandlungen tvilleU) die wir erlebt haben und noch alle Tage
erleben, weit hinaus Über alles ntenscliliche Vermuthen. Dieses
erwägend, hab' auch ich mich stanchnral ssu solcher Ansieht hinge«-
neigt. Wiederum aber, da und ja freier Wille verUehen ist, ur-
theile ich, es möge wohl wahr sein, dass das Ghtek über die eine
Hälfte unserer Handlungen entscheide, aber dass es die andere
Hälfte oder etwas /weniger unsrer Leitung überlasse. Ich vergleiche
dasselbe einem reissenden Strome, der in einem Ausbruche von
Wuth die Ebenen unter Wasser setzt, Bäume und Häuser darnieder^
wirft, hier Land abspült und dort es anschwemmt; Jeder flieht
und weidit vor seinem Zorn, ohne widerstehen zu können. Trotz-
dem aber ist es dem Mens(^en unbenommen, in ruhigen Zeiten
Vorkehrungen dagegen zu treffen durch Befestigung der Ufer und
Dämme, also dass, wenn er wieder anschwillt, er entweder in
einem If anale friedlieh abfliesse, oder sein Ungestüm wenigstens
nicht so schrankenlos und verderblich sei. Gleicherweise verhält
es sich mit dem Glück, das auch nur da seine Macht zeigt, wo
keine männliche Tugend zum Widerstand gerüstet steht, und seine
Angriffe nur nach der Seite wendet, wo keine Ufer und Dämme
dieselben aufhalten. Und wolltet ihr etwa näher hinsehen auf Italien,
den Sitz jener Umwandlungen, den Anziehungspunkt aller jener
Bewegungen, so würdet ihr finden, dass es ein Fdd ist ohne
Dämme und ohne irgend ein festes Ufer. Wäre dasselbe geschirmt
gewesen durch gehörige Tüchtigkeit der Menschen, wie Deutsch*-
land, Spanien und Frankreich, dann würde diese Ueberschwemmung
nicht so grosse Veränderungen hervorgebracht oder sich gar nicht
hierher ausgebreitet haben* Sodann glaube ich, dass derjenige
GIüd{ habe in seinen Unternehmungen, dessen Verfahrungsweise
mit der Beschaffenheit seiner Zeit übereinstimmt, Unglück aber
derjenige, der mit ihr im Widerspruche steht. Und da das Ghick
wechselt und wandelt, die Menschen aber unbiegsam bei ihrer
EigQnJäimächkeA heb»nen^ so flind m gliidükh» wem m «n ihr»
Zeit und deren Forderungen Mcb anschliessi^n, Do^h h(dte icb
allerdings dafUr, dass es besser $ei, ungestüm einherzugehen, ab
bedächtig, indem Fortuna ein Weib ist, die geschlagen und gei*
stossen iverden muss, wenn man sie unter sich bringen will) au^h
sidit mfm> dass sie sich dadurch eher überwinden Uisst, als durch
kalte Bedächtigkeit; überhaupt als Weib ist sie eine Freundin der
Jünglinge, weil diese weniger Rücksichten nehmen, verwegener
sind und ihr mit grösserer Kühnheit gebieten,^
Sokhe Worte üanden in Fichte's Srust voll Mänaerstolz einen
Widerhall; der deutsche Fhilosoph bemerkt zu obiger Stelle: ,»Der
schönste Glücksstern, der einem Helden ia's Leben leuchten kann,
ist der Glaube^ dass kein Unglück sei und dass jede Gefahr durch
feste Fassung und durch den Muth» der nichts, und wenn es gilt,
auch das eigne Leben nicht schont, besiegt werde. Gehe ein sol-
cher unter in der Gefahr, so bleibt es nur den Zurückgebliebenen,'
sein Unglück zu beklagen, er selbst ist nicht mehr zugegen bei
seinem Unglücke. So ist auch die würdigste Verehrung, weldie
der Mensch der über unsre Schicksale waltenden Gottheit zu brin-
gen vermag, der Glaube, dass sie reich genug gewesen sei, uns
also auszustatten, dass wir selbst unser Schicksal machen könnten;
dagegen ist es Lästerung, anzunehmen, das unter dem Regimente
eines solchen Wesens dasjenige, was allein Werth hat, an dem
Menschen, Klarheit des Geistes und Festigkeit des Willens, keine
Kräfte seien, sondern Alles durch ein blindes und vernunftloses
Ungefähr entschieden werde. Denke, könnte man dem Menschen
zurufen, dass du Nichts durch dich selbst seiest und Alles durch
Gott, damit du edel und stark werdest in diesem Gedanken, aber
wirke, als wenn kein Gott sei, der dir hdfen werde, sondern du
Alles thua müssest, wie er dir denn auch ki der That nicht anders
helfen will, als er dir schon geholfen hat, dadurch, dass er dich
dir selbst gab.^
Nach Römerart hat Macchiavelli sich um die letzten Gründe
überall wenig bekümmert; er gibt einige materialistische Erfabrungs-
sätze über Geschichte und Staat, ohne nach dem Prinzip und Zweck
zu fragen. Er sieht in dem Geschicke der Menschheit, wie der
Völker nur ^en Kreislauf. Am schönste drückt er diess in sei^
ner Fk)renttQischen Geschichte folgendermassen aus; ^Die Länder
120 MMohiavelU.
pflegtti m ihrem Krac^lauf von Ordaung zu Unordnong zu gelangea
und dann wieder von der Unordnung zinr Ordnung zurückzukehren;
denn da von der Natur den Dingen di^er Erde kein Beharren ge-
gönnt ist, so müssen sie, angelangt auf dem Gipfel ihrer VoUkom-*
menheit, wo sie nicht mehr aufsteigen können, herabsteigen, und
ebenso wenn sie herabgestiegen und durch Zerrüttungen zur äus-
sersten Niedrigkeit gelangt sind, müssen sie nothwendig, da sie
iHoht weiter sinken können, wieder emporsteigen, und so fälll
man immer vom Guten zum Bösen und erhebt sich vom Bösen zum
Guten. Denn die Kraft erzeugt Ruhe, die Auhe Müssigkeit, die
Müssigkeit Unordnung, die Unordnung Zerrüttung; und ebenso
entsteht aus der Zerrüttung Ordnung., aus Ordnung Kraft, aus
dieser Ruhm und gutes Glü(±. Daher haben weise Männer bemerkt,
dass die Wissenschaften erst auf kriegerische Rüsti^eit folgen und
dass in den Staaten und Städten eher Feldherren,, als Philosophen
auftreten. Denn wenn die gute und geregelte Kriegsmacht Siege
erzeugt hat und der Sieg Ruhe, so kann die Tapferkeit kriegs-»
lustiger Seelen mit keiner ehrbar^en Müsse als der der Wissen-.
Schäften verderbt werden, und mit keiner grösseren und gefalff-*«
volleren Täuschung, als mit dieser, kann sich die Müssigkeit
Eingang in gutgeordnete Städte schaffen.^ Wenn ein Volk diesen
lüreislauf nicht mehrmals wiederholt, meint er anderwärts, so liege
diess nur im Mangel an Kraft; dass aber die ganze Menschheit eine
Bestimmung und ihre Entwicklung ein Ziel habe, nämlich das freie,
volle Menschenthum oder die Gründung des Gottesreichs auf Erdad,
dass die einzelnen Völker vom Schauplatz abtraten, wenn sie eine
ihnen eigne Mission erfüllt hatten, dass wir keine Danaidenarbeit
thun, wenn wir das ursprüngliche Wesen unseres Geschlechts durch
freie Kraft selbstbewusst verwirklichen helfen, diese höhere Ansicht
der Dinge lag noch ausser dem Gesichtskreis Macchiavelli's. Es
mag eine richtige Beobachtung seiner Zeit gewesen sein, wenn er
behauptet, Jedweder, der einen Staat errichtet und Gesetze gibt,
müsse voraussetzen, dass alle Menschen bösartig sind und ohne
Ausnahme ihre Schlechtigkeit geltend machen werden, sobald sich
dazu eine Gelegenheit ündet, — aber der Staat wird dadurch zu
einem grossen Gefängniss, statt zu einem Hause der Freiheit, zu
einem Organismus der Sittlichkeit, und Keiner, auch der Polizei*
diener nicht, dürfte ohne Polizeidiener und Ketten ausgehen; es
MacchiaveUi. f%f
ist hier ganz ausser Achl gelassen, dass nicht die Ihierische, son-
dern vielmehr die vernünftige Natur des Menschen ein geordnetes
Gemeinieben verlangt, und dass das Gesetz meines eigenen Wesens
kein Zwang und keine Fessel für mich heissen kann.
Ursprünglich ist ihm der Staat nur aus dem Bedurfniss des
Schatzes gegen Feinde entstanden. Diess mag der üussere Aidass
sein, aber der innere Grund ist es nicht, dieser ruht auf der Noth-
w^digkeit der Vernunft. Als der Menseben mehrere wurden,
scfaaarten sie sich zur Vertheidigung zusammen und sahen sich
nach dem Störksten und Herzhaftesten um und machten ihn ^u
ihrem Haupt, dem sie gehorchten. Dieser nm setzt statt der
Wahlfreiheit die Erbfolge durch, aber indem die Monarchie in
Tyrannei ausartet, erheben sich die Angesehensten , stürzen dieselbe
und errichten eine Aristokratie. Bald sucht auch diese nur ihren
Privatvortheil, das Volk empört sich und gründet eine Demokratie,
aber diese wird zügellos und es schwingt sich wieder ein Herrscher
empor, und so gehts wieder von vorne. Dass nicht bloss durch
Schlechtigkeit der Regenten, sondern auch durch die gesunde Kraft
und wachsende Einsicht des Volks dieses zur Theilnahme an der
Staatsverwaltung kommt, dass audi wegen der erkannten Noth->
wendigkeit einer Concentrirung sämmtlicher Lebenssphären im
Staate Einer an die Spitze tritt, blieb leider unbeachtet. Damit
hängt zusammen, dass für Macehiavelli die Begriffe von Gut und
Bös, von Gerechtigkeit nichts an sich sind, sondern erst im Staat
entstehen, indem man das Nützliche und Schädliche alhnählig kennen
lernte und diesem letztem durch Gesetze zu begegnen suchte; in-
dem man Strafen gegen die Uebelthäter anordnete, kam man zur
Erkenntniss des Rechts. So wird nur die äussere Entstehungsweise,
nicht das innere Prinzip berücksichtigt. Sobald aber Macehiavelli
auf seinem eigentlichen Boden steht und die gegebene Wirklichkeit
als solche zu behandehi hat, erscheint die Energie seines Verstandes,
die Stärke seines Willens in staunenswürdiger Grösse.
Da fiadet er für die Geschichte das Gesetz „der Rückkehr zum
Zeichen.^ Alle Dinge der Welt haben ihre Grenze, diejenigen
aber legen ihre volle bestimmte Laufbahn zurück, welche ihren
Körper nicht zerrütten, sondern geordnet erhalten, dass er sich
entweder nicht ändert, oder, wenn er sich ändert, diess zum Heil
und nicht zum Schaden gereicht. Den Staaten und Secten aber
4M Mfl^chiaireUi«
dienen diejenigen Veränderimgen zum Heil, die sie auf ihr Prinzip
zurückführen, und daher sind diejenigen am besten eingerichtet
j und dauern am längste, wetdie sich mittdst üurer Ordnungen er-
; neuern können. Das aber ist bei dem allgemeinen Werden mkd
Wechsebi somiei^ar, dass Alles unterg^t, was sich nicht erneuern
kann* Diess geschieht aber durch die Zurückfubrung auf das Prin-
zip. Denn alle wsprUngliche Einrichtungen von Staaten und 6e-
Qossenschaften haben etwas Gutes, wodurch sie zuerst Ehre UAd
Gedeihen erlangen, und darum sind Umw'dzungen heilsam, welche
jenen eisten Keim des Ruhmes und der Grösse zu neuem Wadis-^
thum hervortretau lassen, so dass das Ursprüngliche mit frischer
Kraft wieder aufgenommen wird.
Da findet er den Tri^ des Fortschritts in der Natur begrün-
det, welche die Menschen in der Art geschaffen hat, dass sieAUes
begehren, aber nicht AUes erreichen k^^aoen; daher entsprmgt aus
dem nie ganz gestillten Verlangen ein beständiges .Weiterstreben.
Es hat die Bewegung zur Folge, die auch dem Staate so heilsam
als nothwendig ist. Wo die Säfte im Innern stocken, da kann sich
auch keine Macht nach Aussen betiiät%en; wo dagegen die Kräfte
reg und wach sind und im Wetteifer mit einander ringen, da ist
gesundes, starkes Leben, da sind gute Gesetze und Siege das
Resultat der Bewegungen. Gesetze aber machen den Menschen
gut, wie die Armuth ihn fleissig macht; gute Sitten bedürfen des
Gesetzes, um zu bleiben, das Gesetz bedarf der Sitte, um beob-
achtet zu werden. Das Gesetz ist Nerv und Leben des freien
Daseins. Der Staat mag bestehen, wo die verschiedenen Gewalten
} durch Gesetze wohl mit einander vermischt sind, so dass zugleich
I die- Regierungsformen, welche sonst auf einander folgen y oder bei
verschiedenen Völkern besteben, sich in gegenseitiger Dorehdria^
gung in ihm finden.
Da gibt er seinerzeit die grosse epochemaehende Lehre, dass
vor Allem die Einheit des Staates nothwendig ist, und die einzel-
nen Kreise und Momente desselben darum nicht für sich, sondern
oder nur als Glieder des Ganzen bestehen und wirken dürfen. Das
Gemeinwohl ist des Staatsmannes einziger Zweck, nur da ist Ge-
deihen, wo Alle nach ihm trachten. Und damit diese Einheit auch
in der Erscheinung sichtbar werde, ist es bei der Verwaltung
grosser Dinge das Heilsamste, dass der Oberbefehl in Einer Hand
Macehiavelli. 12S
ruhe, ist «s für den Ordner des Staats nothwendtg, dass er allein sei.
MaccbiavelH ist so voll von diesem Gedanken, dass er den Bruder*
mord des Romulus entschuldigt, weil dieser die That nicht aus Eigen-
nutz vollbracht habe, sondern für das allgemeine Beste, welches nur
in jener Einheit und Ganzheit besteht, die auch Einen Gründer verlangt.
Diese Idee der Staatseinheit und des Gemeinwohls will Mac-
chiaveUi durch seine Schriften in den Herzen seiner Mitbürger er-*
wecken y damit sie zur Rettung aus idien Nöth^ verwbrklicht werde.
Im alten Römmbum findet er jenes Zeichen, zu dem Italien zu-
rüdekehren müsse; aber Ein grosser Mann mOss es mit starker
Hand auf diese Bahn bringen. Darum schreibt et seine Disco rsi,
um in dem Staatsleben der Römischen RepuUick ein Muster aufou-
stellen, darum seteen Prinzipe^ dass ein kühner Geist, von
dieser Anschauung ergriffen, der Reformator seines Volks werde,
in beiden Büchern das Beste seiner Besitzthümer, das Wichtigste,
was eine lange Welterfahrung und fortgesetztes Studium ihn ge-
lehrt, dem Vaterlande darbringend.
Weil Macchiavelli an die Macht des Beispiels glaubt, so geht
ei die Römische Geschichte durch, und zeigt m den einzehien
Erzählungen des Livius, was die Akm gross gemacht: Einheit, i
OeffentKchkeit, freie Bewegung. Alle Einzelnen fanden im all-
gemeinen Wohl das eigne, darum wirkten sie gemeinsinnig zu-
sammen, und das Volk ist immer kühn und stark, wenn es zu-
sammenstdht. Die Freiheit ist Quell der Mächt, während das Volk
in der Knechtschaft weder Ruhm noch Reichthum für sich ge-
winnen kann, in der Freiheit aber Alles für sich thut. Die Oef-
fentlichkeit des Lebens macht die geheimen Verläumdungen un-
nöthtg un4 bildet ein erhaltendes Gesammtbewusstsein. Die Römer
hatten das rechte Gefühl, sidi nicht für gekränkt zu halten, wenn ]
der Eine heute diente, wo er gestern befohlen hatte. Sie zogen
sdbst in's Feld, sie fochten nicht für Geld, sondern für den eignen
Heerd, für die eigne Ehre, darum hatten sie ein Herz zur Sache,
und der Sieg war mit ihren Fahnen. Sie gingen rasch und ent-
schieden vorwärts, weil sie wussten, dass fremder Hochmuth nicht
durch eigne Erniedrigung, sondern durch kühnes stolzes Begegnen
überwunden werde. Sie drohten nicht, sie beleidigten nicht mit
Worten, was ganz nutzlos ist und nur den Gegner aufmerksam
macht und ihm die Stärke d^ Erbitterung gibt, sondern sie vhuren
^24 MacchiftTelli.
Männer der That. Sie erkauften Freundschaft nicht durch Geld, son-
dern durch Tugend und durch die Achtung, welche man ihrer
Macht zollte. Sie hielten fest auf dem Gesetz. Sie bewahrten in
Glück und Unglück dieselbe Würde. Sie fassten nicht bloss die
nahen Klippen in's Auge, sondern auch die fernen, an denen in
der Zukunft ihre Herrschaft scheitern könnte, und wussten den
Gefahren vorzubauen , zumal den kleinen Uebeln der Feme leicht
abzuhelfen ist, im Fortgang der Zeit aber sie immer grösser und
endlich unheilbar werden. Aus diesem Grund halfen die Römer
jedem Nachtheil, den sie vorhersahn, auf der Stelle ab^ und liesen
ihQ niemals wirklich werden ^ um etwa einen Krieg zu vermeiden,
indem sie wohl wussten, dass der Krieg dadurch nicht gehoben,
sondern nur, und- zwar zum Vortheil des Andern, weiter hinaus-
geschoben werde. Niemals hatte ihren Beifall, was man aus dem
Munde der Weisen unsrer Zeit alle Tage hören kann: die Wohl-
thaten der Zeit zu geniesen, — sondern sie folgten dem Geleite
ihres Muths und ihrer Klugheit, indem die Zeit allerlei Dinge mit
sich flihre und das Böse wie das Gute, das Gute wie das Böse
mit sich bringen könne. Endlich wo es sich um das Wohl des
Ganzen handelte, da dachten sie weder an Recht nobh Unredit,
weder an Milde noch an Grausamkeit, weder an Ehre noch an
Schande der Einzelnen, sondern fragten allein, wie die Freiheit und
das Leben des Vaterlandes könne gerettet werden.
Macchiavelli zeigt sich durchaus als einen Mann von volks-
thümlicher Gesinnung, als einen Freund der Freiheit. Des Volkes
Stimme gilt ihm für eine Stimme Gottes, der Mittelstand fär den
Kern des Staates; so herrlich ein Staatsordner, so hassenswerth
dünkt ihm ein Tyrann. Er hält das allgemeine Wohl, die Ursache
aller Macht, für gesicherter unter der Wache des Volks, als in d^
Hand einzelner Grossen; er erklärt das Volk fiir dankbarer und be-
ständiger, als diese, er bekennt offen seinen Republikanismus und
sagt ausdrücklich: „Wie die Staaten der Fürsten von langer Dauer
gewesen sind, so auch die Republiken, und beide haben nöthig
gehabt, durch Gesetze geordnet zu werden, denn ein Fürst der
thun kann, was er will, ist thöricht, und ein Volk das thun kann,
was es will, ist nicht klug. Betrachtet man also einen von Ge-
setzen beschränkten König, und ein Volk, das von Gesetzen ge-
bunden 'ist, so wird man mehr Tugend im Volk, als im Fürsten
MaochiavelU. |26
finden; spricht man von d^n Einen und von dem Andern als in
ungebundener Willkür, so wird man weniger Fehler im Volk als
im Fürsten finden, und diese wenigen w^den unbedeutender und
leichter zu heilen sein; denn zu einem zügellosen und ausgelassnen
Vott:e kann ein weiser Mann reden und es leicht auf den rechten
Weg zurüekleiten, mit einem schlechten Fürsten ist aber nicht zu
reden, und es gibt da kein andres Mittel, als das Schwert» Wenn
ein Volk losgelassen ist, so fürchtet man nicht die Thorheiten, die
es ausübt oder das gegenwärtige jUebel, sondern das drohende,
indem unter sokher Verwirrung ein Tyrann entstehen kann. Allein
bei schlechten Fürsten verhält es sich umgekehrt: man fürchtet
die gegenwärtige Noth und hofit auf die Zukunft, indem die Men-
schen sich trösten, anf sein scUechtes Treiben werde sich die
Freiheit pflanzen. Die Grausamkeiten der Menge sind gegen die
gerichtet, von denen ein Eingriff in das öffentliche Gut zu besorgen
ist, die des Fürsten gegen solche, von denen er einen Eingriff in
seui Privatgut fürchtet. Allein die allgemeine Stimme gegen die
Völker entsteht darum, weil von ihnen Jeder frei und furchtlos
übel spricht auch während ihrer Herrschaft, von den Fürsten aber
spricht man immer mit tausend Besorgnissen und Rücksichten.^
Dennoch muss Macchiavelli nach einem Fürsten rufen , der die Ver-
wirrung in Italien schlichte, die Parteien zerstöre und die Einheit
des Volks und Staats, die Souveränetät nach Innen und Aussen
herstellt! Er sagt selbst wiederum in den Discorsi: „Soll ein
Staat frei bleib«i, so muss er zu aUen Zeiten seine Ordnungen
dem veränderten moralischen Zustand des Volks anpassen. Diess
würde auf einen Schlag oder nach und nach geschehen müss^.
Für das letztre wäre nothwendig, dass ein Weiser aufstünde, der
die Inconvenienzen aus der Feme und in ihrer Entstehung er-
forschte; solcher Mäaner finden sich aber in ganzen Nationen oft
nicht Einer, und fünde er sich, so würde er sein Volk von der
Gefahr eines Uebels niemals überzeugen, das noch nicht gegen-
wärtig wäre. Zum plötzlichen allgemeinen Verändern der Staaten
aber gehören ausserordentliche Massregeln, Waffen und Gewalt.
Diess hat nicht minder Schwierigkeit, denn ein guter Mensch wird
sich nicht auf Kosten seiner Sittlichkeit zum Fürsten aufwerfen
wollen, und em schlechter wird, einmal Fürst geworden, nicht un-
eigennützig zum Besten seiner Unterthanen handeln wollen. Daher
126 MacchtflirelK.
scbeint eine solche Reform so tuiendticfa schwierig, ja anm<lglich
ta sdn. Und sollte es doch geschehen, das9sie irgendwo einträte,
dann ist die Einführung einer Monarchie imni^ ralhsamer, als die
cmer Republik, damit die ditrch Gesetze nicht mehr zu leitende
Menge durch königliches Ansehn geztigelt werde.*
Macchiavelli^s Auge ist im Buche vom Fürsten nicht Woss auf
Florenz, sondern auf ganz Italien gerichtet; er hat erkannt, dasd
Volk und Staat in Einheit sein müssen, wenn ein "gedefhliches
Leben beginnen soll, aber er findet nirgends die Tugend und Kraft,
die zu einer freien Verfassung ndthig sind, und sucht daher nach
einem bewaffneten Reformator, der die Politik der Römer, Gewalt
und List, ausübend die Feinde vertreibe, die Parteien vernichte
nad den Boden for eine Zeit neuen Gemeinwohls bereite. Solch
ein Mann ist sein Principe, und das Buch lehrt nichts wie
Tyrannen ihre Herrschaft gründen und befestigen sollen, wasBayte
darin sah, noch soll es die Satire auf das Fürstenthum sein, die
Andere darin witterten, noch hat es die Absicht zu lehren, was
die Menschen tn thun pflegen, nicht was sie tfaun sollen, wie
Bacon von Verulam glaubte, — sondern es ist auf jene Tage und
für Italien berechnet, und nur in ähnlichen Perioden der Schwäche
und Anarchie auch für andere Völker geschrieben. Die Krankbeil
des Staates hatte so um sich gegriffen, dass Arzneien nichts mehr
baifen und Feuer und Schwert beflen mudste; da verlangt MaccMa-
velli einen der Emporkömmlinge, der neuen Fünften, welcher mil
staiicer Hand die Zügel ergreife und als Staatengründer mit der
absoluten Gewalt verfahre, die hernach im geordneten Staate k^ne
^elle mehr hat. Die Richtigkeit dieser Auffassung beweis! sog^eicli
das sechste Kapitel, das wir mit dem dpeissigsten auTdem dritten
Buch der Discorsi zusammenstellen. Dort sagt er, dn kluger
Mann müsse stets auf der Bahn grosser Männer gehen mid das
Herrlichste sich zum Vorbild n^men, dass wenn seine Tugend «atk
dieses nicht erreiche, er doch einen sdiönen Preis gewinne, gleich-
wie ein guter Schütze in 4er Feme ilen Bogen höher rietet , als
die Scheibe, um -so das Ziel zu treffen. Darum schildert er als
solche, die durch eigne Kraft zur Herrschaft gelangen, einen
Moses, Cyrus, Rotnutas undThesons. Sie hatten vom Glück nichts
Anderes, eks die Gelegenheit, welche Ihnen den Stoff gab zur
Sinfghrung der Verfassung, die ihnen wohlgefiel, und ohne dielte
, ilacebifivelli. ^27
Gelegenheit hätte ihre Kraft mid Tttgend vergebens gearbeitet,
während ohne ihre Kraft und Tugend die Gelegenheit umsonst
gdionunen wäre. Darum mussle Moses das Volk Israel in der
Sklaverei der Aegypter finden, darum Romuhis ausgesetzt werden,
dass er an die Gründung einer neuen Stadt denken konnte, darum
Cyrns die Perser uneufrieden unter ier Herrschaft der verweich-
lichten Meder sehen, darum hätte Theseus die Athener nicht ver-
einigen k^nen, wären sie nicht zersU'eut gewesen. Der Geist
dieser Männer erkannte und ergriff die Gelegenheit, und so ward
ihr Vaterland gWcklieh. Und daher kommt es auch, dass die be-
waffneten Propheten siegen und die waffenlosen untergehen, weil
das Volk leicht iib^redet, aber schwer zum Beharren gebracht
wird, und so muss es, wenn es nicht mehr glanbeib will, mit
Gewalt dazu genöthigt werden können. Darum ging Savonarola
unter, weil er keine Waffen hatte und von seinen Anhängern, die
sie hatten, nicht verstanden wurde; darunf verfehlten andere Neuerer
ihren Zwec^, weil sie nicht die Macht besassen, den Neid und die
Hissgunst derer hinwegzuräumen, die sich zu allen Zeiten dem
Goten widersetzen. Aber Moses, der Gottb^nfene , kam zum Ziel,
weil er begriffen — wie Jeder einsidit, der die Bibel mit Verstand
liest — , dass, um seine Gesetze ei&zuftthren und seine Ordnungen
in Gang zu bringen, er den Geist der Widersetzlichkeit mit dem
Schwert «usrotten musste; und dodi ward er gewürdigt, mit Gott
zu reden, und es steht geschrieben, Gott selber habe ihm so zu
thun geboten f wie jene oben erwähnten Helden Angesichts der
Verhältnisse aus^ eigener Seele handelten. Sie sind es , die er als
Musl^ für seinen Fürsten aufstellt, nicht Cäsar Borgia oder Aga-
thokltf, vielmehr heisst dieser geradezu ein Mann, der nicht durch
Kraft «md Tugend^ sondern durch Ruchlosigkeit »nporgestiegen,
und an jenem rüinnt ar nur die Consequenz des Charakters, die
ihn über kleinliche Rücksichten erhob und durch die er in kurzer
Zeit in einer verwilderteil Provinz Sicherheit und Ordnung ent-
führte; aber wegen seiner Gnusamkeit und weil nicht das Heil
des Ganzen sein Ziel war, kann er nicht in der Reihe der Vor-
trefflidi0n stehen, sondern mir denen dn Muster sein, die mit
Glück und den Waffen Andeiter ein Reich erobern wollen.
Macchiavelli's Fürst ist «Ise ein bewaffneter Re-
formator des Staats, an wetehem das gesunkene Velk sich
4 2g MacchiavelK.
wieder erhebe« sali; die Noth der Zeit gebietet äim Härte und
Strenge, aber keineswegs im Uebermass und nur da, wo andere
Mittel erschöpft sind oder nicht ausreichen* Pie b^ste Festung soll
ihm die Liebe des Volks sein , ohne welche die Burgen nur schlech-
ten Schutz gewähren; durch Grossthaten, durcb hervorragende
Beispiele von Kraft und Miflh soll er sich Achtung gewinnen; als
Sieger soll er gerecht sein; er soll Ackerbau , Handel und Gewerbe
sicher stellen und fördern, sich als Freund, der Tugend erwasen
und die Männer der Kunst und Wissenschaft ehrenvoll auszeichnen.
Aber um die Herrschaft des ganzen Landes in seine Hand zu be-
kommen und das Volk zur Freiheit zu erziehen, steht ei* im&iegs-
zustand mit den Parteien, dieden^taat zerreissen, mit allen denen,
die nur das Ihre suchen, und solchen gegenüber kennt er kein
anderes Gesetz, als das Gemeinwohl. Man fühlt den Zorn Macchia-
yelli's über seine Zeit und die schwerverhaltene Biitterkeit., dass
er nicht in einer Periodfe freier Volksgrösse und ächter Bürger-
tugend geboren ward, wenn er sagt: „Zwei Arten gibt es zu
siegen und zu herrschen, die eine durch Gesetze, die andere durch
Gewalt; die erste eignet sich für Menschen, die. zweite für Thiere;
aber weil jene oft nicht ausreicht, muss man zu dieser seine Zu-
flucht nehmen." Desshalb nennt die Sage den Kentaur Chiron als
Lehrer des Achilleus, weil ein Fürst verstehen müsse, die thie-
rische und menschliche Natur zu gebrauchen. Wenn es aber noth-
wendig ist, das Thier gegen ein thierisches Geschlecht herauszu-
kehren, dann sei er Fuchs und Löwe zugleich, weil der Fuchs
die Stricke kennt und der Löwe die Wölfe sd^reckt, dann bedenke
er, dass derjenige irrt, welcher die Schlechten wie Edle behandelt,
und dass, wenn nur der Staat erhalten wird, die Mittel imnker für
ehrenvoll gelten, zumal die Bösen kein anderes Ma^s als ihr eige-
nes verdienen. Wo die Leute dem Scheine nachgehen, da wäre
es Thorheit, wenn der Fürst denselben nicht benutzen wollte.
Allein wo Härte und Grausamkeit geboten ist, da übe er sie auf
einen Schlag , damit er nicht immer das Messer in der Hand halten
muss, sondern sich auch als Wohlthäter erweisen kann,, was er
aUmählig und fortdauernd sein solL Sind Furcht und Liebe die
Triebfedern der Menschen, und reicht diese nicht aus, dann muss
man auf jene wirken. Das Ziel aber des Fürsten sei überall kein
anderes, als die doppelte Ehre, den Staat neu zu gründen und
MaechiaTelH. 129
durch gute Waffen und gute Gesetze ihn stark and glücklich za
machen.
Gervinus, der in seiner Geschichte der Florentinischen Histo-
riographie das Bach vom Fürsten auch als politische Tendenzschrift
auffasst, sagt hierüber: ^Um es mit einem Wort zu wiederholen:
Noth kennt kein 'Gebot — ist der Grundsatz des römischen Staats
und dieses Fürsten. Und obgleich ich weit entfernt bin, wie
übrigens MacchiavelU nicht minder ist, diesen Grundsatz vor jedem
Bichterstuhl vertheidigen zu wollen, so muss man doch gestehen,
dass der Blick eines grossen Mannes auf die Weltordnung in dieser
Hinsicht ganz ungemein verführerisch ist, man muss bekennen , dass
die grössten Männer aller Zeiten den Gott im Kleinen zu spielen
so sehr liebten, und dass eine eigenthümliche Eigenschaft des
Geistes dazu gehört, die leider mit so umfassenden Erfahrungen
und Einsichten sehr selten verbunden zu sein scheint, um in dem
Dünkel, d^r Vorsehung Scepter zu theilen und indem vermessenen
Eifer des Entwurfs der Unterjochung und Verschmelzung der Na-
tionen, sich zu besinnen, dass gerade in solchen Zeiten allgemeiner
Umwälzung am sichtbarsten der Mensch der leitenden Gottheit zum
Werkzeug dient, „die die kühnsten Entwürfe der Könige, ihr Spiel,
wenn nicht ihr Spott, gern an den schwächsten Fäden lenkt, ^
was Cäsar Borgia's eigne Worte sehr schön bezeichneten, die er
nach Julius II. Wahl zu MacchiavelU sagte : Er habe Alles erwogen,
was aus seines Vaters Tode entstehen könne, und habe für Alles
Auskunft gefunden, nur habe er nicht bedacht, dass bei dessen
Tode auch er tödtlich krank sein würde. Vergessen wir auch
nicht, dass selbst der Grundsatz: „die Zwecke heiligen die Mittel,^
nicht gerade mit Herzensgüte unvereinbar ist, und dass unser ge-
fühlvoller Dichter uns die bestaunten Charaktere eines Posa und
Mortimer hat zeigen dürfen, die doch eben auch dieser Maxime
folgen.^ — Und selbst Göthe, der Lust und Liebe die Fittige zu
grossen Thaten nennt, sagt einmalt „Jeder Weg zu rechtem Zwecke
ist aueh recht auf jeder Strecke;" Jean Paul vertheidigt die That
der Charlotte Corday, und Jakobi erklärt in feierlich schöner Be-
geisterung: „Ja, ich bin der Atheist und Gottlose, der dem Willen,
der nichts will, zuwider lügen will, wie Desdemona strebend log,
lügen und betrügen will, wie der für Orest sich darstellende Py-
lades, morden will, wie Timoleon, Gesetz und Eid brechen, wie
Jahrb. für speculat. Philo«. II. 9
130. Moccbiavelli.
Epaminondas , wie Johann de Witf, Selbstmord beschliessen, wie
Otho, Tempebraub unternehmen, wie David, — ja Aehren aus-
raufen am Sabbath, auch nur darum, weil mich hungert und das
•Gesetz um des Menschen willen gemacht ist, nicht der Mensch um
des Gesetzes willen; — mit d^ heiligsten Gewissheit, die ich in
mir habe, weiss ich, dass das Privilegium aggratiandi wegen solcher
Verbrechen wider den reinen Buchstaben des absolut allgemeinen
Yemunflgesetzes das eigentliche Majestätsrecht des Menschen, das
Siegel seiner Würde, seiner göttlichen Natur ist." , Es erinnert an
das alte Wort des Kirchenvaters: Habe caritatem et fac quid vis!
Wo äussres Recht und innre Sittlichkeit getrennt sind, da kann
es zu einer Collission von Pflichten kommen, da auch eine engel<-
reine Antigene getrieben werden, der Stimme des Herzens gegen
das Gebot der Stadt zu folgen. Darum müssen wir aus solchen
Tragödien die grosse Lehre ziehn, wie das Gemeinleben Gesetz
und Gewissen harmonisiren und den Geist als Herrn der Geschichte
anerkennen soll, damit die ewigen Prinzipien alles Seins, Freiheit
und Ordnung, innig einander durchdringend die Entwicklung der
Menschheit zu Glück und Gottesfrieden leiten.
Wägen wir den Macchiavelli auf der Wage seiner Zeit, die
an blutigen Thaten reich war, so werden wir ihn um so mehr
entschuldigen dürfen, wenii auch jetzt die Idee noch nicht allge-
mein durchgedrungen ist, dass man den Menschen den Kopf nicht
abschlagen, sondern aufsetzen und mit dem Herzen in Ueberein-
Stimmung bringen, dass man zur Humanisirung der Gesellschaft
mit der Bildung der Individualitäten beginnen müsse. Danken wir
der Vergangenheit, dass sie das rothe Meer des Blutes nicht ge-
scheut, um nach dem Lande der Verheissung hinzuwandeln, aber
halten wir es mit Mirabeau und freuen wir uns,, in einer Zeit zu
leben, wo dieser grösste Staatsmann des vorigen Jahrhunderts
seine weltgeschichtliche Sendung also verkündigen konnte: „Unsre
Schlachten sind die Worte der Wahrheit, unsre Feinde sind ver«
zeihliche Vorurtheile, unsre Siege werden nicht grausam sein,
unsre Triumphe von denen selbst gesegnet werden, die ihnen folgen
müssen. Die Geschichte hat nur zu oft nichts erzählt, al9 Thaten
wilder Thiere, unter denen man in weiten Zwischenräumen einige
Helden unterscheidet; es ist uns vergönnt zu hoffen, dass wir die
Geschichte der Menschen anfangen, die Geschichte von Brüdern,
Macchiavelll. |3j[
die geboren^ um sich wechselsweise glücklich zu machen, sogar
im Widersprach noch übereinstimmen, weil ihr Ziel dasselbe und
nur ihr Mittel verschieden ist. Wehe dem, der eine reine Ent-
wicklung stört und dem traurigen Zufall ungewisser Ereignisse das
Schicksal der Welt überliefert, das nicht mehr, zweifelhaft sein
kann, wenn wir Alle Alles von der Gerechtigkeit und der Ver-
nunft erwarten wollen!*
Mit ungetrübter Freude aber vernehmen alle Jahrhunderte den
patriotischen Aufruf Macchiavelli's, den er am Schlüsse seines
Buchs vom Fürsten an Lorenzo von Medizi richtet, und der unsre
Auffassung schlagend bekräftigt: „Wenn ich alle Verhältnisse er-
wäge, die in Italien einem tugendhaften und weisen Manne Ge-
legenheit geben, um eigne Ehre zu gewinnen und das allgemeine
Beste zu fördern, so scheint es mir, als wäre die Zeit für den
Schöpfer einer neuen Ordnung der Dinge niemals günstiger ge-
wesen. Und wenn, wie icih ein andermal gesagt habe, das Volk
Israel in der Knechtschaft der Aegypter sein mussle, damit Mosis
Tugend offenbar würde, und die Perser unterdrückt von den Me-
dem, damit des Cyros Seelengrösse an den Tag käme, und die
Athener zerstreut, damit des Theseus' Trefflichkeit sich zeigen
konnte; so war es gegenwärtig noth wendig, dass Italien von sei-
nem dermaligen Schicksal betroffen würde, und dass es in härtere
Knechtschaft fiel, denn die der Hebräer, in schmählichere Sklaverei,
denn die der Perser, in verworrenere Zerstreuung, denn die der
Athener, ohne Haupt, ohne Verfassung, geschlagen, ausgeplündert,
zerrissen, durchstreift, allen Arten der Gewaltthätigkeit und des
Hohnes preisgegeben, damit die Herrlichkeit eines Italischen Gei-
stes an das Licht komme. Und obwohl diesem Lande einmal eine
Hoffnung der Rettung entgegenschimmerte, so liegt es doch nun
wieder wie leblos da und wartet des Helfers, der seine Wunden
heile. Man sieht es flehende Hände zu Gott aufheben, um einen
Heiland, der es errette von der Grausamkeit und dem Trotz der
Barbaren. Man sieht es fertig stehen und bereit, einem Banner
zu folgen, wenn nur eine Hand sich fände, die solches ergriffe.
Auch sieht man nirgends Jemand, von dem es sicherer hoffen
könnte, als von Eurem erlauchten Hause, dass dieses sich mit
seiner Tugend und seiiiem Glück zum Haupt der Erlösung mache.
Sogar wird Euch das nicht schwer fallen, wenn ihr das Leben
* 9*
132 Maechtüvetln
und die Handlungen obengenannter Itänner stets vor Augen be-
haltet. Denn obwohl solche Männer selten sind und bewundruhgs-
würdig, so waren sie doch nichts mehr denn Menschen, und
Keinem war die Gelegenheit so günstig als Euch, und ihr Unter-
nehmen war nicht gerechter noch leichter, denn dieses, noch war
Gott mehr ihr Freund, denn der Eurige. Hier ist grosse Gerechtig-
keit, denn der Krieg ist gerecht, welcher nothwendig, und die
Waffen sind fromm, auf denen die einzige Hoffnung ruht. Hier
ist die höchste Geneigtheit Aller, und darum kann die Schwierig-
keit nur gering sein, wenn Ihr Euch nur an die Weise derer
haltet, die ich Euch als Muster aufgestellt habe. Gott hat schon
viel für Euch gethan, das Meer hat sich geöffnet, ein Volk hat
Euch den Weg gezeigt, es hat Manna geregnet, Alles hat zu
Eurer Grösse beigetragen: das üebrige müsset Ihr thun, denn
Gott will nicht Alles selber vollenden, um uns den freien Willen
und den Theil des Ruhms zu lassen, der uns zukommt. Nichts
aber bringt einem Manne s'olche Ehre, wie neue Gesetze und, neue
* Ordnungen, die er aufrichtet. Darum darf die Gelegenheit nicht
vorübergehen, dass Italien endlich nach so langem Harren seinen
Eriöser erscheinen sehe. Ich kann nicht aussprechen, mit welcher
Liebe ihn alle die Provinzen empfangen werden, die durch diese
fremden Ueberschwemmungen gelitten haben, mit welchem Rache-
durst, mit welcher unerschütterlichen Treue, mit welcher kind-
lichen Ergebenheit, mit welchen Thränen. Welches Thor würde
sich ihm verschliessen ? Welches Volk würde ihm den Gehorsam
verweigern? Welche Eifersucht sich ihm widersetzen? Welcher
Italische Mann ihm Ergebenheit versagen? Einem Jeden wendet
sich das Herz um im Leibe vor dieser Barbarenherrschafl. So er-
greife denn Euer erlauchtes Haus die^e Aufgabe mit dem Muth
und den Hoffnungen, mit .welchen gerechte Unternehmungen be-
gonnen werden, damit unter seiner Fahne dieses unser Vaterland
verherrlicht werde und unter seiner Führung sich jenes Wort
Petrarka's bewahrheite:
Der Muth wird sich erhebeil
Gegen die Wuth und bald ist ausgestritten,
Ein Zeichen, dass noch leben
In des Italiers Brust die alten Sitten 1^
MacchmelU. 133
Ab ieh vor sechs Jahren in Rom zuerst mit Macchiavelli ver-
traut wurde, ^ing mir sogleich die Anschauung von ihm in der
Seele auf, die ich hier dargestdlt habe, fortbauend auf dem, was
bereits Fichte und Gervinus in ihrer Weise mit verwandtem Sinne
erörterten. Noch immer handelt es sich um die Ehrenrettung des
Mannes; es gilt hier, vorurtheilslos einen grossen Geist in seiner
energischen Eigenthümlichkeit zu begreifen und ihm seine Stelle
im Entwicklungsgange der Menschheit, in der Erfassung ihres
Selbstbewusstseins anzuweisen. Die Geschichte hat seine Ideen
gerechtfertigt: Cromwell in England, die grossen Preussischen
Fürsten in Deutschland waren Männer, die des Staates Einheit im
Interesse des Volks in sich concenrirten, und wenn die Franzö-
sische Revolution auf Richelieu und Ludwig XIV. folgen musste, so
war es nur, weil diese den Gedanken Macchiavellis bloss halb
ausführten. Wir scheiden von ihm mit einem Urtheile Fichte's:
„Wie auch Jemand über den Inhalt der Schriften MacchiaveUi's
denken möge, so werden sie immer in ihrer Form, durch diesen
sichern, verständigen, klaren und wohlgeordneten Gang des Rä-
sonnements und durch einen ReicI^hthum an witzigen Wendungen,
eine sehr anziehende Lektüre sein; wer aber Sinn hat für die in
einem Werke ohne Willen des Verfassers sich abspiegelnde sitt-
liche Natur desselben, der wird nicht ohne Liebe und Achtung,
zugleich auch nicht ohne Bedauern, dass diesem herrlichen Geiste
nicht ein erfreulicherer Schauplatz für seine Beobachtungen zu
Theil wurde, von ihm hinweggehn.^
Gieiien.
Moria Carriere.
IV.
üeber
das miesen des Staatsgesetzes und die
Seliranken der Ciesetzgebuiig«
Zur Rechtsphilosophie.
Den ungestümen Anforderungen ded Zeitgeistes gegenüber hal
die positive Rechtsphilosophie Banqüerodte gemacht; ihre Gläubigen
haben sich, in der Hast der ei^sten Verwirrung, dem Sozialismas
oder Kommunismus in die Arme geworfen, und haben — ^ bei die*
ser mehr instinctiven Erk^nntniss — die dem Deutschen so unent-
behrliche dialektische Entwicklung weit liinter sich gelassen. Setzen
wir für eine kurze Frist die bestimmteren französischen und eng-
lischen Konstructionen (Fourier's, Owen's, St. Simon's, Proudhoii's
und Anderer mehr), welche schon zu festen Parteizwecken ausge-
wachsen sind, bei Seite, abstrahiren wir fiir einen Augenblick
selbst von der Noth der Zeit, von den praktischen Zielen der Ge-
genwart, den "Pressfreiheitsmolionen, den Bemühungen der ehren-
werthen konstitutionellen Vorkämpfer, kurz, begeben wir uns auf
den umfriedeten und vereinsamten Wahlplatz der so stille gewor-
denen speculativen Rechtsphilosophie, wir meinen speziell: die
He gel 'sehe, der alle anderen Rechtsphilosopheme der deutschen
Neuzeit in aufsteigender Linie verwandt sind , wenn sie nicht etwa,
wie die der Krause'aner, ganz ausser aller geistigen Entwicklung
stehen, um sich in Phantasmen oder SchönfüUerei zu verlieren.
Inwiefern ist in Erfüllung gegangen, was Eduard Gans in der
Vorrede zu seiner Ausgabe des HegeVschen Naturrechts prophezeihet
hat: „Als Theil des HegeFschen Systems vrird dieses Buch mit die-
sem Systeme selbst zu stehen und zu fallen haben; es wird auch
U^er das Wesen dt» Staatfgesetaei et«. 135
\ieUeichl noch ianeriialb desselben grosser Erlduterung^en, nuancir-
ler Aosarbeitung^en und bestimmterer Deutlichkeit fähig sein. Viel-
leicht wird es, wie das ganze System, nach vielen Jahren in die
Vorstellung und das allgemeine Bewusstsein übergehen: seine
unterscheidende Kunstsprache wird sich verlieren und seine Tiefen
werden ein Gemeingut werden. Dann ist seine Zeit philosophisch
um und es gehört der Geschichte an. Eine neue, aus denselben
drundprinzipien hervorgehende fortschreitende Entwicklung der
Philosophie thot sich hervor, eine andere Auffassung der auch ver-
änderten Wirklichkeit.^ Wie weit, d.h. wie wenig hier unter der
•^Vori$tellung^ und dem „allgemeinen Bewusstsein^ ein eigentliches
Volksbewusstsein verstanden werden darf, kann dem nicht lange
zweifelhaft sein, der den seltsamen und eigenthümlich tiefen Zwie-^
spalt kennt, welcher in Deutschland zwischen dem Volksthümlichen
und der Anschauungsweise der gebildeten Stände obwaltet. Zwi-
-schen dem Rhein und der Memel spricht die Literatur ihre aparte
Sprache, so dass es fast keinem Gebildeten trotz vielfacher Expe-
rimente gelingt, volksfasslich zu schreiben. Hier ist die Popularität
nur ein übernächtiger Traum oder ein misslungenes Buchhändler-
Unternehmen, die besten Gedanken und die tiefsten Denker sind
nur für Wenige da, einige pädagogisirende Hohlköpfe versuchen
ihr Glück bei der Masse! Dieses heillose Missverhältniss wirkt
selbst auf die Philosophie traurig zurück; das grosse Publikum der
deutschen Städte (vom flachen Lande gar zu geschweigen!) zehrt
heute erst von gewissen (neukatholischen} Tendenzen, welche der
deutsche Geist schon vor mehreren Jahrhunderten linder begriffs-
wässigen ^Auffassung der Reformation überwunden und .dann im
theologischen Rationalismus verflacht hat. Aehnlich geht es in der
Jurisprudenz, Nationalökonomie und Politik! Natürlich, wo die
ganze Nation nur in einzelnen Parzellen zu fassen ist, da ist Volk
und Volksthum eine blosse Abstraktion, welcher stets etwas Ver-
rostetes, Antiquirtes, Lebloses, kurz: nicht Existirendes unterge-
schoben wird. Also mit der fraglichen Popularisirung der HegeFschen
Ideen müssen wir uns in unsern Ansprüche^ sehr bescheiden.
Bekanntlich hinken die germanischen Katheder unserer geistigen
Entwicklang in verhältnissmässigen Distanzen treulich nach; wiq
einige rationalistische Professoren der Theologie den ganzen Pro-
testantismus in seine heutige Form umgegossen haben, so sind
136 lieber da* Wesen de» Stualsgeeetsei
theilweise und allmählig an die Stelle der alten Naturrechtssystene
ä la Pufendorf und Feder einige vage Ansichten getreten vom
Staate, der sich selbst Zweck ist und die höchste, die absolute»
organische und objective Gestaltung des Menschengeistes bedeutet,
während er zugleich vor allen anderen Rechtsformen eine Art von
Priorität des Gedankens behauptet, dann von der Entwicklung des
Rechtsbegriffs aus sich selbst, anhebend vom Besitzrechte, und
daraus die Rechtfertigung desEigenthums, des Erbrechts, bis end*
lieh sogar der konstitutionellen Mischformen im Staate — nach
Hegel. In der Rechtswissenschaft wie in d^ Theologie hat Hegd
am meisten gewirkt durch seine beruhigende, historische Betrach-
tungsweise^ und die „historische Schule^ zu Berlin würde ihn ge-
wiss als treuesten Bundesgenossen begrüsst haben, wenn nicht
p^sönliche Missgunst und totale Unkenntniss hemmend dazwisch^i
getreten wären. Es liegt im Wesen der beiden erwähnten, histo-
rischen Anschauungsweisen, die freie Reflexion und alles Verstau-»
deswesen, welches sich weiter keiner dialektischen Krücken und
weder der Rechnungsprobe durch die logischen Kategorieen, noch
der durch geschichtliche Analogieen unterwirft, als willkürlich,
unwissenschaftlich, kurz als gänzlich ungerechtfertigt zu verachten,
wogegen die freie Reflexion alsbald auch gegen die historische
Systematik vernichtend wirkt und bei den ersten Schritten der
Entwicklung aus derselben völlig heraustritt; die historische Schule
begreift sich selbst nicht. So ist das Prinzip der Nationalität weder-
von dieser gefördert worden, noch findet es in Hegel's Rechts-
und GcschicH{^philosophie irgend eine geeignete Stelle; selbst bei
der Behandlung des Positiven im Recht wird es nur beiläufig er-
wähnt, wie etwa die klimatischen und andere äusserliche Einflüsse,
welche alle, die nicht rein dogmatischen Seiten der Rechtsentwigk-
lung zusammengenommen, in jenes Prinzip aufgehen, — so dass
bei Hegel die Form des Gesetzes stets eine abstracto, unlebendige
bleibt. — Wo sind ferner die diametralen Gegensätze der römischen
und der germanischen Jurisprudenz erklärt, gewürdigt? Im
Gegentheil, Hegel kennt und erwähnt überall fast nur römische
Rechtssätze, während seine speculative Entwicklung sehr oft grade
mit der deutschen Rechtsgeschichte (von Familie zu Gemeinde, von
Gemeinde und Stamm zu Staat, Alles an und durch den Besitz) in
den glücklichsten Analogieen^ parallel läuft. Die Ersten, wdche
und die Sdiranken der Ge«eCEgebung ^37
sich an Hegel angeschlossen, verfuhren ziemlich gedankenlos (etwa
Gans ausgenommen}. Sie hätten so viel zu thun gehabt und sie
thaten Nichts. Sie sind Schuld, wenn man Hegel in mancher Be-
ziehung Unrecht thut. Seine Rechtsphilosophie hatte ja nicht durch*
gehends eine absolute Rechtfertigung des Bestehenden enthalten
sollen, sondern nur eine genetische Entwicklung, eine Erklärung
seiner bedingten Noth wendigkeit, nebst Polemik gegen die falschen
Begründungen der Freiheit, gegen die unbegründete Willkür. Zum
Beispiel: das Eigenthum ist allerdings der Anfang des Rechts^ das
erste Recht, in welchem die Person sich spiegelt, reflektirt; aber
ist damit schon Alles entschieden^ ist damit schon die unbedingte
und schrankenlose Geltung jedes JBesitzrechts ausgemacht, wo das-
selbe mit höheren Rechtsformen in Konflikt geräth? Sind diese
Konflikte schon dadurch gelöst, aufgehoben, weggewischt^ dass
man sie nicht statinrt? — Vielleicht sollte das Gerüste abgQbrochen
werden, nachdem das Gebäude einmal vollendet ist, vielleicht sollte
der Egoismus des Besitzers in dem Egoismus der Gesellschaft sich
auflösen, vielleicht! wer weiss I Noch ist Nichts bewiesen. Nichts
in letzter Instanz entschieden, Hegel's Naturrecht scheint mir noch
ein grossartiger Torso zu sein.
Bei Hegel ist der Staat ein Organismus, d. h. „Entwicklung
der Idee zu ihren Unterschieden.^ In diesem Sinne spricht man
viel von organischer Entwicklung in Verbindung mit Geschichte,
Gowohnheitsrecht, Rechtssitte u. s. w., und beutet diesen Begriff
meistens in der reaktionären Absicht aus , den Staat wie ein Natur-
gebild sich selbst zu überlassen und den bewussten Einwirkungen
des fortschreitenden Rationalismus, im höchsten Sinne des Wortes,
zu entziehen. Denn den Begriff des Organismus kennen wir nur
aus der Natur, der ihre eigenen Gesetze nicht bewusst werden,
nur da begegnet man ausgemachten Organismen. Wie unterschei-
det sich scharf in der intellektuellen Welt der Organismus vom
Mechanismus? Zum Beispiel in Bezug auf Assoziation und Kor-
poration? Die Selbstbestimmung (Autonomie) kann hier un-
möglich das entscheidende Merkmal sein! Einheit und Ursprüng-
lichkeit sind allerdings Merkmale eines Organismus, aber es gibt
auch überlebte Organismen, wo diese Merkmale nicht adäquat rea-
lisirt sind. ' Gerade nach Hegel ist der Staat ein aus den ver-
schiedensten Faktoren, die sich gar nicht für ihn von selbst ver-
138 iitlber da» Wesen des StaaUfe^eUef
stehen, zusammengesetztes Ding. Welche- Bepecbtigung hat der
Staat als Ganzles diesen Theilen gegenüber? Das ist die Frage
vom Wesen des Gesetzes*
Der Staat ist bei Hegel Selbstzweck; nichts Höheres, als er.
Aber was enthält der Staat? Wenn er aus verschiedenen Faktoren
zusammengesetzt, keine andere, keine höhere Aufgabe hat, uls
das Recht zu realisiren, was ihm vorhergeht und b^riffsmässtg
untergeordnet ist, Eigenthum, Strafrecht, Familie, das Eigenthum
anzuerkennen und zu sichern, die Strafe auszuüben, die Familie
und Gemeinde gegen Missbrauch und Verletzungen zu schützen, so
erscheint er wie ein blosses Mittel, das allerdings schon eine höbe
^sittliche Bildimg voraussetzt, er bedeutet alsdann nin^t mehr, als
viras bei Hegel die „bürgerliche Gesellschaft^ heisst, wir aber die
Gemeinde nennen . würden. ([Seltsam ist es, di^s gerade diejenigen,
welche vom Gemeinwesen so viel verlangen, die Sozialisten, den
Namen „Gesellschaft^ dem des „Staates^ vorziehen.} Wenn sich
aber der Staat, wie bei Hegel,' die Strafgewalt anmaßt, so liegt
schon darin, dass die Verletzungen der Sittlichkeit in gewisser
Beziehung verfolgt werden, ein höherer Inhalt des Staates bedtngl,
so wird damit das Prinzip einer höheren, geistigen Freiheit aus-
^gesprochen. Nach welchen Normen anerkennt , fixirt und vindizirt
der Staat die Ges^ze der Sittlichkeit? Das ist die Frage nach
den Schranken der Gesetzgebung.
Ueber und gegen H0gel ist schon so viel geschrieben worden;
suchen wir uns aus dem Zugegebenen und den Grundlagen des
Bestritten^i besamte Anhaltspunkte zu einem systematischen Fort-
schritte! Die Ismgsamen Sehritte führen vielleicht sicherer zum Zide,
als die übereilten.
So viel, i^ht fest,, das Gesetz setzt seinem Inhalte nach
einen Ausspruch des Rechts^efühls über eine Reihe von |Iandlungen
oder sonst menschlicher Verhaltnisse voi;aus, seiner Form nach
setzt es im Allgemeinen dasjenige voraus, durch das und für wel-
ches es gilt. In ersterer Beziehung ist es die Realität des Rechts, in
zweiter Bezidiung ilst der Staat seine Realität. Das Gesetz ist die
Anwendung des Rechtsgefühb (darum sagten auch die Römer vom
richterlichen Urtheü, dass es kgU n^icem habe u. s. w.); ab^ es
ist die Anwendung des Recbtägäfühls atif die ganze Reihe von
gleichen Fällen, weil das Gefühl des Rechts ohne Ansehen der
nad die Sehranken der Gesetigebang. |39
Person für jedes Verhältaiss der gleiehen Art dieselbe Balacbeidong
bewahrt. Insofern also das Gesetz eine allgemeine Anwendung des
Rechtsgefühls .'enthält, nimmt es einen abstracten Charakter an. Es
zieht das Rechtliche aus dem eimselnen Fall, an welchem das 6e^
fühl entstanden, heraus und beurtheilt nur dieses, wekhes auch
der Gegenstand sei, einerlei, ob der Gegenstand des Vindieations-*
rechtes ein Grundstück, oder ein Haus oder eine Perle, ob der
Gegenstand des Eherechts die gesddechttiche Verbindung Ton Bür-
gern, Bauern oder Fürsten gewesen sei. Je mehr das Gesels
dieser Anforderung genügt, welche das Volk so ausdrückt: ,|Was
dem {Emen recht ist, ist dem Andern billigt, — je abstractef in
diesem Sinne die Aussprüche des Gesetzes werden, desto mdir
entspricht es dem zum Gedanken der Gerechtigkeit entwickelten
Rechtsgefühl, desto vollkommener wird es. Man könnte sagen:
die französische Revolution hat nichts vollbracht, als eine weitere
Abstrahirung des Rechts, sie hat ungerechte Unterschiede aufge^
hoben, welche die positiven Institutionen dem natürlichen Rechts-*
gefbhl entgegen gestemmt hatten. In der That hatte ja vorher ein
Unterschied bestanden zwischen der Ehre des Standesherm und der
des Bauern, zwischen der Ehre des Hochadligen, Hochgebornen und
der des Gewerbtreibenden, und so fort in alle Verbältnisse hinein.
Die Entwicklung des Gesetzes seit jeher ist vom Besonderen zum
Allgemeinen. Erst war das Gesetz ein PrivUegium einzelner Fa--
milien, Stämme, Gemeinden, dann ganzer Provinzen, Staaten, aber
mit Standesunterschieden, und erst wenn auch diese wegfallen,
kann das Gesetz der Nation wahrhaft angehören. Zuletzt rücken
die Gesetzgebungen verschiedener Völker einander naher. — Was
in der vorhergehenden Periode als letzte Schranke galt, wird in
der nächsten schon überwunden. Was erst die Patrizier ausschliess«-
lich genossen hatten, mussten sie bald auch mit den Plebejern
theilen, z.B. das Jtts commerm ei cofmubn^ dann mit den Latinern^
Italienern, Peregrinen und endlich seit Caracalla mit der ganzen
bekannten Welt; das ehedem so ejschjsive Jus Qvirüarium wurde
mit Justittian selbst in seinen Grundsätzen verallgemeinert. Im
germanischen Rechtswesen schmnt die Tendenz der fortschreitenden
Bildung einzig darin zu bestehen,. Standesuntergchiede zu verwischen
und- das positive Recht der verschiedenen Klassen der Gesellschaft
durch Baiigkeit auszugleichen, gerade wie in Rom durch die Neue-*
j[^Q Ueber das Weien des StaatsgeselKCs
Hingen des Prätors; denn das strenge Recht trennt, aber die Kl-*
ligkeit (AeqUiku') versöhnt und vermittelt. In der Billigkeit ist
das strenge Recht durch Moralprinzipien gelindert und ausgeglichen,
gleichsam individualisirt. Und so sehen wir fernerhin, dass das
strenge Recht, nachdem es seinen Kursus der Verallgemeinerang
in die Breite vollbracht hat, beginnen muss, sich in die Tiefe Ztt
ittdividualisiren und den durch die Abstraction erstorbenen Buch-
staben des Gesetzes wieder durch Spezialisirung für die einzehien
Fälle zu beleben. Dazu gehört namentlich die Berechnung der.
moralischen Motive, die Abwägung der Absichten in Zurechnung
und Verschuldung, kurz, die Betrachtung der einzelnen Handlung
nach ihrem wahren Werthe und jedes Verhältnisses nach dem Maasse
seines sittlichen Gehalts und nach der Freiheit der Betheiligten.
Das Rechtsgefühl der ersten Volksgemeinden, welches sonst
unmittelbar für jeden einzelnen Fall ein neues Urtheil schöpfte,
wie^heut zu Tage der Despot thnt, wurde natürlich nicht ohne
alles Ansehn der Person geübt. Bald reichte überdiess das Rechts*
gefühl nicht mehr aus für die Mannigfaltigkeit der verwickelten
sozialen Verhältnisse. In der Aufstellung bestimmter Normen, eia
für alle Mal, lag schon der wesentlichste Fortschritt, der Anfang
des Gesetzes. Ob sie nun .geschrieben seien oder nicht, ist zu-
nächst gleichgültig; jedenfalls werden sie bald geschrieben sein,
denn es liegt in der Schrift, wie späterhin im Druck, ein noth«-
wendiges Postulat der entsprechenden Kultur. Die Schrift, welche
die Tradition auflöst zu bestimrotcirem Bewusstsein und damit den
patriarchalischen Zuständen den Hals bricht, (wie die Buchdruckerei
dem Pabstthum und wie die Abstrahirung der Staatskräfte durch
Pulver und Papiergeld dem Ritterthum!} gibt damit auch dem Ge-
setze eine bestimmtere Form der Allgemeinheit, welche später
noch durch die Druckerei zur wahrhaft nationalen wird. Vor dem
allgemeinen Gebrauch solcher Typen bedarf man des Gepräges von
Rechts -Ceremonien und förmlichen Handlungen (Actus kgitimi,
s. u. w.), welche sammt und sonders aus der alten Zeit der Tra-
dition her datiren. Das fortschreitende Rechtsbewusstsein verlässt
den Boden der Symbolik, in welcher sich meist rohe Naturzustände
abspiegebi, und wird natürfich im edleren Sinne, human, AUm
nützlich, d. h. gut und sittlich, während es vorher immer nur eip
Nothrecht einzebier bevorzugter Zustände dai|[estdll hatte. AU-
und die Schraitken der Geseltgebting. j[4j[
mäMicIi verschwindet auf diese Weise der Zwiespalt zwischen
Jurisprudenz und Ethik. Aber die Reaktion TUrchtet diese natttr*
liehe Entwidceluagr und hält das Romantische und Pittoreske des
Unterschiedes gewaltsam fest, obgleich dasselbe einer Kultur-
stufe angehört, auf der die Vernunft von der Phantasie darnieder-
gehalten wird. —
In dem Gesetze erhebt sich das Rechtsgefühl über sich selbst
iBid wird zum Rechtsbewusstsein. Es wird Allen bewusst} als
Allen Gemeines. Die Realität dieses allgemeinen Bewusstseins ist
eben der freie Staat. So weit erscheint dem Wesen des Gesetzes
sein Ursprung wesentlich, weniger seine positive Entslehungs-
weise. Nach dem Bisherigen steht das Gesetz über dem Recht und
höher, als dieses. Aber das Recht, unmittelbar aufgefasst, exi-
stirt gar nicht, so wenig, wie das reine Sein, das reine Nichts,
die Ichheit oder sonst irgend eine Abstraction. Entweder existirt
es bloss als Gefühl und dann unbewusst als Recht, nur in den
Individuen isolirt; (denn das Gefühl empfindet nur, was mein Recht,
sein Recht, in diesem oder jenem Falle Recht ist, nicht das Recht
in abstracto,) oder das Recht lebt im Bewusstein, und dann
schon als Gesetz. — Darum ist die Faselei und Schwärmerei der
historischen Schule, welche dem Gewohnheitsrecht mehr Ehrfurcht
erweist, als dem klar ausgesprochenen Gesetze, philosophisch.
nicht zu rechtfertigen. Das Gewohnheitsrecht besteht als Sitte,"
als die Praxis gewisser Stände, es irrt nicht in Bezug auf die
gegenwärtigen, oft sehr mangelhaften Verhältnisse, immer steht es
beinahe an niveau des Volkslebens, hat aber selten dauernden,
humanen Werth und ist namentlich neben einer prinzipiell ausge-
bildeten und unter freier Staatsverfassung fortschreitenden Gesetz-
gebung so wichtig gar nicht, als seine Verehrer gewöhnlich vor-
geben. Die Rechtssitte verhält sich zum Gesetz, wie der Natur-
trieb zur Vernunft, sie irrt nicht, wie das vom Instinkt geleitete
Thier nicht sündigt, denn der Irrthum ist ein Produkt der Reflexion,
wie die Sünde ein Produkt der Willensfreiheit ist. Das Gesetz
ist die nothwendige Grundlage des Staates und der Freiheit. —
Das Frölheitsbewusstsein , die menschliche Autonomie, aus der
as Jus humanuni — im Gegensatz zum früheren Jus divinum —
hervorgeht, muss mit den Bedürfnissen Jder Gesellschaft im Ein-
klang stehn. Im Recht liegt noch der WiUe Einzehier, in der 6e-
^jio lieber das Wesen des StaaUgesettea
setzgebimg spricW sieh der Gesanuntwille ans. Was das Recht
anlangt, so liegt im 'Besitz der Wille des Destinirenden, im Eigen-
thumsrecht der (sieb geg^seitig ausscUiesaende) Wille der Be-
sitzenden, im Vertrag (zum Beispiel im Tausch} der Wille der
Eigenthümer, in der Ehe der freie Wille der Gatten (sanst ist die
Ehe unrechtlich, ein Sklavenhandel!) Aber im Gesetz liegt der
Wille der Gesammtheit als solcher, mehr als ein Vertrag, mehr
als eine Assoziation. Denn die Gesammtheit ist an sich schon
unfähig, einen übereinstimmenden Entschluss aller Einzelnen zo
fassen; was die Gesammtheit erheischt, wollen nicht alle Einzelnen,
i/^as alle Einzelnen als ihr Interesse verlangen, ist vielleicht nicht
der allgemeine Wille im höheren Sinne, der . Vernunftwille. Und
was wirklich alle Einzelnen von selbst wollen, (z. B. den Genuss}
bedarf ja der gesetzlichen Bestimmung gar nicht mehr. Im Ueb-
rigen treten hierbei schon praktische Unmöglichkeiten hindernd in
den Weg: man rekurrirt statt an die Gesmumtheit, an den Be-
schluss der Majorität, allein das ist ein blosser Nothbehelf. Nicht
der Wille, sondern, die Vernunft soll herrschen, nicht herrschen,
sondern angewendet werden, gelten!
Nicht, was die Mehrheit will, sondern was die Gesammtheit
als Ganzes erfordert, ist der wesentliche Inhalt des Gesetzes. Na-
türlich kann nicht das absolut Vernünftige hiermit gemeint sein,
sondern, was unter den gegebnen Umständen für das Vernünftigste
gelten kann, das durch historische, nationale und andere Zustände
bedingt Vernünftige. Ob nun das Bedürfniss der Gesellschaft und
dessen Befriedigung auf dem Wege erkannt und entschieden werden
mag, welchen die „öffentliche Meinung^ weist, ob überhaupt die
öffentliche Meinung stets der eigentliche oder doch der adäquateste
Ausdruck des allgemeinen Willens der Gesellschaft ist, das eben
ist zunächst die Frage. Eine weitere Frage ist, ob die öffent-
liche Meinung zur wahren Erscheinung kommt durch Volksver-
sammlungen, Urwahlen, durch das Repräsentativ -System in dieser
oder jener Form, oder durch die freie Presse und was damit zu-
sammenhängt ?
Jedenfalls ist das festzuhalten, dass in einer staatlichen Orga-
nisation nicht die Masse der Einzelnen, sondern der Geist des
Ganzeh ausgeprägt werden muss. Diejenige Organisation des
Ganzen, welche die Einzelnen frei und glücklich machen könnte,
und ^ die Schranken der Gesetzgebung. |43
ist bis jetzt nur anf negative Weise gesucht und erstrebt worden.
IMe historischen Reminiszenzen in ihrer direkten, unmittelbaren
Einwirkung sind ein Moment der Unfreiheit, in ihrer absichtlichen
Anwendung bedeuten sie die Selbstverlängnung der autonomen Ge-
genwart, während Recht und Gesetz doch stets gegenwärtig zu
sein, die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft darzustellen
haben, den „Geist der Zeit.* Dass die Staatsform, welche den
Einzelnen seiner Autonomie beraubt, wie Despotie, Monarchie,
Aristokratie, Oligarchie, Klerokratie, Hierarchie u. s. w* unseren
idealen Anforderungen widerspricht, versteht sich von selbst. Denn
Glück, Freiheit, Bildung sind untrennbar verbunden, in der Idee,
wie in der Praxis. Also ein Postulat ist die Autonomie des Gan-
zen, ein anderes die Selbstthätigkeit und Selbstbestimmung der
Individuen. Darum haben sich die constitutionellen Systeme bisher
bescheidentlich damit begnügt, das Mögliche zu leisten und eher
die Theilnahme der Einzelnen, die Berechtigung der Personen dar-
zustellen, als die lenkende Weisheit für das Ganze, um so an-
nähernd das allgemeine Recht in dem Rechte Aller zu verkörpern.
Denn unbestreitbar kann das Ganze nur von Einzelnen vertreten
werden und ist realisirt in den Individuen. Gut, aber in welchen?
In Allen! la, aber nicht in Allen gleichmässig, so lange Bildung,
Interessen, Gewerbe himmelweit divergiren und die Glieder des
Staatswesens nach allen Dimensionen scheiden und trennen. Viel-
leicht, ja wahrscheinlich ist selbst die öffentliche Meinung nur der
Ausdruck einer mächtigen Minorität, oft kann auch die öffentliche
Meinung irren, wenn sie, wie bei uns, dem Bestehenden, dem
Besitze dient und nothwendig dienen muss. Aber freilich ist sie
trotzdem die letzte Instanz, weil es keine andere gibt. Kommt
man auf diesem Wege zu einer Aristokratie des Geistes, des
Genies? Nein, im Gegentheile dazu, dass der Begriff des Staats,
das Wesen des Gesetzes, nur verwirklicht werden könne, bei all-
gemeiner Volkserziehung, gleichmässigen Institutionen und sich
ausgleichenden Interessen. Das Gesetz kann nur durch das Gesetz
gerettet werden. —
Wie stehen dagegen die Sachen heut zu Tage? Korruption,
Fälschung, Selbsttäuschung überall, Staat und Regierung zu Ha-
zarde -Spielen herabgesunken, die nationale Ehre der prunkende
Deckmantel für geheimfe Hungersnoth und Verzweiflung, das Geld
j|[^ lieber <iRB Wesen des SMiato^eseUes
herrscht, statt des Geistes, die Rechte des Gemüihes^ in der
Familie, die Ansprüche der Kapazitäten werden gewaltsam darnie-
dergehalten, statt der Volksbildung — Prachtmoseen , gelehrter und
ungelehrter Luxu^I Das Individuum leidet Noth, der Staat schwelgt,
aber die Gemeinschaft, die Gesellschaft wird wiederum (zum Bei-
spiel bei Eisenbahnbauten) von wenigen Individuen ausgebeutet,
ausgewuchert. Wo ist die Autonomie des Individuums bei sol-
chen Zuständen, in denen Jeder 'seine Spontaneität verloren und
weder seines Glückes, noch seines Slrebens Herr ist, wo die All-
gemeinheit die Charaktergrösse nicht dulden darf und das Genie
nothwendig Egoist ist?! Selbst in der französischen Revolution,
wurde die Unfreiheit, die Sklaverei nur durch die Willkür ver-
hüllt!
Man glaube nicht, dass wir auf ein supranaturalitisches Staats-
system lossteuern, weil wir weder auf die alleinseligmachende
Gewalt der Majoritäten, noch auf ihre absolute Berechtigung
schwören. Wohl sprachen wir der Masse die relativ höchste Be-
rechtigung zur Gesetzgebung zu, unter Anderen aus dem ein-
fachen Grunde: weil die' Unvernunft isolirt, die Vernunft aber ver-
eint. Denn, wenn auch unter 100 Stimmen gewiss höchstens 15
vernünftige Leute sein werden, so werden diese 15 vernünftigen
sich doch leicht vereinigen, während von den 85 Uebrigen Jeder
seine eigne Narrheit behaupten wird. Zwei kluge Menschen haben
sich manchmal vereinigt, aber in allen Tollhäusem der Welt kamen
nie zwei fixe Ideen auf dasselbe Resultat hinaus! Die Majorität
ist der Nothbehelf für den Gesammtwillen, aber die Majorität
selbst mag vielfach eine blosse Fiktion sein. Abgesehen von
dem Zufallsspiele der Stim^ien in den parlamentarischen Ver-
sammlungen, wo die Krankheit eines Mitglieds ftir die Gegenpar-
thei den Ausschlag geben kann, selbst abgesehen vom constitutio-
nellen Zensus und anderen positiven Einrichtungen der Art, wie
viel Gebildete gibt es heute unter den Unabhängigen und wie
Viele, oder vielmehr wie entsetzlich Wenige, deren Interesse mit
dem Interesse eer Gesammtheit harmonirt?! Die Bedürftigen, für
welche die Gesellschaft vol^zugsweise zu sorgen hätte, sind ohne-
diess überall hintangesetzt. Ehedem nahm man es als sich von
selbst verstehend an, dass sich die Minorität der Staatsfreiheit opfern
müsse, der Majorität, hätte man sagen sollen. Was die absolute
niMl dl« Sdirdnk^n der Geselz^ebaifgf. j[45
Mdjoriföt sogar bei den vortrefflichsten Zuständen betrifft, ^ mnss^
zum Beispiel, sdbst in der freiesten Republik das Stimmrecht von
einem gewissen Alter abhängig sein. IHe zu diesem Alter Heran-^
wachsenden sind also nothwendig zwischen einer und der anderen
Urwahl unvertreteii« Die Alles und vieles Aehnliche zusammen-«
gefasst beweist, dass es auf den absoluten Willen nicht ankommen
kann, sondern auf gewisse, unveränderlidhe Grundnormen, welche
stäriLor und ewiger sind, als die Gewalten und die Behörden^
Damm ist das Mythische ^ Religiöse, welches in der Vorstellung
des Staates lag, der mit seiner ewigen Dauer vernichten kann und
selbst unverletzlich erscheint, in der Geschiebe der Menschheit von
den woMthätigsten Wirkungen gewesen. Das wirklich Ewige im
Staat ist der Nationalverband und die Humanität im Begriff des
Gesetzes. Der Streit, wdcher gegenwärtig geführt wifd, um Ge-*
meinden oder Phakuisteres an die SteHe des Nationalstaates zu
pflanzen, beruht auf der krassesten Verkennung des Naturlebens
der Menschheit.
Aber dass der Staat ein Nationalverband ist, eine ganze Nation
umfassen soll, ist nur Motiv und Prinzip seiner äusserlichen Be-^
gränzung, freilich «ausgeprägt in Sprache, Sitte uiid Naturbedttrfniss^
zum Beispiel: in dem Masse der Ausgleichung von Ackerbau- und
Industriekräfteni Aber höher steht es, dass der Staat ein rein
menschlicher V^band ist. Für das Gesetz ist nur die bewusste
Anforderung des Mensohenthüms eine giUtige. Des einzehnen Staa**
tes Gesetz soll und muss dem bewussten Ideal entsprechen , welches
diese bestimmte Nation von der Humanität in sich trägt, als ob es
eigentlich für die ganze Menschheit gelten könnte. Darum er-^
kannten die klassischen Völker nur ihre Gesetze als vernünftig an
und erklarten alle anderen für barbarisch, bis die Römer den Kern
des Jus gemkm aus der positiven Form des Jtu eküe abschälten.
Die modernen Gesetzgebungen sind sich ohnediess näher gerückt^
so dass kein Exclusivismus dieser Art mehr Gefahr droht. Das
Gesetz der alten Welt hat au^h den Menschen der Staatsidee, dem
Staatszweeke geopfert, der moderne Mensch will eben seine Mensch-*
lichkeit in der sozialen Verbindung gesichert, garantift wissen,
keine politische Gottheit soll ein Opfer von ihm fordern, im Gegen««*
theil muss der Staat zur freiesten Entwicklung der Individualität
dienen. Die alten Staatsgötter hat Christus gestürzt, der moderne
Jahrb. für RpeeaUt. Pbiles. I. 1. tO
W^ lieber dm Wesen des Slaiilsg(»jiel'xes
Staat ist wesentlich atheistisch, atheistisch und menschlich! ^La
M est a^^e^*^ ist schon eine neue französische Rechtsparömie.
Die Kunst ist weltlich geworden, um nicht unterzugehen. Jetzt
kommt die Reihe an das Gesetz. — Der Staat hat mich glücklich
und frei zu machen, mich, nicht als Preussen oder Badenser, son-
dern mich als Menschen, menschlich glücklich. Der Endzweck des
Staates ist nidht der Staat, sondern der Mensch, aber nicht dieser
und jener bloss, auch nicht alle gegenwärtig lebenden, anwesenden
Menschen, und so allein ist der Staat allerdings sich selbst Zweck,
wenn er die volle Realität des Menschenthums als seine Aufgabe
crfasst. Das ist etwas mehr, als was im Privat- und Strafrecht
bisher ausgeprägt wurde, oder in unseren Gerichts- und Reprä-
sentations Verfassungen, die sich doch (selbst in Hegel's ausser-
weltlicher Auffassung der Slaatsidee) niemals über die Realisrrung
jener beiden Rechtszweige erhoben baben. Abstrahiren wir von
jeder ultra -mundanen Auffassung des Staates, so kann das Indivi-
duum demselben nur dann wahrhaft verpflichtet sein, wenn es sich
in demselben auch in seise volle Rechtssphäre eingesetzt sieht,
wenn ihm seine totale monsehliche Bestimoning im Staate g'e-
währleistet ist. Der Staat kann nickt verlangen,- dass der Einzelne
sich dem Andern opfere, also auch niiM den Anderen, nicht dem
Gammen. Im Einzebien liegt dieselbe LebensfäBe mensdilicherEnt*
Wicklung, wie im Ganzen. Bin Roman kann so viel enthatten, wie
ein Geschichtsbuch. Wenn also der Bürger sich dem Wohle des
Gemeinwesens hingibt, so kann es wahrhaft nur unter der Voraus-
setzung geschehai, dass die Interessen des Einen und die dos
Ganzen dieselben seien und er sich vielmehr seinem hMieren Selbst,
seiner eigenen Begeisterung hingebe. Freie Menschen wird das
Gesetji nie vermögen können, sich im Kriege blind auf das Kom-*-
mando hin gegettscitig zu sddachten. Beruhen unsere Maaten auf
solchen Forderungen, nun, so Mridersprechen sie eben dem Geiste
der nächsten Zukunft!
Der Staat darf auch durch kein Gesetz den Menschen in seinem
Innersten an einem Punkte beschränken, resp. verletzen, wo er
nur mit sich allein veikehrt: keine Majorität der Welt kann der
Glaubens-», Gewissens-, Denkfreiheit gesetzliehe Grenzen ziehen,
wed^ direcl, noch indirect. Demi dafür kann die Gesellschaft dem
sittlichen und geistigen Einzelteben gar keinen Ersatz bieten. Em
und die Schranken der Geseizgebong. 1 A7
Staat, der zu seinem Staatsbürgerthum, zur Erfüllung der Staats-
pflichten, der Religion oder gar einer bestimmten Religion bedarf,
spricht sich in seinem eigenen Gesetze das Urtheil, dass er, un*
Yermögend auf eigenen Füssen zu stehen, seine Bestimmung nicht
erfüllt und seine Autononue verwirkt hatl
Wenn der Staat den ganzen Menschen umfasst, nicht wie sein
Eigenthum oder mcmapiwn, sondern um ihn zu Blüthe und Frucht,
zum vollsten Gedeihen zu treiben, so folgt daraus von selbst, dass
der Staat das höchste Interesse daran hat, keine Thätigkeit und
keine Kraft unentwickelt oder unbenutzt zu hssen. Die Kräfte
und Fähigkeiten aller Einzelnen werden durch die weise Fürsorge
der Gesammtheit in der allseitigsen Vermittlung zu Produkten der
Gesammtbeit, und so erhält dieselbe ein Recht auf die Individuen,
welches scheinbar dem Satze widerspricht, dass kein Individuum
der Gesammtheit geopfert werden dürfe. Aber die Auflösung dieser
scheinbaren Dissonanz liegt schon in dem Begrifi'e der Gesammtheit.
In der heutigen Weltordnung' werden selbst diejenigen der
Gesellschaft hipgeopfert, welche vorzugsweise ihre Kräfte geniessen
und an ihrer Spitze stehen, denn der Genuss einer organischen
und normalen Kraftentwicklung ist Niemanden vergönnt. Der herr^
sehende Liberalismus dieser Tage besteht darin, bei aller Schein-'
heiligkeit den Staat nur zu fürchten, ungefähr wie der alte Jude
seinen Gott scheute, statt ihn zu lieben. Darum kommt der Staat
von gestern und heute nicht weiter, als bis zum ^Laissez faire et
kUsseii passer^; diese viel berufene, hohe Weisheit bedeutet aber
nichts weiter, als das: von oben geschützte Faustrecht des Geldes,
demgemäss man sich nicht um die Wohlfahrt des Einzelnen beküm-
mert, wenn sich nur die Güter im Ganzen aufhäufen, was man
denn Nationalproduktion nennt. Ist mtm so weit, so verbitten sich
die im Vortheil Befindlichen jede „Einmischung der Obrigkeit,"
und diese iVb^i- Intervention wird für Gerechtigkeit ausgegeben.
Wozu dient der Staat, wenn Jeder sich selbst helfen muss?! —
Wohlan, die Arena ist eröfiuet, der Kampf beginnt, aber sind die
Kampfregeln, die Bedingungen Allen gleich, Allen gerecht?! —
Und ist der Staat nur für den Stärksten da?! — Sollte die Gesell--
Schaft nicht auch sittliche Pflichten übernehmen, eine soziale Har-
monie organisiren dürfen? Oder gibt es Einzelrechte, welche
dieser Harmonie im Wege stehen? Ich glaube: der Staat müsste
10*
|io lieber das We^en des Staatsgesetzes
gewaltig 4 die Gesetzgebung umfassend sein, gerade damit der Ein-
zelne nicht beeinträchtigt werde; denn so oder so, auf jeden Fall
sind alle individuellen Schicksale als Resultate der gesellschaftlichen
Zustände auch diesen zur Last zu schieben. Man meint, sicher
zu gehen, wenn man dem Staate nur die negativen Einwirkungen
gestattet, aber die Geselisdiaft verhält sich niemals bloss negativ
zu den Zuständen der Individuen, ihre Gesetze sind Freund oder
Feind, immer aber Partei! Wo ist die Schranke der Gesetzgebung,
welche den Staat zwingt-, die Verletzungen gegen das Eigenthum
zu ahnden, nicht aber die Verletzungen durch das Eigenthum, den
maskirten Wucher, die Konkurrenz auf Mord, die Aushungerung
der Proletarier, die Agiotage, die Spekulation mit unentbehrlichen
Lebensmitteln? Warum kann das Prinzip, welches die Benutzung
der Wälder unter die Aufsicht und Kontrole der Obrigkeit stellt,
nicht auch auf den Ackerbau, auf Handel und Wandel überhaupt
ausgedehnt und angewandt werden, da doch die Molive fast ganz
dieselben sein würden?! Der Verkehr ^ der vom Staate geschützt
wird mit Diplomaten, mit Schiffen und Soldaten, hungert oft die
Familien eben dieser Soldaten aus -- und unterdrückt die Industrie
ihrer Brüder.
Diese Fragen stelle ich hier nichts um ihren materiellen Inhalt
hier zu erörtern, sondern um darauf hinzuweisen, dass das Gebiet
der Gesetzgebung formell nicht so leicht zu begrenzen ist. Leicht-
sinnig haben die meisten Rechtsphilosophen und Politiker gefaselt
von den Schranken der Gesetzgebung, von dem beschränkten Rechte
der Staatsgewalt, wobei tnan gewöhnlich eine auf Willkühr ge-
gründete Gewalt im Sinne hatte, der eigentlich gar kein Recht
beizumessen war, dann von dem Unterschiede zwischen Moral und
Recht, wobef gewöhnlich nur an das abstracto Civilrecht gedacht
ward. — Nichtsdestoweniger ist der Gesetzgebung längst eine rein
sittliche Aufgabe zuerkannt: zum Beispiel verbietet das Gresetz die
Piicta iurpia und die* enormiter lädirenden Verträge, doch wohl,
weil das formelle Recht des Kontraktes ^ als ein nichtiges w^^fällt,
wenn es im Widerspruch mit der Sitte und der Gerechtigkeit steht,
und weil es der Sinn jeder freien Handlung ist, dass Niemand gegen
seinen eigentlichen Willen und zu seinem direkten Nachtheil handle.
Dieses Prinzip müsste weiter auf einen grossen Theil des Verkehrs
ausgedehnt werden, damit die Güterwelt bevormundet, die Men-
uod die Schranken der Gesetzgebung. 149
schenwelt aber zur Mündigkeit erhoben werde. — Oder betrachten
wir die Einflüsse des Gesetzes auf das Familienrecht: das Gesetz
z. B. verbietet den Incest, die Polygamie, es erschwert die Eheschei-
dung. Und warum? Doch wohl, um das Familienrecht gegen
zerstörende Angriffe zu schützen, es zu erhalten nach sittlichen,
religiösen Normen, oder nach den Gesetzen der Natur. Letztere
sollten dnrchgehends die massgebenden sein. Aber die menschliche
Natur hat eine Seite, die geistige nämlich, deren innere Gesetze
nicht so unmittelbar erkannt werden können, wie die des anima-
lischen Lebens. Zum Beispiel: der thierischen Natur des Menschen
widerspricht weder der Incest, noch die Polygamie, wohl aber der
ausgebildeten ethischen Natur des Menschen. In der Negation der
Polygamie liegt nun erst die Festigkeit und Dauerhaftigkeit der
Ehe. Die einfachen Naturgesetze hat der Staat in der Verwirrung
der Gesellschaft festzuhalten, die höheren, ethischen Gesetze aus
den verwirrten gesellschaftlichen Zuständen heraus zu erkennen
und zu statuiren; jene sind die Gesetze des Menschen, des Natur-
menschen, diese die Gesetze der Menschheit, der Gesellschaft.
Einerseits könnte eingewandt werden: „Was die Natur schon ver-
bietet, bedarf nicht des verbietenden Gesetzes, denn kein Geschöpf
handelt gegen seine Natur, auch gibt es in der Natur keine Aus-
nahmen, nur scheinbare Anomalien!^ — Nichtsdestoweniger stellt
die Natur manchmal allgemeine Grundsätze auf, die erst aus dem
Erfolg erkannt werden, z. B. wenn geschlechtliche Verbindungen
in zu nahen Verwandtschaftsgraden als minder fruchtbar und ver-
derblich für die Generation sich ausweisen. Andererseits kann das
positive Gesetz unmöglich allen Bedingnissen der absoluten, sog.
„göttlichen Gerechtigkeit^* entsprechen, weil es eben positiv ist.
Z. B. sitzt der Verbrecher nur eine halbe Stunde zu lange im Ge-
fangniss, so ist ihm ein unersetzbares Unrecht geschehen, aber
wo ist der absolute Massstab für die Strafe, nach irgend einer
Strafbegründungstheorie? Oder geschieht dem jungen Manne, der
schon^ vor dem gesetzlichen Volljährigkeitstermin die gehörige Reife
zum selbstständigcn Handeln erreicht hat, kein Unrecht damit, dass
er noch bevormundet wird? — Aber man kann nicht für jeden
Einzelnen eine andere Frist ansetzen, oder etwa die Verjährungs-
zeiten nach jedem einzelnen Fall abmessen. — Nein, im Wesen
des Rechtes und der Billigkeit liegt die Anforderung, dass diese
AKfk UeJ)er daß \Ycsen des Staatsgesetzes
positiven Seiten, für welche es keinen absoluten Massstal) gibt,
für Alle gleichmässig voraus bestimmt werden , dass Jeder 3ie vorrr
herwisse. Hier geschieht dem Einzelnen also leicht ein kleines,
unberechenbares Unrecht, weil eben alles positive Recht dieser
Art nur in beschränkter Weise von der Gesellschaft realisirt werden
kann. Aber für die rein sittlichen Verhältnisse kann eine solche
Wilfkühr der Gesetzgebung nicht statuirt werden. Da könnte man
den Satz aufstellen, dass es besser sei, sie zu wenig, als zu viel
zu berühren, wenn nicht gerade die Aufgabe der Gesetzgebung
darin bestünde, solche Verhältnisse von jeder willkührlichen Ein-
wirkung fern zu halten, in ihrer eigenen Integrität zu eriialten,
Ein gleichsam liberales Prinzip hat der schlechten Positivität des
Gesetzes bisher ein Uebergewicht über die absoluten Berechtigungen
gegeben; man glaubte nämlich, durch den todten Buchstaben sich
vor der Willkühr des lebendigen Richters zu sichern, als wäre die
Tyrannei veralteter Gesetze nicht eben so grausam , als die Tyrannei
der Menschen, und ist sie nicht gefährlicher, alsder Irrthum, schon
durch den Misskredit, in welchen die wichtigsten Institute der Ge-
sellschaft dadurch gerathen? Die Grenze zwischen dem gesetzlich
Festzustellenden und dem dem richterlichen Arbitrium zu lieber-
lassenden , zwischen dem Gesetzlichen und dem Schiedsrichterlichen,
ist um so schwerer zu ziehen, als die Gesetzgebung durchaus nicht
einmal den geringsten Theil aller möglichen Fälle voraussehen kann,
sondern nur die Grundbedingungen der Gesellschaft darzustellen
hat. Wenn das Gesetz alle Fälle voraussehen soll, schleicht sich
bald die Willkür des Gesetzes ein, wie in England, wo die Ge-
setze für einzelne Fälle entstanden sind. Das ist das Land, in
welchem jedes Statut eine wächserne Nase hat, wo die Gesetz-
gebung nie ruhen darf, mit der Rechtssitte in ewigem Kampfe liegt
— kurz, das gelobte Land der historischen Schule. In Frankreich
herrschen Gesetze, weil die Gleichheit des Rechts in Frankreich
zur Leidenschaft des Volks geworden ist. Im französischen Natio-
nalcharakter ist mehr lebendiges Rechtsgefühl, im englichen mehr
dogmatischer Rechtssinn.
Die Gesellschaft bedarf zu ihrer eigenen Garantie allgemeiner
Normen, schon desshalb, weil die menschliche Natur sich nicht im
Einzelleben konsumirt, sondern nur im Gesammtleben. Das höhere
Selbstbewusstsein, alle Andacht und alle Spekulation sind Nichts,
und diu Schranken der GeteUgebiiiif. \H.
als das Bewusstsein der Menischheit, deren Glied der einzelne
Mensch ist^ während jedes Thier Tür sich da ist. Das Gesetz ist
die natürliche Norm dieses Gesamintkdrpers. Um so mehr muss
es auch eine völkerrechtliche, weltbürgerkche Seite haben, als das
IndividHUffl in der Nation nie ganz aufgi?ht und der geistige Wir«-
koflgskreis des Menschen über alle Grenzen hinausschweift. Um
so weniger darf das Gesetz der individueüeo Freiheit entgegen
strebe, weil nur das ßir die Menschheit ist, was von Individuen
mit Freiheit gewollt wird« Aber diese Freiheit bedarf, der Pflege,
des Schutzes gegen die Willkühr. Der Mensch, der nur seinen*
eignen Vortheil will, als bornirter Egoist, ist ein Thier, der
Mensch, der freiwillig seine Wohlfahrt opfert^ ein Engel, ein Un-
ding, mehr von der Rdigion als vom Staate inspirirt. (Unter
Opfer verstehe ich freilich nicht die unbedingte Hingebung an die
Idee 9 sondern die Selbstveraichtung, den Selbstmord auf Befehl.)
Die Idee der Gemeinschaft muss also belebt und fruchtbar gemacht
werden, und zwar durch das Gesetz. Aber dazu bedarf das Gesetz
keinen religiösen Nimbus, keinen mysteriösen Ursprung und Cha-
rakter; nur einfach der durchgreifenden Nützlichkeit. Dazu genügt
es nicht, dass man von dem Satze ausgehe, der Staat sei ein fer-
tiger Organismus, sondern dass man beginne, die Gesellschaft
wirklich zu organisiren, nach dem wesentlichsten Inhalt des Volks-
lebens, nach Arbeit und Bedürfniss. Man foage nur beim Kleinsten
an, aber man verfolge die Ausgleichung aller Interessen mit Kon-
sequenz uud Ausdauer! — Die Aufgabe, welche die Philosophie
längst der B;eligion abgerungen, die Vereinigung der Menschheit,
wird nun den praktischen Wissenschatten in die Hände gelegt
werden. Die ersten „Landfrieden^ rotteten allmählig ein Stück
Krieg und Isolirung nach dem anderen aus und eroberten der Ge-
sittung neues Terrain, jeder wahrhafte Fortschritt in der Gesetz-
gebungskunst ist ein weilerer Friedenstraktat der Menschheit. Die
letzten Schlachtfelder der Menschheit, die letzten Wahlplätze der
Barbarei sind die Märkte, ist der Verkehr, — hierher scheine,
hier dringe durch, du befruchtende Sonne der Gerechtigkeit! —
Was die alten Demokratieen mit ihren Leges agrariae und
Luxusgesetzen vermocht, wagen wir nicht mehr, denn das einzige
Recht, welches wir absolut und unbedingt gelten lassen, ist das
Eigenthum, just das relativste Recht, dessm Inhalt der Form (und
j[|^2 Ueber dai Wessen des Staatsgesetzes eic.
dem Prinzip), ein ganz gleichgültiger, äusseriicher ist, das — in
ewiger Flüssigkeit — nur Yeräusserliches zu seinem Gegenstande
hat; das steht den unveräusserlichen Menschenrechten vor. Wir
glauben hier keine Grenze ziehen zu dürfen, obgleich wir wohl
einsehen ; dass die Gesellschaft gerade hier der normativen Grenzen
noth wendig bedarf. Aber wir fürchten uns, die ' Grundlage des
gesammten positiven Rechts anzugreifen, denn unsere ganze posi-
tive Jurisprudenz ist bisher nur Dialektik des Besitzes und Eigen-
thums gewesen. Das unmittelbare Eigenthum, die sog. Detentioq,
existirt freilich, wie man s£^t, vor der Gesellschaft, oder genauer
ausgedrückt, abgesehen vom Staate, wenn audi nicht ohne den
Staat. Aber diese Rechtssphäre hat mit der Zeit' eine ganz spiri—
tualistische Ausbildung erhalten, weil es auf eine abnorme Weise
vor allen anderen Gliedern des Gesellschaftskörpers entwickelt
worden ist. Die Dialektik des Werthes, das Geld und der Kredit,
also rein gesellschaftliche Schöpfungen, haben diesem Moloch AUeB
geopfert. Setzen wir einmal an die Stelle des Privateigenthums
den Begriff der Gesellschaft! Freilich, bisher ist die ganze Ge-^
Seilschaft noch auf dem dümmsten und genussärmsten Egoismus, auf
die feindseligste Isolirung erbaut, daher ein Krieg Aller gegen
Alle, ein ewiges Verbieten der Gesetze, ein ewiges Ankämpfen,
eine systematische Opposition gegen das Gesetz! Denken wir uns
die Gesellschaft auf das gemeinsame Interesse gebaut, so wäre
zwar die Menschennatur keine veränderte, aber wir hätten für
unsere Deductionen doch ganz andere Kräfte, eine verschiedene
Weltanschauung und einie andere Bildung zu berechnen!
Heidelberg.
9r* 1I> ■• Oppenbelm»
V.
Phllesephlsehe Betraehtiinsen.
Von
Dr. I. A. CL Voigtlaender.
]\achfolgende BetrachtuBgfen, fiir deren jede, wie aus den
Ueberschiiften zu sehen, ein besonderer Gegenstand gewählt ist,
haben einen gemeinschaftlichen Zweck, in Bezvtg auf welchen sie
einander zu ergänzen bestimmt sind. Wenn also in der einen oder
anderen Voraussetzungen gemacht, nicht aber in ihr selber auf-
gehoben oder begründet sind, so wird der aufmerksame Leser,
dem es nicht entgeht, in wiefern die einzelnen, dem Anscheine
nach selbstständigen Betrachtungen einander ergänzen, dazu wenig*
stens eine Andeutung in ihnen finden, je nachdem ihr gemein-*
schaftlicher Zweck solche gestattet. Diesen gemeinschaftlichen Zweck
durch die Ueberschrift zu bezeichnen, dazu vermochte der Verf.
weniger einen hinreichenden Grund zu finden, als fiir das Gegen«
theil. —
I. fJelier die Grensaeii der besonderen Wissenschaften»
Kant sagt:*^) ^Es ist nicht Vermehrung, sondern Ver«
unstaltung der Wissenschaften, wenn man ihreGrenzen
in einander laufen lässt.** Die hierin aufgestellte Forderung
♦) Krit. d. r. Vern. 1790. Vorrede, S. Vlll.
j^54 Philosophische Betrachtungen.
an die Bearbeiter der Wissenschaften zu machen, dazu wurde
Kant, durch den Hinblick auf die Behandlungen , welche der Logik
zu Theil geworden, bewogen; doch nicht bloss dadurch. Denn dass
ihm die Logik, wie er sie bearbeitet fand, verunstaltet schien, kam
daher, dass er die ihr zu Theil gewordene Gestalt auf eine andere,
welche er für die wahrhaft wissenschaftliche Gestalt der Logik
hielt, bezog. Diese letztere scheint nun nach Kant die zu sein,
welche die Logik durch Aristoteles erhalten; doch woher wusste
oder woraus schloss Kant, dass gerade diese die wahrhaft wissen-
schaftliche Gestalt der Logik sei? Er verglich sie mit seiner
eigenen Idee von der Gestalt der Logik. Was Kant an den Be-
arbeitern der Logik, gegen welche er obige Forderung aufstellt,
zu tadeln hat, ist also im Grunde nichts Anderes, als dass sie die
Logik nicht seiner Idee gemäss behandeln. Allein was ist diesem
Idee? woher stammt sie? Kant muss uns, nach seinem Standpunkte,
der „die Einschränkung aller nur möglichen speculativen Erkennt-
niss der Vernunft auf blosse Gegenstände der Erfahrung*'*)
fordert, die Antwort schuldig bleiben, indem er sich darauf be-
schränkt, dass er jene Idee, wie noch andere, z« B* die Idee voa
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, in sich finde und zu ihr sich^
glaubend verhake, dass er glauben könne, indem er durch
Aufhebung des Wissens zum Glauben Platz bekommen.**) Nun
aber ist etwas aus blosser Erfahrung schöpfen und etwas btoss
finden ein und dasselbe; die Idee der Logik ist also für Kant ein
blosser Gegenstand der Erfahrung, so dass er im Grunde eine Er-
fahrung um der anderen willen verwirft, denn wie seine Idee, so
fand er auch die ihr nicht angemessenen Gestalten der Logik.
Fragen wir nun, wodurch Kant bewogen sei, eine Erfahrung
der andern vorzuziehen, so muss er uns antworten: durch ein
praktisches Interesse. Diess bestimmte ihn, die Erfahrung,
die er in sich machte, derjenigen, zu welcher er sich nur äus-
serlich verhielt, voi-zuziehen. Das innere Verhalten ist also,
nach Kant, Massstab für das äussere. Er würde sonach die Be-
arbeiter der Logik, gegen welche er obige Forderung aufstellt,
mit Recht tadeln, wenn dieselben in der Behandlung der Logik
ohne Idee von dieser verfahren wären, d. i. sidi bloss äusserlkh
*) A. a. 0. S. XXVI.
♦*) Ebend. S. XXX,
Phifosephtsche Betnichtufigeii. |55
verhalten hätten. Diess aber durfte er, aus praktischem Interesse,
nicht voraussetzen; denn aus praktischem Interesse niusste er dem
sogenannten kategorischen Imperativ AUgemeingüUigkeit zuschreiben;
er mosste also glauben, dass Jeder, wie er selber, zu sich spreche :
Du sollst dich von innen heraus, d. i. nach der Idee, die du in
dir findest, bestimmen. Doch möge sich Kant hierin verhalten,
wie er wolle, in Bezug auf die Idee, nach deren Ursprung und
Wesen wir fragen, folgt dasselbe. Tadelt er jene Bearbeiter der
Logik, dass überhaupt keine Idee von dieser sie geleitet habe,
so spricht er damit aus, dass die Idee für den Menschen nichts
Unmittelbares, sondern etwas Gesetztes sei, dass er sie nicht
in sich finde, sondern sie setzen müsse; tadelt er sie dagegen,
dass nicht seine Idee sie geleitet habe, so erklärt er damit eben*
'^falls seine Idee für etwas Gesetztes, denn er erklärt, dass es
nicht genüge, irgend eine Idee von der Logik zu haben und
sich von ihr bei der Bearbeitung dieser leiten zu lassen, sondern
dass die Idee der Logik selbst in der Behandlung dieser sich offen-
baren solle. Der Bearbeiter der Logik soll also nicht dem gleichen,
der nach willkürlich gewähltem Ideal etwas bearbeite, noch dem,
der 'zwar das einzig wahre Ideal vor Augen hat und darauf hin
und wieder achtet und darnach arbeitet, sondern die Idee soll
sich setzende Idee sein.
Die Forderung Kant's, dass man die Grenzen der Wissen-
schaften nicht in einander laufen lassen solle, führt also auf die
Forderung, dass man die Grenzen der Wissenschaften bestimmen
solle. Brauchte man letzterer Forderung nicht zu genügen, d. i.
wären die Grenzen der Wissenschaften von vorn herein be^
stimmt, so hätte man in diesem Ealle allerdings, damit im Grunde
Alles abgemacht wäre, ein leichtes Spiel; dann bedürfte es der
ersteren Forderung in Wahrheit gar nicht, da sie ja nur den Sinn
hätte, man solle das Bestimmte nicht als Unbestimmtes be-
trachten. Wer die Grenzen der Wissenschaften in einander laufen
lässt, beweist eben dadurch, dass dieselben für ihn noch nicht
bestimmt sind, oder dass, was dasselbe ist, für ihn es noch gar
nicht besondere Wissenschaften gibt. Insofern eine Wissenschaft
nicht von vorn herein vollendet ist, sondern dazu wissenschaftlicher
Forschungen bedarf, insofern ist auch die Bestimmung ihrer Gren-
zen Sache wissenschaftlicher Untersuchungen.
156 Plulosophiäche Betrachtungen.
Bevor wir indess näher darauf eingehen, worauf es bei der
Bestimmung der Grenzen der Wissenschaften ankommt, berück-
sichtigen wir in aller Kürze den Tadel, den diese Betrachtung
jedenfalls von Seiten derer erfahren wird, nach welchen, wo nicht
Alles, so doch wenigstens gar Vieles, als für immer abgemacht zu
betrachten ist, wozu sie vor Allem die Bestimmung der Grenzen
der Wissenschaften rechnen. So sagt ein im Fache der Heilkunde
berühmter Forscher*): „Es muss eine Philosophie geben ,^ die wahr
ist und die man überliefern kann, wenn nicht jeder Mensch sein
Leben damit zubringen soll, alle Systeme von vorne durchzu-
prüfen.^ Es fragt sich also, ob nicht in Bezug auf die Bestim-
mung der Grenzen der Wissenschaften jenes „diess gilt für mich,
und ßir euch alle^ Anwendung finde, so dass es genügt, wenn
Einer dabei sein Leben zugebracht. In der That meint von
Feuchtersieben, Kant habe „jeder Wissenschaft ihr Prinzip
und ihren Umfang angewies.en,**)^ so dass in dieser Hin-
sicht Alles als abgemacht zu betrachten. Doch möge v. Feuchters-
ieben hierin Recht haben, sowie darin, dass die Philosophie seit
Kant keinen wesentlichen Fortschritt gemacht, weil ein solcher
Fortschritt nicht möglich sei:***) so ist doch jedenfalls die Philo-
sophie keine Sache, die man überliefern könnte, sondern es
muss selber philosophieren, wer in ihrem Gebiete Besitzungen
erlangen will. Sollen die Grenzen der Wissenschaften für mich
bestimmt sein, so genügt es nicht, dass Kant sie bestimmt hat,
sondern ich selber muss sie für mich bestimmen. Ob nöthig sei,
dass man, um ein Philosoph zu werden, alle Systeme von vorne
durchprüfe, oder ob das Philosophiren noch etwas Anderes sei,
als ein blosses Prüfen der Ansichten Anderer', werden wir weiter
unten in Betracht zu ziehen Gelegenheit finden; hier genügt zu
bemerken, dass keine Wahrheit wahrhaft für mich sein könne,
es sei denn durch mich. Kant's Ansichten, sowie die vieler
Anderer finde ich vor und kann sie lesen und acceptiren, doch
♦) Dr. Ernst Freiherr v. Fenchtersleben. Lehrbuch der ärztlichen Seelen-
kunde. Wien, 1845. S. 52.
♦») Ebend.
•**) üeber den Fortfichritt der Philosophie werden wir in unserer dritten
Betrachtung zu sprechen Gelegenheit haben.
Philofl^iche Betrachtmigeil. |57
sollen sie wirfclidi meine Ansichten werden, so muss ich sie mir
selber verdanken.
Jede besondere Wissenschaft amfasst eine Menge von Gegen-
ständen, welche jedoch nicht an sich, sondern nur insofern sie
gewusst werden, eine Wissenschaft bilden, d. i. diese ist das
Gewasstsein derselben. In ihrem Gewusstsdn stehen die Gegen-
stände im Verhältniss zum Bewusstsein; es kommt also darauf an,
diess Verhältniss näher zu bestimmen.
Zunächst ist festzuhalten, dass das Bewusstsein als Ein Be-
wusstsein die Gegenstände einer Wissenschaft umfassen müsse.
Um uns diess zu veranschaulichen, setzen wir als die Gegenstände
einer Wissenschaft: a, b, c, d, u. s. f. und denken uns diese ver-
theilt an die beiden Bewusstsein A und B, Diese Gegenstände
bilden so offenbar nicht Eine Wissenschaft, denn eine Wissen-
schaft bilden sie nur in ihrem Gewusstsein, welches, der Vor-
aussetzung nach, als an A und B vertheilt, keine Einheit bildet.
Umfasst also das Bewusstsein A alle jene Gegenstände, so muss
es sich zu ihnen als Einheit verhalten. Gesetzt ferner, es sei a
unmittelbar auf A bezogen, und ebenso b, c, d, u. s. f., so dass
alle diese Gegenstände zwar auf ein und dasselbe Bewusst-
sein bezogen sind, jedoch unter einander in keiner Beziehung
stehen, so muss A nothwendig in sich selb^ zerfallen als Aa,
-Ab, Ac u. s. f. und zwar in der Weise, dass es als Aa von sich,
als Ab, u. s. f. schlechthin getrennt und als Aa, Bb, Cc, u. s. f.
zu bezeichnen ist. , Wenn also das Bewusstsein als Ein Bewusst-
sein die Gegenstände einer Wissenschaft umfasst, so müssen die-
selben in ihm unter einander in Beziehung stehen.
Eine Wissenschaft, sagten wir, ist nur das Gewusstsein der
Gegenstände; doch muss diess das Gewusstsein der Gegenstände
selbst sein, d. i. diese müssen als das gewusst werden, was sie
an ihnen selber sind. In ihrem Gewusstsein als Wissenschaft
bilden sie eine concrete Einheit, d. i. eine Einheit, in der sie von
einander unterschieden, aber ebenso auf einander bezogen sind.
Die Gegenstände einer Wissenschaft müssen also an ihnen selber
eine concrete Einheit bilden. Wie sie an ihnen selber zu dem
gehören müssen, was überhaupt wissbar ist, so müssen sie als
Gegenstände einer besonderen Wissenschaft an ihnen selber in
diese gehören. Sie bilden also Gegenstände einer besonderen
^58 PhiloftophiscHe Belradiitinfen«
Wissenschaft^ gleichgUllig , ob sie überhäufet gewusst werdEen oder
nicht, ob Ein Bewusstsein sie umfasse oder ob sie an mehrere
vertbeib seien.
Dass wir uns in dem so eben Gesagten in einem Widerspruche
befindefi, ist leicht einzusehen« Denn einerseits haben wir die
Wissenschaft aufgefasst als das Gewusstsein der Gegenstände;
diese können also nur, insofern ^ie gewusst werden, Gegeiv-
stände einer Wissenschaft sein. Andererseits sind die Gegenstände,
wie wir sagten, an ihnen selber, d. i ohne gewusst zu wer-
den, Gegenstände einer Wissenschaft. Allein was macht das aus,
dass wir uns in einem Widerspruch befinden? Diess haben gar
Viele mit uns gemein, und &war Viele, die es nieht einmal wissen,
wie wir. Man meint z^v^ar, man habe jemanden widerkgt, wenn
man nachwetee, dass er sich in einem Widerspruch befinde; allein
mit dem blossen Nachweis eines Widerspruchs ist sehr. wenig
geleistet. Deiin soll der Widerspruch in irgend etwas die letzte
Entscheidung geben, so muss er ja, der nicht sein soll, in sich
selber seinen Grand haben und alles Andere begründen» Will man
also gegen jemanden, der sich in einem Widerspruche befindet,
etwas ausrichten, so muss man diesen nicht bloss aufweisen, son-
dern ihn zu Grunde ridhten, d. i. ihn lösen. Um einzusehen, dass
es einen Widerspruch, der nicht gelöst werden könnte, gar nicht
geben kann, braucht man sich bloss selbst zu verstehen, was frei-
lich nicht eines jeden Sache ist. Ein Wider^uch ist nämlich ent-
weder grundlos, oder er hat einen Grund. Ein grundloser Wi-
derspruch hebt sich selbst auf; denn er kann nur ein schein-
barer Widerspruch' sein. Hat aber ein Widerspruch wirklich einen
Grund, d. i. nicht einen bloss scheinbaren, so ist er im Grunde
schon gelöst; man braucht, um ihn zu lösen, ihm bloss auf den
Grund zu gehen.
Der Widerspruch, in dem wir uns .befinden, ist also nicht
zu beseitigen, sondern zu losen. Die Gegenstände sind an
ihnen selber Gegenstände einer Wissenschaft, heisst: sie sind
der Möglichkeit nach Gegenstände einer Wissenschaft, während
sie in ihrem Gewusstsein der Wirklichkeit nach Gegenstände
einer Wissenschaft sind. So lässt sich auch der Widerspruch lösen,
den der aufmerksame Leser in unserer Aufi'assung des Verhält-
nisses des Bewusstseins zu den Gegenständen einer Wissenschaft
Philosof^isehe Betrachtangen. ^59
gefunden haben wird. Wir fragften einerseits: das Bewusstsein
muss als Ein Bewosstsein alle Gegenstände einer Wis-
senschaft umfassen; andererseits: die Gegenstände bilden
an ihnen selber Gegenstände einer besonderen Wis-
senschaft, gleichgültig, ob sie überhaupt gewusst wer-
den oder nicht, ob Ein Bewusstsein sie umfasse oder ob
sie an mehrere vertheilt seien. Im letzteren Falle nämlich
sind sie der Möglichkeit nach, im ersteren der Wirklichkeit
nach Gegenstände einer Wissenschajfl. Es ist von Wichtigkeit, zu
beachten, dass der angedeuteten Wirklichkeit die Möglichkeit vor-
angeht. Die Möglichkeit nämlich beruht auf der Wirklichkeit;
denn was möglidi ist, muss durch etwas Wirkliches möglich sein.
Dass also Gegenstände an ihnen selber mö^iche Gegenstände einer
Wissenschaft sind, muss abgeleitet werden; doch kann diese Mög-
lichkeit nicht durch jene angedeut^e Wirklichkeit begründet wer-
den, d. i durch eine Wirklichkeit, welcher die Möglichkeit
vorangeht. Wir deuten diese Ableitung, in Bezug auf welche wir
übrigens auf unsere dritte Betrachtung verweisen, hier bloss an.
Der Wirklichkeit nach, im angedeuteten Sinne, gibt es keine Wis-
senschaft, wenn nicht Ein Bewusstsein alle Gegenstände derselben
umfasst. Es gibt femer keine Wissenschaft, wenn es überhaupt
nichts Wissbares gibt; es gibt keine besondere Wissenschaft, wenn
nicht überhaupt wissbare Gegenstände an ihnen selber Gegenstände
einer besonderen Wissenschaft sind. Endlich gibt es überhaupt
nur unter der Voraussetzung Wissbares, dass Ein absolut wirk-
liches Bewusstsein Alles umfasst; nur weil es aus diesem Bewusst-
sein stammt, ist etwas wissbar. Was wir oben sagten, dass etwas
wissbar oder Gegenslarjd einer besonderen Wissenschaft sei, gleich-
gültig, ob es gewusst werde .oder nicht, kann nicht in Rücksicht
auf das absolut wirkliche Bewusstsein gesagt werden.
Wir sehen vorläufig ab von dem soeben angedeateten absolut
wirkh'ehen Bewusstsein, wodurch erst etwas wissbar ist, und be-
trachten zunächst das Wissen, welches nur als verwirklicht
wirklich ist, d. i. welchem die Möglichkeit vorangeht. Insofern
bestimmte Gegenstände wirklich, nicht bloss der Möglichkeit
nach, Gegenstände einer besonderen Wissenschaft sind, muss Ein
Bewusstsein sie umfassen und zwar so, dass es sich zu ihnen als
Einheit verhält, in welcher sie unterschieden und aufeinander be-
jgQ Philofopiiiidie Betrachduig«!!.
zogen sind. In diesem Bewusstsan sind die GegpoM^äitde ak 6e-
wusstsein, welches als verwirklicktes von zwei Seilen s^esekkea
werden kann. Geht man nämlich von dem Ansichsdn der Gej^en-
stände aus» so erscheint ihr Gewusstsm als Verwirkliohung
ihres Ansichseins in der Weise, dass dieses Ansichsein 6e-
wusstsein geworden oder ins Bewnsstsein g^eten ist CSebt
man dagegen aus von dem Bewi^stsein^ so erscheint dasGewusst-
sein der Gegenstände als Erzeugniss des Bewusstseins, werde diess
als wirklich productiv oder als bloss recq^tiv sich verhaltend fluf«-
gefasst. Vorläufig genügt uns, was aus beid^ Auffaasiuigen folgte
dass nämlich das Gewusstsein der Gegenstände mit dem Bewusstsein
von ihnen ein und dasselbe ist. Wir haben es also zunächst bloss
mit dem Bewusstsein zu thun.
Machen wir nun die Vormissetzung» dass es wirklich besondere
Wissenschaften gibt, so müssen, diese im Bewusstsein, oder ridi*
tiger als Bewusstsein Wirklichkeit haben. Das Bewusstsein raiiss
in sich der gemachten Voraussetzung gemäßst bestimmt sein, so dass
wir es, abgesehen davon, dass es geworden, in Rücksidit auf die
gemachte Voraussetzung in Betracht ziehen köoBffli.
Setzen wir zunächst voraus, dass es Eane besondre Wissen-
schaft gibt und dass diese Wirklichkeit hat als. Bewusstsein. Dieses
bildet eine Einheit und umfasst als solche eine Menge Gegenstände,
welche wie von* einander unterschieden, so auf einander bezogen
sind. Das Bewusstsein unterscheidet sich also von sich selber, doch
so, dass es in diesem Sichunterscheiden dennoch eine Einheit bil-
det. Weil es nothwendig eine Einhdt bildet, so kann es nicht
bloss unterschieden sein; denn was bloss unterschieden ist, das
hat seiende Bestimmtheiten, welche nicht durch sich selber auf
einander bezogen und ebenso unterschieden sein können, da etwas,
insofern es blpss ist,, unbewegt ist Hieraus folgt, dass das
Bewusstsein die Gegenstände, insofern sie ab von einander unter-
schieden und auf einander bezogen mnen Inhalt bilden, als Ge-
setztes haben müsse. Denn die Gegenstände müssen als Gegen-
stände Einer Wissenschaft eine Einheit bilden und diese muss
sich in ihnen als ihre Einheit offenbaren, d. i. sie muss setzende
Einheit oder Prinzip sein. Das Bewusstsein untf^sst sonach alle
Gegejistände einer Wissenschaft, als durch das Prinzip derselben
gesetzt. Insofern aber eine Wissenschaft als bcjsondere Wirk-
FWlotöplnidle Belr«€hliiiif«li. |^1
tiohkeii hai, kttm «e nkM als Bewusstsein , sondern nur im Be-
wuBStsein WiHdicUieit haben, d. i. das Bewusstsein muss sich von
der Wissenschaß, insofern (fiese besondere Wissenschaft ist,
unterscheiden, muss sie ab beslimmten Inhalt haben.
Dadurch, dass eine Wissenschaft blosser Inhalt des Bewussi-
seins ist, wird sie als Wissenschaft aufgehoben. Diess ist nunmehr
näher zu erörtern, IMe besondere Wissenschaft ist in sich bestimmt
und so Inhalt des BevrussIs^Nis; was in ihr ist, das ist durch ihr
Prinzip gesetist. Ak Prinzip einer besmideren Wissenschaft ist dieses
nicht in Bezug auf Alles^ was überhaupt wissbar ist, Setzendes;
es ist in seinem Setzen begrenzt. Wird also gefragt, warum
gerade diess, ein Anderes dijer nicht, in eine Wissenschaft gehöre,
so beruft man sidt auf das Prinzip diesa* Wissenschaft. Allein
dieses Prinzip ist im Bewoartsein ds Setzendes nur gesetzt, und
sein Setzen beruht senaeh auf. seinem Gesetztedn. Nicht bloss die
Menjge von Gegenständen, welche den Inhalt der besonderen Wui*
s^ischaft ausmachen, sondern ihr Prinzip selbst ist im Bewusstsein
bloss flds Gedanke. Deaxk insoforn die Wissenschaft besondere
Wissiraschaft ist^ kaim sie, da das Bewusstsein sich von ihr unter-
scheiden möss, jiur als Iidudt, d.Lak6ewusstsein, in d^seU>en
sein, nidit IdsWissettdes. Das Gewusstseia ist aber nothwendig
Gesetztsdii. Dia besondere Wissenschaft ist also nur insofern im
Bewusstsein, als äe in ihm gesetzt ist. Der "bestimmte Inhalt
derselben ist im Bewusiftsem als durch ihr Prinzip gesetzt; dodt
insofern dieses selber gesetzt bt, so ist es im Bewusstsein zunächst
nur als Ver myogen. Das Prinzip kann nun freilich weder etwas
über, noch -gegen sein Vermögen setaeen, so dass ein^seits
Alles, was dmrcb dasselbe gesetzt ist, in die Wissenschaft gehört,
dcsren Prinzip «s ist, andereriieits durch es nichts gesetzt werden
kann, wodurch es seiher aufgehoben würde. Allein will man wis-
sen) ob hrgend etwas in enie Wissenschaft gehöre, bevor es durdi
ihr Prinzip wkkltch gesetzt ist, so muss dieses als Vermögen be-
stimmt s^io; sonst könnte man bloss a posteriori wissen, was in
sie gehöre V d« L ihre Grenzen hie kennen lernen; es würde, me
Vides auch gesetzt wäre, fraglich bleiben, ob nicht noch etwas
gesetzt werden könnte; nur als Unvermögen könnte das Prinzip
offenbaren, dass es nichts mehr zu setzen vermöchte. In Wahrheit
aber ist das Prmzip^, insofern es seU>er gesetzt ist^ nicht Setzendes,
Jahrb. Ar fpecuht. Philoi. I. 1. \\
102 FhüoMpbMM; Bilw^HMigfti.
-sondcm «s ist und bimbl Actelclci; Jle immdett .Wjssenadnft
beruht daher auf de« <Seset^eki ihrai MiUBi|w «wi ife locMiail m
ihr AHes dwauf an, wie es ges^at woritoa.
Das Prihxip der Wisseusehaft miu» ab Setaeii'dje» gtsetat
vrardcn« Als Frinsip .mer beaoudffiiai Wiasewschaft. ist «a nur im
Sewusstseih, nicht in B^ug auf 4as iewasstseki überhaivi, d. i.
nehl in Beaog auf ides Wissbare, alr-^taettdeaifesetat; 4las Be^
wosstsein oiuss .daher neben Htm nwh attiteve PriiizipiM eiBdweiiw
wirklich setzen ^eder wenigstens für mdgfieh iialien, d. h. wenn as
Eine iiesondere Wtssensc^ gibl, so gbteß nathwaii^ bedoii^
dere Wissenschaften. ^ ^
Setzen wir nun voraus, es aei AHes, waa HbtrlHttqit wiaabar
ist, an besonder^ Wisseusdii^n vevtbeili,. aa firagi es sieh, mb
diese als soldie WiridkfakeH haben kÜMMn. iededenttiben tendrt
auf ihrem Prinzip und hat nur äi ftm Beileheii, Aitea in ihr hrt
dareh- es gesetat. Setzen war ferner ^roraus^ dassiiss' Prinzip |eder
ders^en 4iuf uari in aieti n^hei boirttht. Nan «mms das FriaBff
ris Gewusstes Ge^Mes sein; saft es «hso in sieh softer henriMo,
so nniss es in Bezug aof neh sdhst ^aendoa sein. Denke» wir
'uns nun alle besonderen Wissenschallm in Bineai Bewusatsen
verwirklidit, so Ist Idar, dass «tteses 4er BiiAeit sehtechUiin enW
foehrt. Fichte sagt hierilb^ vorlrellieh:'^} „Wenn es sich so veri-
hilt, wenn daa* menschliehe Wissen an sich und sefaier Natur nach
solciies Stfifskiferk ist, wie das wifi^ehe Wissen, so naiev- Men*-
schen; weim inrsprtoglkh eine Itlettge Fiiten ki «nsorm- Oeiale
liegen, die unter sich in keinem Punkte zusenMneidHingen, nach
zusanKaengehangt werd^ kdrniene so vemögen wir abeeauAs nieht
gegai unsere ftetur zu streiten; unser Wtesen ist, so. weil es sidi
erstre<&t, zwar sicher; aber es isl kern einiges Wa^en, sondern
es sind viele Wissenschaften, unsere Wohnung stttnde dann zwmr
fest, aber es wUre nieht ein eni%es, zmammenhiagendea Gebäude,
sondern ein Aggregat von ibnnmern, aus deren keiner wir in die
andere übeigehen konntai; es wlüre eine Wofanui^, in der wir
ans immer verirren und nie einheimisch werden würden. 'Es wMe
kdn Lieht darin und wir blieben bei allen onsem Reidithttnierti
arm, weil wir dieselben nie ttbefsdhgen, nie ais ein Ganzes be-
O VahBf dm |lefriff4ler WiiimdiaftiMve. «imm«; Werke Bd. 1. f^ ».
163
IndHett, und nie wteen Itfimildn, m» wir eifmtlicb betttssen; war
ktanten nie rinen Theil dMvelbea zur Verbesserung der ttbrigm
anwenden, weil kein Theil sich eaf das übrige bezüge. Nodi mehr,
unser Wissen wäre nie vollendet; wir nüsalen lägiieh erwarten,
dass eine neue angebome Wahrheit sich in uns änssem, oder die
Erfahrung uns ein nettes Enfocfaes gvsben würde. Wir mttssten
inmer ber^ sein, um irgendwo ein neues Häoscfaen ansnbaiiett.^
IMe soeben geniachleVonasselzttng hebt sich selbst auf. Die
besonderen .Wissenadiaftea lUtnnen, insofern jede, siiilechthin in
sidi beruht, mM in Einem BowoacAsein WirkliddieU haben. Denn
insofern AUes^ was überhaupt wissbnr ist, an sie rertheilt ist ^ so
sind sie niciit ein Inhalt des Bewisstseins, sondern es selbst; die*
ses ist ittcMs ausser ihnen. Wäre es nämlidi ausser ihnen noch
etwas, so könnte es diaiMMi doeh mir als Wissen aein, d. i. es
wäre, gegen die Vorausselmng, nicht alies Wissen an die bc^n-
deren Wissenitehailen vertheilt. Folglich serOÜtt, der gemachten
Voiaosseltfuig nach, das flewasstseüi in so vieto besondere von ein«-
ander unaUMUigigo Bewnasisein, als es besondere Wissenschaflen
gibt; kdns kann von dem anderen aiicht nur das Geringste wissen.
Sollen also die besonderai Wissenschaflen in Einem Bewusstsem
WirfcliohlLeit haben, so müssen sie nnler einander selbst eine Ein-
heit bilden. Dies ist nicht 9»kn möglich, als. dass die Prinzipiett
derselimn selber unter sich eine Eitibeit biUen, whs nicht mögtich
ist, insofern jedes derselbett in sich, beruht. Auch würde die
Etidiueit dadavob noch nicht zu Stande kommen, dass sie etvni sidi
gegenseitig bestJmmten; denn so würden sie als Prinzipien den-
nodi zusammenhanglos und ohne wtrklidie Emheit smn. Insofern
sie sich nämlich gegenseitig bestimmen, treten sie nmr, insofern
sie ansser sich jind oder sich ättssem, d. j. als Gesetj^tesi mit
einander in Verkehr; es wäre dies& nur eine feindliche Berührung»
Sollte so .der Zusemmedhang vollkommen werden, so müssten sie
ganz in Floss geralhen, Uoss Gesetztes sein, d. i. ihr Prinzip«**
s«in aufheben. Die beaondeven Wissenschaften können iilso nicht
in Einem Bewusstsein Wifklichkait haben oder unter ^nander
nicht eine wiakliche Einheit bilden wenn sich diese nicht in ihren
Prin&ipi«n seibat oSenbart als Prinzip. . Die Prinzipien der
besonderen Wissenschaften können demnach nur relative, d.i. ge-
setzte Prinzipien sein, müssen Ein setzendes Prinzip voraussetzen.
11*
1^ PbiloMplMteiw BetradiiwigeB.
Darum aber sind sie selber biM6e Veraussetsniigeii, die einer
Begründung bedürfen, nicht aber dch selber begründen können»
Durch das? Prinzip einer besonderen Wissenschaft wird Alles in
ihr, nicht aber sie selber begründet. ^
Wie es aber nicht möglich ist, dass die besonderen Wissen-
schaften in Einem Bewusstsein Wirklichkeit haben, ohne dass sie
ilelber eine wirkliche Einheit bilden, so können sie auch nicht als
besondere Bewusstsein wahrhaft wirklich sein ids besondere
Wissenschaften. Denn so würde kein Bewusstsein von dem an-
deren etwas wissen, das Prinsip der Wissenschaft, . die als es
Wirklichkeit hätte, würde nicht als ein, sondern als das Prinzip
schlechthin auftreten, welches Alles umfasst, d.i. eis würde in
ihm jenes Prinzip, welches in Bezag auf die Prinzipien der be-
sonderen Wissenschaften setzendes Prinzip ist, als Tendenz her-
vortreten. Hierdurch würde mch dann in der so verwirklichten
besonderen Wissenschaft offenbaren, woran es ihr fehle; das Prin-
zip hätte für das Bewusstsein die Beitentung, Alles zu begründen,
vermöchte aber sich selbst nicht zu begrindea.
Sind nun die Prinzipien der besonderen Wissenschaften wesent-
lich gesetzte Prinzipien, so sind die besonderen Wissenschaften
zwar in ihren Prinzipien begr^izt (d. i. es kann an ihnen nichts
Vorkommen, als was durch diese gesetzt ist), doch nicht durch
sie. Es kann erst dann von besonderen Wissenschaften und den
Grenzen derselben wahrhaft gesprochen werden, wenn ihre Prin-
zipien begründet sfaid. So lange diese Uoiss gesetzt oder voraus-
gesetzt sind, kani^ man noch nicht wissen, ob es überhaupt be-
sondere Wissenschaft gibt, gesebweige denn, wie viele und wie
sie begrenzt seien.
Kant äussert in der Vorrede zu seiner Kritik der reinen Ver-
nunft, dass die Logik und Mathematik sdion seit den fridiesten
Zeiten den sicheren Gang der Wisseasdiaft gegangen, dass die
Naturwissenschaft zwar bedeutend später, jedoch nickt vor gi^r
Kurzem in den sicheren Gang der Wissenschaft gebracht worden;
dagegen sagt er von der Metaphysik:'^) „Es ist kein Zweifel, dass
ihr Verfahren bisher ein blosses Henuntappen, und, was das
Schlimmste ist, anter blossen Begriffen gewesen sei.^ Wir dürfen
•) Krit. der r. Vcrn. 1790.- Vorrede, & XV.
Pbllosophtsche Betraehtwigeii. ||^
mit Recht fragen, worauf sich KanTs UrtheH über jene besonderen
Wissenschaften grlinde; denn auf ein g^rundloses Urtheil, wie jfün-
stig es auch sei, werden die Logiker, Mathematiker und Physika*
selber nur wenig geben. Wir wollen einmal vorausselzen, er
habe es erkannt, und zwar in dem Sinne, in welchem er selber
das Erkennen auffasst. Er sagt:'^) „Einen Gegenstand erkennen,
dazu wird erfordert, dass ich seine Möglichkeit t— sei es iiadi
dem Zeugniss der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priori
durch Vernunft — beweisen könne. ** Hiermit verbinden wir einen
anderen Ausspruch über die Mathematik und Naturwissenschaft:'^'^)
„Von diesen ' Wissenschaften, da sie wirklich gegeben shid, läS0t
sich nun wohl geziemend fragen: wie sie möglich sind; denn
dass sie möglich sein müssen, wird durch ihre Wirklichkeit ber
wiesen.** Kant's Urtheil ober jene Wissenschaften soll uns ge-
nügen, wenn er uns ihre Möglichkeit beweist, wiewohl daraus
noch nicht folgt, dass sie verwirklicht sind. Soll die Wirklichkeit
dieser Wissenschaften begriffen werden, so muss sie aus ihrer
Möglichkeit abgeleitet Werden, wie diess von Allem gilt, das,
um wirklich zu sein, verwirklicht werden muss. Bevor man
also wissen kann, dass etwas in diesem Sinne wirklieh sei, muss
man wissen, dass es möglich sei. Es kann demnach die Mög-
lichkeit aus der Wirklichkeit, weUhe, ohne dass jene vorausge-
setzt wird, gar nicht sein, noch gedacht werden kann, nicht be-
wiesen werden. Denn wird die WirklicM^^t abgesehen von der
ihr vorausgehenden Möglichkeit erkannt, so wird diese Erkenntniss
aus der blossen Erfahrung geschöpft, welche niemals, auch nach
Kant,^^^} beweist, dass etwas so sein müsse. Dass eine beson-
dere Wissenschaft wirklich sei, kann aus der blossen Erfahrung
nicht erkannt werden, denn in dieser findet man die Wissenschaft
nur als Erscheinung; ob diese aber sei, wofür man sie hält,
kann die Erfahrung nicht lehren. Allerdings muss die Möglichkeit
der besonderen Wissenschaften aus der Wirklichkeit bewiesen wer-
den, doch nicht aus der Wirklichkeit, welcher die Möglichkeit
vorangeht, sondern aus der Wirklichkeit, welche wirklich et-
*) Ebend. S. XXVI. Anm.
**) Ebend. Einl. S. 20.
***) Krittk der prakt. Vern. Vierte Aufl. Vorrede, S. 24.
4^ rbikMopkiM'h«; Bclrachtuagcn.
was luttgiu'b: macht und darum <faus Prius der Möpflichkcit ist.
Diese Wirklichkeil aher, weldie das Unbedingte oder vielmehr
das sich selbst Bedingende ist, glaubte Kant nicht erken-
nen, somiern nur glauben zu können; er konnte also bloss
glauben, das& besondere Wi^seiischarten möglich, dass einige
von ihnen schon wirklich seien; wissen konnte er solches nicht,
als er die Metaphysik in einem solchen Zustande fand, wie er
sagt, noch als er am Ziele seiner Forschungen dieselbe dem Glau-
ben unterwarf.
Das Resultat dieser Betrachtung ist also kurz gefasst Folgen-
des. Geht man von den besonderen Wissenschaflen aus, so offen-
bart sich in ihnen ein Mangel, der sich näher als ein bestimmtes
Bedürfniss zeigt. Es ist daher aus diesem Bedürfniss die Philo-
sophie abgeleitet und als Wissenschaft der Prinzipien lie-
stimmt worden. Allein diese Ableitung hat das Mangelhafte, dass
das, welches erst begründet werden soll, damit es begründet wer-
denkönne, zum Begründenden gemacht wird. Es wird geschlossen:
weil es besondere Wissmschallen gibt, so muss ea eine Wissen-
schaft der Prinzipien geben. Dass die besonderen Wissenschaften
vor der Be^rründung ihrer Prinzipien noch gar nicht sind, dass
also ein Schluss von ihnen aus gar nicht statthaft ist, lässt man
in jener AMettung ganz ausser Acht. Man müsste vielmehr so
schliessen: wenn es besondere Wissenschaften geben soll, so muss
es eine Wissenschaft der Prinzipien geben. Diess würde aber im
Grunde so viel heissen als: wenn A ist, so ist A. Denn da in
den besonderen Wissenschaften nichts* ist, als was durch ihre
Prinzipien gesetzt worden, da diese ferner nur ihrem Vermögen
nach, als was sie selber gesetzt sind, etwas setzen können, so ist
die Wissenschaft der Prinzipien mit den besonderen Wissenschaften
im Grunde ein und dasselbe. Jener Schluss: wenn A ist, so
ist A, würde sonach heissen: A ist, wenn es ist. Ob es besondere
Wissenschaften gebe, muss also vor Verwirklichung der Wissen-
schaft der Prinzipien dahin gestellt bleiben. Es kann daher auch
\Sn den besonderen Wissenschaften aus gar nicht geschlossen
werden, was die Philosophie sein müsse. Diese hat einen tieferen
Grund als ein blosses Bedürfniss zu befriedigen, welchessich
in sogenannten Wissenschaften zu offenbaren scheint. Man
muss die Sache umkehren. Nur weil es eine in sich absolut be-
gründete Wissenschaft gibt, kann es besondere Wissenschaften
geben; was in diesen überhaupt vorkommen mag, sei es Wahrem
oder Falsches, selbst das besprochene Bedürfniss, muss aus jener
abgeleitet werden.*)
•) Wir schliessen hiermit diese erste Betrnchtiing, indem wir den L(t«er einer-
seits auf die oben Hu<;eführt« Schrift Fichte's (iilier den BegrilT der
Wissensehnnälehre) , andererseits »nr unsere fo I j|r e n d e n Betrachtungen
verweisen.
II.
Kritiken.
I.
Sliakespeare^s IfEaebeth^
erläutert und gewürdigt von R. H. Hiecke, Conrector und Prore«sor am
Gymnasium zu Mersdiurg. Merseburg 1846 Verlag der Nuland'schen
Buchhandlung TL. Jarcke.) 8. XYI. und 152 S.
Die vorliegende Schrift beabsichtigt zunächst nicht, das Ge-
biet der Kanstphilosophie und philosophischen Literaturgeschichte
zu bereichern, sie ist nicht den wissenschaftlichen Aesthetikern,
sondern denjenigen gewidmet, die von dem Gesichtspunkte der
allgemeinen Bildung aus in das gründlichere Verständniss der
classischen Dichter einzubringen wünschen. Sie macht auf die
Ehre, eine geniale Reproduction oder streng dialektische Durch-
dringung zu sein, keinen Anspruch; sie will als eine Exegese der das
dichterische Kunstwerk belebenden Ideen betrachtet werden. Sie
steht, wenige Stellen ausgenommen, auf der Stufe der Reflexion,
aber der Reflexion, die im Interesse und im Bewusstsein des
philosophischen Gedankens angestellt wird und demselben vorar-
beitet. Sie löst diese Aufgabe mit einer Gewissenhaftigkeit,
Gründlichkeit und Sicherheit, die auch den Kunstphilosophen
von Fach zu nicht geringem Danke verpflichten muss. Denn
wie vermöchte er ohne gediegene Vorarbeiten dieser Art, ohne
vorangegangene Erläuterungen des Einzelnen, auf die er sich
stützen kann, zu einer umfassenden und concreten Erkenntniss des
Allgemeinen vorzudringen? Auch der Mann von genialer Inspi-
ration, dem es gegeben ist, wie Herder, Winkelmann, Jean Paul
und Tied£, zum zweiten Male den unmittelbaren Orakelspruch zu
vernehmen, der an die grossen Schöpfer und Verkündiger des
Schönen erging, wird solche Leistungen nicht entbehrlich finden,
vielmehr wird er sich freuen, durch dieselben auf anscheinende
Kleinigkeiten aufmerksam gemacht zu werden, die ihm, so vor-
nehm er sie vielleicht bis dahin ignorirt hat, nunmehr auf eine
überraschende Weise über das Grosse und Ganze Licht verbreiten.
In Bezug auf die Eintheilüng und Gliederung dieser Schrift
haben wir zuerst zu bemerken, dass wir bei der vorherrschend
analytischen Methode^ die der Verfasser befolgt hat, es ganz an-
^70 Hiecke, Sliakespe«re> Macbctb.
gemessen finden, wenn er von der Entwickeiung der einzelnen
Charaktere ausgehl und erst, nachdem er damit zu Ende gekom-
men ist, in die Idee der ganzen Tragödie einzudringen sucht.
Sodann aber finden wir den scenischen Auszug, durch den er
seine Leser auf die Exegese des Werkes vorbereiten will, aus
dem Grunde überflüssig, weil die ganze nun folgende Entwickeiung
natürlich nur denjenigen verständli^'h sein kann, die sich bereits
durch ein gründliches Studium der Dichtung mit allen einzehien
Theilen derselben und namentlich mit dem Organismus ihrer Acte
und Auftritte bekannt gemacht haben. Ausserdem können wir es
nur beklagen, dass Herr Hiecke in dem Bestreben, keine Person,
die in der Shakespearischen Tragödie autlritt, unerklärt zu lassen,
die beiden Charaktere, von deren Yerständniss die Durchdringung
der Grundidee doch grösstentheils abhängt, nämlich die Charaktere
Macbeths und seiner Gemahlin, mit verhältnissmässig zu grosser
Kürze und Uebersichtlichkeit besprochen hat. Auch wäre es der
lebensvollen und ideellen Auffassung des Kunstwerkes weit ange-
messener gewesen, wenn er die in dem Abschnitt: „Verhältniss
des Drama zu seiner Idee^ enthaltenen kritischen Bemerkungen
in den Organismus der vorhergehenden Kapitel, die von den Cha-
rakteren und der Idee des Stückes als solcher handeln, mit aufgenommen
hätte. Denn eine Exposition, die nicht das freie.,, wissenschaftliche
Urtheil in si,ch schliesst, würde doch wohl diesen Namen nicht
verdienen und, streng genommen, eine Unmöglichkeit sein, und
eine Kritik, die sieh nicht aus der immanenten Entwickeiung der
Sache selbst erzeugt, bleibt immer, so geistreich ihre einzelnen
Bemerkungen sein mögen, dem tieferen Gehalte des Gegenstandes
entfremdet. Was endlich die das Ganze beschliessenden Erläute-
rungen über „das Verhältniss des Drama zur Sache^ und „über
das Verhältniss des Dnama zur Aufführung auf deutschen. Bühnen^
betrifft, so kann es uns in Bezug auf die Ersteren ziemlich ffleioh-
giltig sein, aus welchen Quellen der Genius das irdische Material'
für seine geistigen Schöpfungen und Offenbarungen gewonnen hat^,
und in Bezug auf die Letzteren müssen wir wenigstens gestehen,
dass sie uns nirgends eine Rücksicht und Bezugnahme auf die
tieferen, substantiellen Interessen der Gegenwart entdecken /lassen, -
sondern sich lediglich in dramaturgischen Aeusserlichkeiten, nament-
lich aber in einer Vergleichung des Schillerischen und Shakespea-*'
rischen Ausdruckes bewegen, durch die das Verständniss unserer
poetischen Weltstellung dem englisclien Heros gegenüber und na-
mentlich unser Bewusstsein vom dem Verhältnisse beider Dramatiker
zu einander nichts Erhebliches und Wesentliches gewinnen, kann.
Zu einer gründlichen Exegese musste der Shakespearische
Macbeth um so mehr einladen, als vielleicht keine. Dichtung dar'
neueren Zeit ihren Inhalt mit einer strengeren und, schrofferen
Kürze ausspricht, als diese. Auf allen Seiten lesen wir Gedanken,.
Sätze, j$i Worte darin, die eine Welt von Anschauungen und
Ideen in* sich tragen und uns zu längerem Verweilen,. Durchdenken'
und Durchfühlen nötbigen; Wollten wnr in stürmischer Bast über
Iliecfcc, Shakespeare*« Macbeth. * |7|
solche Stellen hinauseilen, um sogleich das Folgende zu ergreifen,
so würden uns — Tür das tiefere Verständniss — auf den spätem
Blättern nur Räthsel über Räthsel begegnen ^ und wir sähen uns
gencUhigt, den zurückgelegten Weg zum zweiten Haie einzu-*
schlagen. Diess rührt daher, dass der Dichter, als er schrieb^ sei-
ner Sache so ganz und gar gewiss war, dass er mit der Gestal-
lung seines Ideals nicht mehr zu ringen hatte, sondern mit seiner
Subjectivität in dasselbe ganz eingedrungen, ja verwandelt, also
ganz eigentlich im Zustande der Begeisterung das äusserlich au^
nihrte und darstellte, was in seinem Bewusstsein als eine fertige
Masse vorlag. Bei der Ausarbeitung trat ihm also an seinem Ge-*
genstande keine überraschende, befremdende Seite mehr entgoffen,
die ihn zu längerem Ver>veilen hätte auiTordern können; die Fülle
der Einzelnheilen, zu denen sich die Idee m ihm entfaltet hatte,
drängte ihn vielmehr, sich so kurz als möglich zu fassen und die
Lösung der von dem Genius ihm gestellten Fragen in Lakonismen
auszusprechen, die dem Leser wiederum als Sphinxgestalten ent*
gegentrelen sollten.
Dieser aphoristische Charakter des Macbeth hängt aber auch
wesentlich mit dem Objecte selbst zusammen, an welchem hier das
Wallen der Idee veranschaulicht werden soll. Der Held des Dra-
ma, zu dem sich alle übrigen Personen, Verhältnisse und Be-
gebenheiten nur als die Welt verhalten, in der sich sein Genius
manifestirt, stellt uns die genetische Entwicklung des Bösen in
der Henschennatur dar und vergegenwärtigt uns den Untergang,
den es durch die in der Geschichte gebietende Idee erleiden muss.
Der Mensch 9 als das Organ und die Individualisirung der Wahr-
heit, wendet die WaiTe der eigenen Vernünftigkeit gegen den
mütterlichen Schoos, aus dem sie geboren ist; er kehrt das Ich,
das nur ist, indem es Substanz ist, im Wahn, es zur blossen
Macht der Form befreien zu können, gegen die an und für sich
seiende Substanz, die eben seine eigene Substanz ist, und bereitet
so — nicht der Wahrheit, gegen die er wüthet, sondern einzig
und allein sich selbst den Tod. Ihr aber baut er, ohne es zu
wissen, oder vielmehr wissen zu wollen, den Triumphwagen, vor
dem er als Sklave im Gefühl der Vernichtung einhergehen wird,
wann seine Stunde geschlagen hat und die Siegerin ihren Einzug
hält. Diese Vernichtung, die ihn unausbleiblich erreicht, ' ist die
Ehre, so zu sagen, des militärischen Todes, den die Idee ihm an-
thut, und dieses erhabene richterliche Verfahren, dass sie Aen
Gottgebornen nur von ihren Händen sterben lässt, ist ihre Ver-
herrlichung, ist somit das Licht, von dem die Schönheit in der
Darstellung des Bösen ausgeht. Das Böse aber ist als das bloss
Abstracte eben das Arme, das Inhaltlose; seine Genesis kann
also nur die zunehmende Leere, das immer mehr in's Nichts
zusammenschwindende Wesen sein; folglich macht seine Dar-
stellung, je weiter sie voranschreilet, eine concreto Entfallung
immer ~ unmöglicher, vielmehr muss sein Bild sich immer ge-
drängter und kürzer zusammenfassen, und die Existenz des^
f^2t Hieckc, Shakespeare's Macbeth.
Bösen kann zuletzt nur noch dadurch gefristet werden, dass' der
Gegensatz des rein erhaltenen Guten als die aufgehende Sonne
der Welt, mit langsamer Feierlichkeit die Nebel, in denen das
Böse brütend liegt, durchdringt und zerstreut. Aus diesen Be-
merkungen, die wir an eiVier geeigneten Stelle weiter auszuführen
gedenken, erklärt es sich zur Genüge, warum, die Darstellung des>
elden und seines bösen Engels sich immer balladenartiger zu-
sammenzieht, während die positiven Gestalten eines Malcolm,
MacduiT, u. s. w. in den späteren Acten ein Immer breiteres Ter-
rain gewinnen.
Gehen wir nun zu der Auffassung der in unserm Drama ent-
wicSelten Gmndidee über, so stimmen wir mit den Principien, die
den Verfasser bei der Aufsuchung derselben geleitet haben, im All-
gemeinen überein. Es ist eine grundfalsche Vorstellung, die mau
sich von dem Schaffen und Wirken des dichterischen Geistes macht,
wenn man sich die Idealität eines poetischen Kunstwerkes daraus
erklärt, dass der Urheber desselben sich zuerst mit einem allge-
meinen Gedanken der Moral, der Politik u. s. w. herumgearbeitet
und dieses Gerippe dann nach und nach mit dem Fleisch der An-
schauung und Phantasie überzogen habe. Die schöpferische Be-
geisterung entzündet sich viehnehr an dem ganz Concrelen und
Einzelnen, vorausgesetzt nämlich, dass damit ein Geist, der sich
bereits eine tiefe und gehaltvolle Welt ansieht erobert hat, in Be-
rührung kommt. Alsdann wird das Schaffen von dem Augenblicke
an beginnen, wo^ diese Weltansicht, d. h. die universelle Offen-
barung der Idee, die dem Dichter aus der Wirklichkeit selbst ent-
gegentritt, sich in ihrer iJniversatität negirt und in die Einzelnheil
eindringt, um darin ihre Momente auseinander zu lejfcn. Der
Dichter erblickt in diesem Zustande, der sein eigentlicher Normal-
zustand ist, das Allgemeine nur noch im Spiegel des Einzelnen,
und offenbart sich das Erstere nur dadurch, dass er das Letztere
bis in seine feinsten und geheimsten Züge herausarbeitet. Man
kann diese göttliche Abhängigkeit^ in welcher der von der Idee
ganz durchdrungene Genius von der Einzelnheit steht, die auf seine
Verherrlichung wartet , als das Mysterium der poetischen Liebe be-
zeichnen , deren Majestät sich erst aus ihrer völligen Selbstentäusse-
rung erheben soll.
Hat aber die Ideenwelt des Dichters in jenem heiHgen Momente
ihre Existenz nur noch in der Einzelheit selbst, die sie in sich und
— was damit nothwendig zugleich erfolgen muss — in die sie
sich verwandeln will, so besitzt diese unendliche Liebe des Genius
die Macht, der mit ihm vermählten Einzelheit sein eignes Wesen,
seinen absoluten Werth einzubilden. Es ist also keine Trennung
mehr zwischen dem Ideal und seiner Ausführung, dem Gedanken
und seinem Leibe, sondern das Ganze ist Idee geworden, als der
in der irdischen Welt erschienene Ferver des mit dem Anderen
als seinem Andefen versöhnten und untrennbar geeinten Gemütiies.
Wird also nicht der Versuch , die körperlose Goisligkeit eines Kunst-
werkes, d. h. eben seinen Grundgedanken herauszustellen, dem
Hiecke, Shakeipeare*« Macbeth. |73
lebensvollen Organismus seiner Erscheinung gegenüber zu einer
blossen Abstraction führen müssen? Allerdings wird er das; aber
vergessen wir nicht, dass wir im Reiche des Denkens mit dem
Dürt^igen und Halben anfangen müssen und dass dieses, wenn es
fixirt werden soll, schon die Macht in sich -selbst trägt, die es
dialektisch weiter treibt. So kann denn auch der abstracte Logos
der Grundidee, wie sie der Verf. S. 67 aus dem Macbeth zu ent*
wickeln versucht hat, nur der Anfang sein, der in dem genialen
Kunstphilosophen und Kunsthistoriker sich bis zur ganz erfüllten
und concreten Reproduction fortbewegen muss. Denn dass ein
Kunsturtheil nur dann vollendet ist, wenn es die Schöpfung des
fegebenen Werkes zum zweiten Male vollzieht, das leidet wohl
einen Zweifel. Dagegen besorgen wir, eher auf Einreden und
Bedenken zu stossen, wenn wir behaupten, dass eine zweite
Schöpfung dieser Art nur unter der Voraussetzung einer zugleich
damit erfolgenden reineren Verklärung des Werkes möglich sei,
dass also die ächte Reproduction als eine Palingenesie im strengsten
Sinne des Worts etwas Höheres, als die erste Genesis hervorbringen
müsse. Wenn man diess in Bezug auf die wahre Geschichte der
Religion und Philosophie bereits einzuräumen anfängt, warum sollte
man es gerade auf dem künstlerischen Gebiet in Abrede stellen
woUen ?
Steigen wir nun von diesem Ideale der künstlerischen Re-
production zur Betrachtung der wirklichen Leistungen herunter, die
uns in dem vorliegenden Werke geboten werden, so begegnet
uns S. 67 eine von dem Verf. nicht ohne Aengstlichkeit in den
Raum eines einzigen Satzes zusammengepresste Formel, die uns
„die ganze Handlung selbst auf die möglichst knappe Abbreviatur
zurückführen,^ sie uns „rein nach ihrer inneren Bedeutsamkeit,
ihrer eigentlichen Triebfeder, der sie hervorrufenden lebendigen
Macht '^ bezeichnen soll. „Die Idee,^ sagt er, „die bewegende
Seele unseres Stückes^ ist „Darstellung des Ehrgeizes als einer
dämonisch wirkenden Macht, welche auch eine grossgesinnte
und zum umfassendsten Wirken befähigte, aber durch
eine äussere Schranke begränzte Heldennatur zum Frevel gegen
eine geheiligte Macht, von deren Anerkennung und Unter-
stützung wie das Wohl Aller, so das eigene wahre Glück des
Frevelnden selbst abhängt, gegen die Macht des geordneten
Erbkönigthums antreibt, dadurch unzähligen Andern den Un-
tergang bereitet, aber auch den Frevelnden selbst, wie in mora-
lisches, so zuletzt in nothwendiger, sittlicher Verkettug auch in
physisches Verderben stürzt, aber gerade hiermit die angetastete
Macht durch den Sieg aus jener Negation nur um so herrlicher
hervorgehen lässt."
Der Ehrgeiz also, der an und für sich, namentlich in der
Seele des rüstigen und heldenmüthigen Mannes, ein Moment der
sittlichen Berechtigung in sich trägt', wird, indem ersieh der gan-
zen Subjectivität bemächtigt und dieselbe endlich auf die Stufe
der qualitativea Bestimmtheit heruntersetzt, zur. däin.oni-
174 Hierlie, Sbuke^peiire*« Madbelh.
sehen Gewalt, d. h. zum Prinzip der Negslion, das im BewussU
sein die Stelle des Genius einnimmt. Diese Macht wirkt in nnse-
rem Helden um so gefahrlicher und furchtbarer, da sie im Bunde
mit dem Gegenstande auftritt, an dem sich Ms dahin sein Leben
entfaltet hat^ jiäülich mit dem Weibe, in dessen stolzem Ge-
müthe er den Spiegel und die Bestätigung der eigenen hochfliegen-*
ilen Entwürfe findet. Denn dass beide, bevor das in ihnen schlum-
mernde Böse an das Licht hervorgetreten ist und ^ine Todes-
waffen zuerst gegen das gemeinsame Heiliglhum ihres Daseins
fekehrt hat, durch das magische Band einer auf tiefster Seelen-
verwandtschaft beruhenden Liebe mit einander vereinigt waren,
geht aus dem Geiste der ganzen . Tragödie unzweideutig hervor
und gibt uns zugleich den einzigen Schlüssel des Verständnisses
für die mehr als magische Gewalt, mit der die Lady .den zau-
dernden Gemahl zur Ausführung seiner furchtbaren Plane fort^
reisst und über alle Zweifel des Gewissens zur völligen Sicherheit
•der Sünde hinüberhebt. Denn obgleich ihm der höllische Versucher
schon vor dem Beginn der Tragödie in Stunden des einsamen Brütens
nahe getreten sein muss, und obgleich er von jeher gewohnt ge-
wesen sein mag, jede Schranke, die das Leben seinem Herrseher-
4riebe entgegensetzte, als ein Hinderniss der Zufriedenheit zu betrachten,
so halt ihn theils jene Rechtlichkeit, die mit der Tapferkeit gepaart zu
sein pflegt, theils Pietät und Dankbarkeit gegen den mildesten aller
Könige, theils ein noch nicht ganz erstorbener Sinn für den Ge-
nuss wahrer Achtung und Liebe mit starken Armen von dem
Aeussersten zurück. Aber das Wesen, dessen ganzes Dasein bis
dahin in dem einzigen Gedanken aufgegangen ist, den geliebten
Mann, den Gott seines Herzens, auf einen königlichen Platz gestellt
zu sehen, tritt ihm, da es jede andere Hofi'nung und namentlich
die in einem so gewaltigen Gemüthe doppelt heftige Sehnsucht
nach einem Gegenstande der mütterlichen Liebe autgegeben hat,
mit einer Festigkeit und Entschiedenheit des bösen Entschlusses
entgegen, die seine Freiheit völlig entwaffnen muss. Das Weib
wird ihm fortan die sichtbare Gestalt seiner Herrscherplane, und
die Verlockungen des Ehrgeizes werden unwiderstehlich, da sie
mit dem Reiz^ der Anmulh und süssen Gewohnheit der Liebe auf
ihn einwirken. In diesem Sinne bemerkt auch unser Verfasser
S. 16. ^Es ist ein unendlich tiefer und wahrer Zug, dass Ma(;-
-beth bei allem Ergeiz doch aus sich selber ganz allein die volle
Kraft zum Bösen nicht zu entnehmen vermag, dass ihn das Weib,
die Verrührerin von Anfang anj erst dazu bestimmen muss.^ S. 17.
„So Tällt er haltlos der Stimme des Weibes zu, die das Böse mit
entschlossenem Sinne will und ihn, der doch zum Guten den
wahren Muth nicht zu haben selbst fühlen muss, ja der früher
schon mit verbrecherischen Entwürfen umgegangen, zu denen sich
nur keine Gelegenheit gefunden, in seiner Entschlusslosigkeit nur
einen verächtlichen Mangel an Thatkraft und Muth erblicken lässt.
Auch das letzte Bedenken — schon ein nur fiusserliches — der
Zweifel am Gelingen, wird von der Lady erfindenschem GMte io
fli«ck6, Skftkeipeftre's Macbetii. I'j'g
4He Fineht fescbbigreii, und so grewinni er mtt krampflNifter WH*
teiisinuftreiigaiig, 4ftberwJiltigt von der Uebermensdilichkeit einer in
«k* Jurchatts iin8Chw«afceAden und festen Natnr, 4ie Stärke zm
dem furchtbaren Entscbluss.^ Wenn Herr Hiecke weiterhin S. 26,
indem er nroa dem Versuche spricht, ben ,,scheinbar ganz aus dem
fCreise d«r BegreäUchkeii, zumal da sie ein Weib ist, heraastre-
ieaden Charakter" der Lady „grade durch die Annahme und Nach-
wetsung dnes acht weiblichen Motives, der Liebe zum glorreiehen
^id doch für seine Herscbernatur noch nicht hoch genug gestellten
Gemahle zu erklären," die einschränkende Bemerkung macht, wir
seien freitich gewohnt, bei Liebe sogleich und stets an die ge-
ffiU^siantge oder gar sentimentale Form der Liebe zu denken;
¥on einer Liebe, welche den Egoismus anderer Neigungen und
"Triebe ganz an die andere Persönlichkeit hingebe, könne bei einer
Lady Macbeth nicht von fem die Rede sein; aber ein Analogen
der Liebe, das Bedürfniss diY Ergänzung des eignen Geschlechtes
dureh das andere, und der befriedigte Stolz auf die gefundene
Ergänzung sei doch au^ wohl bei ihr mogltch, ja nicht abzuleog*
nen;" so gestehen wir ihm gern zu, dass die beiden zuletzt er^
wähnten llomente der Neigung jenes dämonischen Weibes eigen-
thUmlichst angehören. Wir bemerken aber zugleich, dass die
Sehnsucht des Weibes, die Einseitigkett seines geschlechtlichen
Daseins durch die Hingabe an den von gleichem Bedürfnisse ihm
entgegengefuhrten Manne aufzuheben und erst mit und in ihm das
concreto Leben der Menschheit zu geniessen, der allgemeine Bo-
den ist, aus dem Jede individuelle Liebe zwischen beiden Ge*.
si^lechtern erwächst, dass also hier von keinem blossen Analogen
der Liebe die Rede sein kann. Ausserdem aber finden wir in dem
„befriedigten Stolz auf die gefundene Ergänzung^ einen Grundzug
der Liebe aller von Selbstgefühl durchdrungenen Naturen, ganz
vorzüglich aber der weiblichen, als deren grosse Repräsentantin
in dieser Beziehung Abälard's Heioise angesehen werden darf.
Dass die ächte Liebe „den Egoismus anderer Neigungen und Triebe
ganz an die andere Persönlichkeit hingibt,^ hat seine vollkommen^
Richtigkeit; aber wir finden im ganzen Stücke keinen Anlass, diese
Selfostenläusserung als den ursprünglichen und wesentlichen Cha-
rakter in der Liebe der Lady wegzuleugnen. Mag sich ihre Ge-
sinnung der übrigen Welt und der Idee des Guten gegenübelr
immerhin als der schroffste und schauderhafteste Esoismus dar-
stellen, — im Verhältnisse zu ihrem Gemahle hebt sich dieser Egoismus
dadurch auf, dass sie ihn mit und in ihm und nur in der Absicht
zur Entwiekelung bringt, den in ihren Augen königlichen Geist in
den Besitz der ihm gebührenden Macht und Würde gesetzt m
sehen. Dass sie die Freuden des Herrscherthums mit ihm ge^
niessen will, steht dieser Ansicht von der Sache nicht entgegen;
denn der Ehrgeiz ist der Genius, in dem beide sich gefunden und
•verstanden haben, und grade 'durch das gegenseitige Ineinander-
leben wird er von Tag zu Tag gesteigert. Bs ist sogar hödist
wahr^cheinlicb, üms dieser Trieb ursprüngfich in JMai^eth stärker,
176 Hiedui, Slmkei^eare'« Mnobeth.
als in deor Lady^ gftwaUei hat und <tenn miUels der wdbUch^
Liebe, die den Geist des Mannes in sich zum Extrem zu steigera
pflegt, in dem Herzen der Lady zu jener überragenden Stärke
fortgebildet worden ist. Aber dessenungeachtet würden wir der
Lady grosses Unrecht thun und ihr die ganze poetische Bedeutr*
!samkeit absprechen, die sie in der. Tragödie hat, wenn. wir ihre
Liebe nächst dem allgemeinen geschlechtlichen Bedürfnisse aus
dem Drang nach Befriedigung des Ehrgeizes herleiten wollten,
obgleich es, wie schon bemerkt, nicht abzuleugnen ist, dass in
dem gemeinschaftlichen Ehrzeize als dem Orakel und Pathos seines
^ttlicben Lebens das wunderbare Paar sich ursprünglich gefunden
und verstanden habe. Wie sehr der Verfasser, den obigen Aeus-
serungen gewissermassen zum Trotze, geneigt ist, die Liebe in
dem Verhältnisse Macbeths zu seinem Weibe anzuerkennen, be-
weisen die sinn- und geistvollen Beobachtungen auf S. 31, 57,
idie wir unseren Lesern besonders zum Studium anempfehlen, und
•aus denen wir nur die schöne Stelle herausheben, die sich auf die
Periode der im ßewusstsein der gemeinsam /verül)ten Frevelthaten
fast schon untergegangenen Liebe bezieht: ,,Unbeabsichtigt und
linbewusst tönt hier aus Macbeths Seele ein Klang aus glücklicherer
Zeit, wo die gegenseitige staunende Achtung eines Heldenpaares
^zugleich von der zarten Aufmerksamkeit erster Liebe begleitet
war."
Haben wir nun aus dem geheimniss vollen Liebeszauber dieser
^Ueberhexe,^ wie Göthe das furchtbare Heldenweib nennt, den
^all und Untergang des in der Entfesselung seiner partiliulären
Natürlichkeit sicheren Helden hergeleitet, so bleibt uns nur noch
übrig, auf die symbolischen Gestalten dieser Sicherheit, auf die
Schaar der Hexen hinzuweisen. Der Dichter fasst sie zunächst,
indem er sich an die volksthümliche Vorslellug anschliesst, als
hässliehe, schadenfrohe im Dunkel und Nebel, in Sturm und Ge-
.witter waltende Weiber auf, die das Reich des Hässlichen auszu-
breiten suchen und sich darin gefallen, alle Gränzen der geord-
neten und durch die Ordnung schönen Welt zu verwirren. Ihr
Wahlspruch lautet: ^Schön ist hässlich, hässlich schön, ^ und, wie
Herr Uiecke S. 12 richtig bemerkt, „das physische und morsdische
jChaos, das seinem Wesen nach das absolut Hässliche ist, das ist
ihr Element und ihr Ziel.^ Indem sie aber immer deutlicher und
entwickelter ihren Plan hervortreten lassen, „des bisher im herr-
lichsten Glänze strahlenden Helden Seele mit bösen Gedanken und
Gelüsten dauernd zu beflecken*' (S. 13) und, indem sie ihn an
seiner verwundbaren Stelle anfassen, um ihn durch doppelsinnige
Reden nicht bloss in das eigene Verderben zu locken, sondern
auch zu einem Werkzeuge ihrer weltzerstörenden Entwürfe zu
machen, erweisen sie sich, nur Nebelgebilde zu sein, in welche
der Geist dieser Welt sich kleidet, um durch den Schein der Macht
und Selbstständigkeit den Sorglosen in berücken und mit sich fort-
zureissen, der sich dem Brüten über die Möglichkeit des Ver-
brechens hingegeben und mit dem, Schatten desselben zu t^elea
Iliecke, Shakef|ieare'i Macbeth. |77
aM^etmgen hat. Sie sind die Stimmen gemeiner, teuflisdier Klug«
heit und Berechnung, die uns aus dem Weltgewimmel enlgegen-
tönen, die Sprache des Verstandes, der sich als Erdgeist von sei-
nem Herrn, dem Geist der ewigen Wahrheit loszuwinden sucht,
um das Reich der eintägigen Particularität aufzubauen. Die Gabe
der Weissagung, die ihnen der Volksglaube beilegt, besitzen sie
bei unserem Dichter nur dem Scheine nach, er';ze]gt eben, dass
jene Verkündigungen, die das Volk auf eine übermenschliche Kraft
zurückführt, lediglich ein Werk des gemeinen, in die Grube der
eigenen Berechnungen sich stürzenden Weltverstandes seien. Wie
aber nach der mythischen Anschauung, die der Dichter uns wieder-
gibt, (vergl. I., 3. S. 305.} die Hexen in der bereits vorhan-
denen Wirklichkeit allerorten zu Hause sind, so durchläuft auch
jene gemeine Geistesthatigkeit wie mit Argusaugen den Kreis der end-
lichen Lebensbeziehungen und eignet sich so — dem Räume nach
— eine Art von Allwissenheit an. So weben denn die Macbeth-
ischen Hexen aus dem Schein erfüllter Orakel, die doch, als sie
ertheilt wurden, der Gewissheit des vorhandenen Daseins ent-
nommen waren, ein Trugnetz der Prophefie, durch die sie den in
irdische Sicherheit sorglos Eingewiegten zum Glauben an ihre Aus-
sprüche bewegen. Was sie dann weiter verkündigen, ist zwei-
deutig, wie der Spruch der feilen Pythia, und erweiset sich, wenn
es eintrifft, aus der Berechnung gemeinster irdischer Möglichkeit
geschöpft zu sein. Es trifft aber nur desswegen ein, weil der
örer daran glaubt und, vom Dämon des ungestümen Erwartens
getrieben, selbst die Erfüllung zu beschleunigen sucht. Es muss
eintreffen, weil es ja hur von dem gehört und aufgenommen wer-
den konnte, der bereits verloren war, seine Freiheit verscherzt
und sein Handeln zu einem Mechanismus teuflischer Nothwendigkeit
herabgesetzt hatte.
Wir sind mit der letzteren Exposition dem Verfasser gradezu
entgegengetreten. Er sagt nämlich von den Hexen S. 13. „Ihr
„auf die Kenntniss wie überhaupt des menschlichen Herzens in
seiner Schwäche, so der verwundbaren Stelle an der einzelnen Per-
son gebauter Plan fordert zu seiner Ausführung noch List in der
Benutzung jener Schwäche, und die wohlberechnete Anwendung
der List wird möglich durch ihren Blick in die Zukunft. Die-
ser macht sie, die sonst widerwärtig und abschreckend sein wür-
den, fähig, dem Helden zu imponiren und seine Phantasie in
heftige Bewegung zu setzen, und ihre List setzt sie in den Stand,
diess auf die wirksamste Weise zu thun; sie hüten sich, weiter
zu gehen, als bis zu ganz algemeinen, aber eben dadurch um so
mehr stachelnden Andeutungnn dessen, was ihn erwartet.*
Mit der Anisicht, die sich in diesen Worten ausdrückt, dürften
sich die meisten Leser des Dichters einverstanden erklären. Den-
noch bietet uns die Tragödie selbst mit Ausnahme etwa der ersten
Scene des vierten Actes, deren Beleuchtung wir für den Schluss
dieser kleinen Episode aufsparen, nirgends einen Anlass, den
Hexen einen anderen Blick in die Zukunft beizulegen, als den, der
Jahrl. für fepculal. Pbilot. I. 1. |2
|>jrg Miecke, Sli«kes|H$»ffe*s MiiobeA.
auf die «fitgemeine Kenfitniss der Natar- und MenschheitsverhMt-
nisse und auf die Einsicht in das Gemttth des von ihnen zum
Opfer Ausersehenen sich gründet. Wenn die Hexen in der dritten
Scene des dritten Actes (Tieck's Uebers. ed. 3 S. S07) unseren
Helden mit dem dreifachen Glückwunsche anreden: „Heil dir, Thau
von Glamis; Heil dir, Than von Cawdor; Heil dir, Macbeth, dir,
künftigem König Heil I^ So bemerkt er selbst in Bezug auf den
ersten Glückwunsch, S. 308, wie er höre, so mache ihn Sinel's
Tod zum'Glamis, sagt aber zugleich, die Erfüllung des zweiten
Wunsches liege im Bereiche enlferi^er Möglichkeit, in demselben
Momente, wo der Than von Cawdor, der nach seinem Glauben
„als ein beglückter Mann lebt,*' bereits (Scene 2. S. 804.) von
Vunkan zum Tode verurtheilt und Macbeth zu seinem Nachfolger
ernannt ist, — ein Ereignisse das denn auch fast unmittelbar,
nachdem der Held jenen Zweifel ausgesprochen hat, durch den
Than von Rosse (S. 309.) ihm gemeldet wird. Dieses merkwürdige
Eintreffen einer Verkündigung, die Macbeth für eine Weissagung
hält, da ihm der natürliche Hergang der Sache fremd geblieben
ist, erweckt in ihm die Zuversicht aw die Rede der unheimlicben
Weiber (S. 309. 310.)
„Glamis und Than von Cawdor:
das Höchst' ist noch zurück.^
„Zweimal gesprodine Wahrheit,
Als Glücksprologen zum erhabnen Schauspiel
Von kaiserlichem Inhalt — Freund', ich dank' euch! —
Die Anmahnung von jenseits der Natur
Kann schlimm nicht sein, — kann mX nicht sein: — wenn schlimm, —
Was gibt sie mir ein Handgeld des Erfolgs,
Wahrhaft beginnend? Ich oin Than von Cawdor: —
Wenn gut, — warum befangt mich die Versuchung?^
Von dieser Stelle an bis zum ersten Auftritte des vierten
Aktes erhält Macbeth in Betreff der Erfüllung seiner ehi^eizigen
Wünsche keine weiteren Mittheilungen. Erst bei dem Besuche,
den er den Hexen in jener finstern Höhle abstattet, werden ihm
neue Orakel mitgetheilt, die ihn (vgl. III. 5. S. 357) ilem Wahn-
witz und der Selbstzerstörnng preisgeben sollen. Diese Prophe-
zeiungen, die aus dem Munde beschworner, „durch listige Sprüche
täuschender'' Geister an ihn ergehen, sind folgende. Zuerst soll
er sich vor dem Than von Fife, vor Macduff hüten. Sodann soU
er kühn und frech seine Bahn fortwandeln, ohne irgend einen
Menschen zu fürchten, der von einem Weibe geboren ist. Endlich
wird er nicht eher besiegt werden, als bis der Bimamswald zur
Höhe des Dunsinan emporsteigt. Die erste und die zweite War-
nung sind nur zwei verschiedene Formen einer einzigen, — es
wird ihn Niemand tödten, als Makduff, der nicht auf die gewöhn-
liche Weise geboren, sondern aus dem Leibe seiner Mutter ge-
schnitten worden ist. Durch die zweite Form soll Macbeth in völ-
lige Sicherheit, selbst in Betreff Makdufs, eingewiegt werden;
dessenungeachtet soU die erste seine Wuth, seine Mordsucht er^^
regen, er soll sidi durch sie fortreissen lassen, Makdoff zu ver-*
folgen, und da er ihn selbst nicht erreichen kann, gegen sein Ge^
schlecht zu wtithen. Die Grüuelthaten aber, die er gegen dag^
Letztere verübt, sollen grade die Erfüllung des Orakels herbei-
führen. Denn wer wird sich nun von grösserer Rachsucht gegen
Macbeth angetrieben fühlen, als grade MakdufT, dem er die theuer-
sten Güter geraubt hat? Und wird nicht MacduiT, wenn er in dem
entscheidenden Momente, wo Macbeth den Doppelsinn der Hölle
erkannt hat und überdiess durch den Anblick eines Mannes, dessen
zerstörtes Lebensglück ihm auf der Seele lastet, seinen Helden*-
muth gelähmt fühlt, wenn er in jenem Momente dem Gegner das
Gefaeininiss seiner aussergewöhnlichen Geburt entdeckt, diesen
vollends entmuthigen und im Zweikampfe überwinden?
Aber auch das dritte Orakel der Hexen, dass nämlich Macbeth
so lange unbesiegt bleiben werde, bis Birnara'sWald sich aufDun-
sinan erhebe, lässt sich, so überraschend seine Erfüllung auf Mac-
beth einwirkt, doch ohne die Prophetengabe der Hexen erklären.
Denn diese Weissagung ist der Wahrheit nach gar nicht in Er-
fulfaing gegangen, und Macbeth hat sich in dem Momente, wo er
dem Doppelsinne des bösen Feindes auf die Spur gekommen zu sein
glaid)t, von demselben erst recht berücken lassen. Setzt sich denn
wirklich der Wald in Bewegung, wenn ein Heer von Kriegern die
abgerissenen Zweige desselben über seinen Häuptern emporträgt?
Eine solche Deutung konnte dem an und für sich so alltäglichea
Ereignisse nur d^ Wahnsinn des bösen Gewissens und verstockten
Gemüthes geben. Die subjective Stimmung des Helden ist es also
allein, die einen kleinlichen Zufall in den Causalnexus der grossen
Vorgänge seines Lebens verflicht, und es lag ganz in der Absicht
und Vorausberechnung der Hexen, dass der Zufall überhaupt
diese Bedeutung für ihn erlangen sollte. Aber wer den
Zufall eigentlich für seine Zwecke benutzte und regierte, das war
die Vorsehung der Gottheit, die den Helden durch seine eigene
Verblendung, dem Untergange entgegeneilen und dadurch die Be-
freiung seines Volkes beschleunigen liess.
Es bleibt uns nun noch übrig, von den Hexenorakeln zu spre-
chen, die sich aufBanquo und sein Verhältniss zu Macbeth beziehen*
Bei dem ersten Zusammentreffen mit dem Letzteren wenden sie sich
nämlicb auch an seinen Kampfgefährten und rufen ihm zu: „Könige
erzeugst du, bist du selbst auch keiner.^ (;!., 3. S. 307.} Auf
Macbeth macht diese Prophezeiung einen so tiefen Eindruck, dass
er fast unmittelbar darauf mit einem Accente des lebendigsten In-
teresses zu Banquo sagt: „Eure Kinder, sie werden Könige,^ (Jb.
S. aM)83 und dann, nachdem durch seine &höhung zum Than von
C^wdor der Glaube an die Hexen bereits feste Wurzeln in ihm zu
fassen begonnen bat, die weitere Frage an ihn richtet: ^^Hofft ihr
nicht, euern Stamin gekrönt zu sehen, da jene, die mich Than von
l^vddr Daimten, nichts Minderes prophezeit?^ (S. 310.} Fortan
verläset den Heldeii 4er peinigende Gedanke nicht , dass die Nach-
kommenschaft seines JPreundes von ihm, dem Kinderlosen, die
12*
■|QA Hiecke, Shakespeare*« Macbeth.
Krone erben soll, und mit dem Neide, den dieser Gedanke in ihm
erregt, verbindet sidi in der Zeit, wo er nach voUbrachtem KÖ-*
nigsmorde seine ganze Umgebung mit lauerndem Argwohne be-
trachtet, die Furcht vor der Entschlossenheit und Unerschrocken-
heit jenes : hochstrebenden, königlichen Geistes, dem er zu-
gleich die Weisheit, „die Führerin des Muthes zum sicheren
Wirken,^ nicht abstreiten kann, dem gegenüber er sich klein
und untergeordnet weiss, unter den sich „sein Genius scheu
zu beugen hat, wie, nach der Sage, vor Cäsar Mark Anto-
nius' Geist.^ Vor allen Dingen aber findet er, dessen kühne
Wünsche sich bis dahin wie im Fluge erfüllt haben, es ganss
unerträglich, dass er „für Banquo's Stamm sein Herz befleckt j*'
„in seinen Friedensbecher Gift gegossen* und „sein unsterb-
lich Kleinod dem Erbfeind aller Menschen preisgegeben'' haben
soll. 011. 1. S. 341, 59.) Er beschiiesst also, den Gefürchteten
sammt seinem Sohne ums Leben bringen zu lassen; aber die
gedungenen Mörder strecken nur den Vater nieder, dem Sohne
gelingt es, im Dunkel der Nacht zu entrinnen. Der Tyrann,
von Besorgnissen für die Festigkeit seines Thrones zermartert,
sucht endlich die Zauberschwestern in ihrerHöhte auf, um sie
über sein Schicksal zu befragen, und sieht auf seine .Erkun-
digung, ob die Nachkommen Banquo's das Reich beherrschen
werden (S. 364, 365), acht Könige über die Bühne gehen
und Banquo ihrem Zuge sich anschliessen. Macbeth entdeckt
in den Zügen der Ersteren eine unverkennbare Aehnlichkeit mit
Banquo. In dem Spiegel aber, den der achte König hält, zeigt
sich ihm noch eine Menjre von Königen, die zum Theil mit zwei
Reichsäpfeln und drei Sceptern geschmückt sind, und auf die alle
Banquo lächelnd und triumphirend, als auf die Seinigen, hindeutet.
Zuerst dient zur Erklärung der an Banquo in Macbeth's
Gegenwart gerichteten Orakel Folgendes. Banquo hat nächst
Macbeth die ersten Aussichten auf den königlichen Thron und ge-
niesst die allgemeine Achtung und Anerkennung, die er sich jedoch
nicht, wie Macbeth, in der Folge verscherzt. Er hat bereits einen
— wohl schon ziemlich erwachsenen — So^n, während Macbeth
kinderlos ist und seine Hoffnung auf Nachkommenschaft aufgegeben
zu haben scheint. Nichts ist also wahrscheinlicher, als dass Ban-
quo's Kinder nach Macbeth den Thron erben werden, vorausgesetzt,
dass Malcolm , den Macbeth durch Mörder leicht beseitigen zu kön-
nen glaubt, nicht demnächst seine Erbansprüche geltend machen
sollte. Aus diesen Gründen fasst Macbeth schon gleich Anfangs,
da sein verbrecherischer Entwurf noch im Entstehen begriffen ist,
den Kriegsgefährten mit dem tiefsten Argwohn ins Auge, aus die-
sen Gründen verfolgen und martern ihn Neid , Furcht und Bosheit
gegen Banquo und seinen Sohn so lange, bis er beschiiesst, sich
durch den Dolch der Mörder vor ihnen Ruhe zu schaffen. Aber
die Vorsehung lenkt den Todbsstreich von Fleance ab, und Macbelh's
Besorgnisse sind nicht gehoben, sondern nur in eine entferntere
Zukunft gerückt.
necke, Shakespeare'f Macbetli. j[()|
Was sodann die nach Banquo's Tode ertheillen Orakel
im vierten Akte betrifft, die sich mit den Nachkommen des Er-
mordeten beschäftijjren , so lassen sich dort freilich keine lügenhaf-
ten und doppelsinnigen Aussprüche vernehmen, sondern was daselbst
verkündigt wird,, ist lautere, geschichtliche Wahrheit. Aber die
Erklärung dieses Umstandes liegt zugleich ganz nahe und ist aus
dem Bereiche der durch Natur und Geschichte gegebenen Verhält-
nisse zu schöpfen.
Macbeth erkennt es in einer Stunde, wo sich alle chaotischen
Hassen seines in grauenvolle Finsterniss hinabgestürzten Bewusst*
seins aufeinander drängen, dass sein auf Bosheit und Unvernunft
gebautes Reich zusammenslürzen muss. Mit Mühe hält er noch die
trügerische Hoffnung in sich aufrecht, das Schwert der Vergeltung
werde, so lang er auf Erden lebe, sein Haupt nicht erreichen.
Aber darüber kann er nicht in Zweifel sein, dass der freche Bau
der Tyrannei nach seinem Tode von einem Windstoss zusammen-
fallen wird. Das Gericht der Geschichte, deren furchtbare un-
entrinnbare Macht er kennt und einst scheute , als er noch zwischen
Himmel und Hölle schwankte (Act. I. Sc. 7), wird ihn nicht ver-
schonen. Die härteste Strafe, die ihn treffen kann, wird die sein,
dass Banquo's Geschlecht, gegen das er in der Person des Stamm-
vaters gewüthet, das er aber nicht auszurotten vermocht hat, auf
Schottland's Thron gelsoigt und sich in stets wachsender Macht und
Herrlichkeit auf demselben behauptet. Die grösste Wahrscheinlich-
keit, dass dieser ihm so furchtbare Gedanke sich verwirklichen
werde, ist durch die oben berührten, ihm so nahe liegenden Ver-
hältnisse gegeben, und so muss ihn denn, um die Martern seines
Innern zu steigern, eine Art. von Prophetie ergreifen, die aber in
ihrer weiteren Entfaltung aus seiner unreinen Seele, als einem'
verworfenen Gefässe, heraustritt und in die Stimme des wahren
Weltgeistes übergeht, den das Gedicht des von Gott beseelten
Meisters verkündigt, indem es, unbekümmert um den Faden der
wirklichen Verhältnisse, den es bis dahin fortgesponnen, den Mund
des bösen Geistes sich in den Chorus der Wahrheit verwandeln
lässt. Dies wird mythisch so eingekleidet, dass die Hexen auf die
Frage: „Wird Banquo^s Saame je dies Reich regieren?^ zuerst
nicht eingehen wollen, weil sie in diesem Augenblicke von dem
Bewusstsein erfasst werden, dass, wenn die Geister diese Frage
beantworten, das Wort der Wahrheit nicht mehr zurückzuhalten
sei, d. h. der sophistische Verstand des Bösen von der in der
Welt geoffenbarten göttlichen Vernünftigkeit zu Boden geschlagen
werden müsse. Da jedoch Macbeth Befriedigung verlangt, d. h.
dem Drange, sich die furchtbare Wahrheit einzugestehen, nicht
länger zu widerstreben vermag, so versinkt der Kessel, d. h. so
zerreissen die Gewebe des höllischen Selbstbetruges und — die
Geschichte der Zukunft lässt ihre Herrlichkeit an dem Ver-
dammten vorüberziehen, der ihren allmächtigen Gang durch eine
Reihe der unerhörtesten Frevel hemmen zu wollen sich vermessen,
aber im Wahne, ihre Orakel zur Lüge zu machen, sich nur als
|g2 Hieeke. Shakefpeare'i Macbeth^
•
Werkzeug ihrer Erßillung hat ffebrauchen lassen, das der Geist
der ewigen Wahrheit jetzt mit Verachtung auf die Seite wirft.
Kehren wir jetzt zur Betrachtung der von Herrn Hiecke auf-
gestellten Grundidee zurück, so führt die S. 67. ausgesprochene
Ansicht, die dämonische Macht des Ehrgeizes habe in Macbeth eine
grossgesinnte und zum umfassendsten Wirken befähigte, aber durch
eine äussere Schranke begrenzte Heldennatur zum Frevel ange-
trieben, auf dasjenige hin, was der Verf. anderwärts über den von
unserem Helden vor der Ermordung des Königs an den Tag geleg-
ten Charakter beobachtet hat. Wir pflichten ihm nun vollkommen
bei, wenn er als einen grossartigen Grundzug in der Natur dessel-
ben die Tapferkeit bezeichnet; denn sie ist es, durch die Mac-
beth schon auf den ersten Blättern des Drama, noch ehe er selbst
die Bühne betritt , in der von ihm handelnden Erzählung des ver-
wundeten Kriegers unsere Theilnahme und Erwartung nicht wenig
rege macht, und sie ist es zugleich, die ihn, wenn auch zuletzt
nur noch im Dienste einer an Wahnsinn grenzenden Verzweiflung
und eines höchst frechen Trotzes stehend , selbst in der Todesstunde
nicht verlässt. Wenn aber Herrpiecke S. 14. sagt, es sei die
Tapferkeit als des Mannes eigenste Tugend anzusehen, so leuchtet
doch ein, dass sie diess nur dann ist, wenn sie nicht auf dem
Boden egoistischer Beliebigkeit steht, sondern als die Vollzieherin
der Idee des Guten auftritt, also den Formalismus blos natürlicher
Beherztheit zur gediegenen Erfüllung des moralischen Muthes er-
hebt. Wir schränken also das dem Helden ertheilte Lob darauf
ein, dass er mit dem natürlichen An > sich der Tapferkeit ausge-
rüstet war, dass er es aber uriterliess, dieses An -sich zum freien
Für -sich fortzubilden. Wenn sodann Herr Hiecke unserm Helden
eine ursprüngliche Herrschernatur beilegt, so müssen wir
bekennen, in der Tragödie selbst fttr diese Ansicht keinen Beweis
entdeckt zu haben. Die Fähigkeit, eine Masse zu ordnen und zu
führen, hat uns Macbeth wohl als Feldherr, wenn auch nicht eben
in ausgezeichnetem Grade, bewährt fdenn die Hauptkrad, die er
im Kampfe mit den Feinden des Vatenandes entfaltete, scheint uns
doch eben in jenem angebornen Muthe zu liegen) ; aber von einem
ursprünglichen Berufe zum Regenten zeigt sich bei ihm nirgends
eine Spur. Vielmehr leitet uns die ganze Art, wie er nach der
Ermordung Dunkan's als König verfährt, fast auf die entgegen-
gesetzte Ansicht hin. So Vieles nämUch von dem Jammer und der
Verwirrung, in die er das Vaterland stürzt, auf Rechnung seines
von Tag zu Tage sich steigernden Argwohns und der teuflischen
Bosheit kommen mag, die sich aus dem Abgrunde eines durch
furchtbare Gewissensqualen zerrütteten Bewusstseins entwickelt, so
könnte doch selbst in solchen Scelenzuständen das Genie des
Herrschers, wenn es wirklich vorhanden wäre, sich nicht ganz
verläugnen. Die Geschichte lehrt uns, dass die blutigsten Tyran-
nen, wenn die Leitung und Einrichtung der Staatsveriiättnisse mit
ihrem Egoismus, ihrer Rachsucht u. s. w. nicht in Kollision gerieth,
vermöge des |in ihrer innersten Natur lebendigen Herrschertaktes
Hiecke Shakespeare« IMacbellL IgJ
oft die vorirdBidulen und weisesten Schö|tfiiRgen ins Dasein ge-
rufen haben. Macbeth aber scheint den Tiuron nur zu dem Ende
l>estiegen zu haben , um einer völlig bedenlosen Herrschsucht zu
fröhnen und das unter der väterlichen Fürsorge des Vorgängers
zur reichsten Blüthe entfaltete Vaterland zu Grunde zu richten.
Hält man damit den armseligen Neid und die kleinliche Verzagtheit
zusammen, womit er den nohen, königlichen Geist des wirklich
zum Herrscher geborenen Banquo bewacht und belauert, und die
jämmerliche Bosheit, die sich vor dem überwiegenden Gei^
nicht anders, als durch den Dolch der Mörder, Ruhe zu schaffen
weiss (Ul*i 1* S. 341.3, so wird man Bedenken tragen müssen,
einem solchen Manne, der überhaupt in der späteren Periode sei-
nes Lebens geradezu in Gemeinheit und Brutalität versinkt,, mit
unserem Verf. das Prädicat eiaer grossen Natur (S. 24.3 beizu-
legen; denn diese könnte, wäre sie dem Usurpator ursprünglich
eigen gewesen, nicht so ganz und gar in ihren Gegensatz um-
Sesdil^en sein. Wenn aber der Verfasser sogar in der auf
en seelenmörderischen Anschlag der Hexen (S. 13.3 ^^^^ ^^
ziehendeu SteUe von der im herrlichsten Glänze strah-
lenden Seele 4ßs Helden spricht, so lässt er sich durch
eine vorgefasste Idee zu offenbarer Uebertreibung fortreissen.
Dagegen hat er von einer Stelle, die für die Lichtseite des
Helden von der grössten Bedeutung ist, nämlich von dem
Monologe der Lady, in welchem sie (]L, 5. S. 314.3 die Tug-
enden ihres Gemahles als Hindernisse des Mordplanes in Erwägung
zieht, nicht den geeigneten Gebrauch gemacht. Wir lesen dort,
dass es Macbeth von Anfang an durchaus nicht an Menschenliebe
gefehlt habet) und finden diess durch seine eigene Darstellung des
Mitleides in der siebenten Scene desselben Actes nachdrücklich
bewiesen, wie denn auch die angeborene Empfänglichkeit des Ge-
müthes für Eindrücke der wahren Menschlichkeit sich in den wun-
dersamen Beden nach der Ermordung des Königs, die in uns wie
das Grabgeläute des guten Genius nachliallen, ganz unleugbar her-
vortritt. Das zweite, was die Lady als Eigenschaft ihres Gemahles
bezeichnet, ist seine Rechtlichkeit, die freilich mehr den legalen,
als den ethischen Charak'ter an sich trägt (denn der Held scheut
sich ;&war selbst das Böse zu thun, würde es aber gern sehen,
wenn es zu seinem Vortheile durch eine fremde Hand vollzogen
würde, und möchte kein Bedenken tragen, die Früchte einer sol-
chen FrevelUiat zu geniessen3, aber dessenungeachtet den guten
Boden 9 aus dem sie erwachsen ist 9 nicht verkennen lässt.
In der von Herr Hiecke aufgestellten Formel der Grund-
idee ist nun femer der Gedanke enthalten, Macbeth habe sich
durch die Schranken der äusseren Verhältnisse in der Ent-
wickelung seiner Heldennatur gehemmt gerühlt und sei dadurch
zum Frevel gehen die geheiligte Macht des Erbkönigthumes ange-
trieben worden, woraus für ihn, wie für Andere unendliches Elend
hervorgegangen sei. Die Abscheulichkeit des an Dunkan verübten
Nordes, von Macbeth selbst zunächst (I., 7. S. 317.3 I^ergeleitet
^g4 Miecke, Shtketpewe^ MacbelK.
aus der Verlelzanff der Lehntreae und Verwandtenpfltdit, des GdsU
rechtes und des Vertrauens , erheUt besonders aus der in der Tra-
gödie immer mehr hervortretenden Bedeutung des legitimen König-
thrnnes^ als einer von Gott eingesetzten und geschützten Würde,
von deren Aufrechthaltung der Segen und Frieden eines Landes
abhängig gemacht sind. Daher legt der Dichter dem englisdien
Könige, unter dessen Beistande Malcolm sich in den Besitz des
^htmässigen Thrones setzt, die Gabe wunderbarer Heilung, die
^1 auch auf die künftigen Herrscher dieses Landes vererben soll,
und einen wahren, von Gott stammenden Geist der Prophetie bei
(IV., 3. S. 377. vergl. Hiecke S. 66.**} Daher erscheinen die recht-
mässigen Könige, die in unserem Drama auftreten, nämlich Eduard,
Dunkan und Malcolm, als Männer von makelloser Frömmigkeit und
Güte, wie denn auch der verstorbenen Gemahlin 'Dunkan's nach-
gerühmt wird, (IV., 3. S.376.), „sie sei weit öfter auf denKnieen,
als auf den Füssen gewesen und an jedem Lebenslage gestorben.^
Diese Vorstellung von dem Königreiche als der Repräsen-
tation des göttlichen Willens innerhalb der staatlichen
Verhältnisse, die im Zeitalter der Reformation, nachdem die
weltliche Herrschermaclit sich mächtig genug trwiesen hatte, das
Reich der geistlichen Stellvertreter Gottes zu vernichten, um so
nachdrücklicher hervortreten musste, zieht sich bekanntlich als
Faden der politischen üeberzeugungen unseres Dichters durch
alle seine historischen Tragödien und ist ihm überhaupt so eigen-
thümlich, dass seine Leser und Freunde keiner dessfallsigen Er-
läuterungen bedürfen werden.
Was die übrigen Momente der von dem Verfasser ausge-
sprochenen Grundjdee betrifft, so weisen dieselben unmittelbar auf
die S. 14, 599. gegebene Entwickelung das Hauptcharakters zurück.
Da wir nun die wesentlichsten Züge derselben schon früher ange-
deutet und besprochen haben, so bleibt uns nichts übrig, als noch
einige Bemerkungen über die Art, wie Herr Hiecke den histori-
schen Fortgang der Sünde und des Verderbens in unserem Helden
sich erklärt hat, nachträglich beizurügen.
Zuerst finden wir die S. 17, 18. ausgesprochene Beobachtung
vortrefflich, dass Macbeth „zur That selbst doch nicht anders,
als mit einem fiebernden, wie durch Wahnsinn umdunkelten
Bewusstsein schreitet, auch unmittelbar vor ihr sich nochmals zu-
rückgeschreckt fühlt, nach der That aber nicht zwar von eigent-
licher Reue, wohl aber von einem entsetzlichen Schauder und
Grauen ergrifl*en wird,, das ihm nicht erlaubt, das Vergessene an
den Wächtern nachzuholen.^ Die That kann er also nicht voll-
bringen, ohne dass er das Bewusstsein, als die Stimme der Wahr-
heit, zuvor in sich vernichtet, sich künstlich in den Zustand der
Verrücktheit versetzt, sich also um die eigene Freiheit bestiehit
und zu einem mechanischen Werkzeuge des Bösen heruntersetzt.
In dieser Nacht der willkürlichen Selbstverstockung verschreibt er
mit dem Blute der Unschuld und Gerechtigkeit, die er boshaft er-
würgt, die Seele dem Teufel, und beim Erwachen steht er vor
Hiedke, SMktBpnm't Maobetlv. |9|
dem Tlior der HdBe, daravf die Sehrift sa lesen ist: „Lasst, die
ihr eingeht, alle Hoffnung fahren.^ Die Umkehr ist unmöglich;
denn sie würde die Kraft in ihm Yoraussetzen, nicht bloss in sich,
sondern auch vor der Welt das Verdammungsurtheil über sich
selbst auszusprechen. Aber er hat sich freiwillig um sein Be«
wusstsein gebracht, also um das Recht, sich ip seinem ganzen
irdischen ]||sein durch den Spruch der Wahrheit selbst zu ver-
nichten und aus diesem Grabe des eigenen Ich znr Versöhnung
mit sich und Gott zu erstehen. Die Reue ist somit eine Unmöglich-
keit för ihn geworden; aber den Anblick des Bildes, in welchem
seine Trennung von Gott, der Reinheit und Schönheit der sitt-
lichen Welt, seine Unterwerfung unter den entsetzlichen, hämi-
schen Erbfeind der Menschheit mit der schreienden Blutfarbe des
Mordes abgemalt ist, vermag er nicht länger zu ertragen; er flieht
rath- und haltlos in sich selbst zurück, und nur die Nothwendigkeit,
die Eumeniden des begangenen Verbrechens durch neue Greuel-
thaten von sich abzuwenden, rüttelt ihn aus dem Schlummer des
Todes auf und wirft ihn wieder in die Welt der Wirklichkeit,
damit er sie, ein Genios der Zerstörung, durchwüthe. Als es
bald nach der Veifibung des Königsmordes an Macboth's Thor
klopfte, da schien es fast, als wenn ihn Reue über seine That er-
griffe; aber es schien auch nur so. „Das Klopfen von Aussen,^
um in den Worten unseres Verfassers (ß. 18.} fortzufahren, „das
ihn wieder in eine Beziehung zu menschlichen Wesen setzt, kann
^uf einen Moment in ihm sogar die Empfindung wirklicher Reue,
— richtiger, da die noch nicht vollkommen den Verbrecher über-
wältigende Reue diesen Namen gar nicht verdient (?), eines tiefen
Mitleidens mit seinem Elend wecken.^ „Es ist das letzte Auf-
blitzen des Sittlichen in ihm, der Gefahr der Entdeckung gegen-
über findet er in sich die Kraft der Verstellung und
Heuchelei.^
Der Verfasser entwickelt nun femer mit sicherer Reflexion
das nothwendige Vocanschreiten der Bosheit, die Strafe des Ver-
brechens durch neue Verbrechen, die zunehmende Selbstvernich-
tung des Helden, die Zertrümmerung aller sittlichen und staat-
lichen Ordnung, der Wohlfahrt des Ganzen, wie der Einzelnen,
die von Macbeth ausgeht. Alles Variationen des furchtbaren The-
ma's: „Sündenentspross*ne Werke erlangen nur durch Sünden Kraft
und Starke!^ Von Gewissen keine Spur mehr; nur von Zeit zu
Zeit das Bewusstsein der inneren Verdammniss und wohl auch der
in der Ewigkeit wartenden Strafen, über die er sich früher 0«, 7.
S. 313.} so leicht hinweggesetzt hat. Er muss es in solchen Mo-
menten, wo das Licht der Wahrheit wie ein Blitz durch die Ab-
gründe seiner Verworfenheit hinleuchtet, sich eingestehen, dass er
„sein unsterbliches Kleinod dem Erbfeind aller Menschen preisge-
geben habe"^ (111., 1. S. 243.}, — eine Aeusserung, die nicht bloss,
wie der Verfasser S. 19. sagt, aus Furcht vor Banquo entspringt,
sondern mitten in den Kreis derselben wie ein fremder und unbe-
scliworener Geist hineintritt. Dass übrigens Macbeth bei dem
189 H>^»» SMiiii|»(w»'f Mi^ii^tli.
Mordans^Uffge auf Btnqvo seiiie CSemaUki nicht mßkt w RaUie
rieht, sondern sidi rein au9 cdch selbst entschliessi, darin erkennt der
Verfasser nut feiner Beobachtung einen wesentlichen Fortschritt
der Sünde, in der Macbeth*s Gemüth nun völlig erstarkt und mün-
dig geworden ist (vergl. S. 29.} Doch dämmert in der Rücksicht,
die er durch anfangliche Verschweigung und damuf folgende blosse
Andeutung seiner höUisdien Entwürfe auf sein Weib niipit, (III., 3.
S. 345 — 347.) noch ein fast wehniüthiger Schimmer der alten
Liebe, die in der Nacht der über das möderische Paar hereinge-
brochenen Verdammniss längst untergegangen ist. DeriVerfasser,
der anderwärts (S. 31. 59) auch diesen Punkt in seiner Weise
hervorgehoben und sinnvoll beleuchtet hat, bezeichnet die in jener
Scene^waltende Zärtlichkeit sehr schön upd treffend als den „un-
willkürlich aus der Seele aufsteigenden Grabgesang der Empfindung
einerfanderen Zeit.^
Auch die Erscheinung Banquo's malt uns das haarsträubende
Entsetzen, mit welchem Macbeth das Bild seiner Gräuelthaten in
Stunden der Ruhe und Thatlosigkeit vor sich auftauchen sieht.
Dieses Bild stellt sich ihm denn auch, da er die Freiheit in sich
vernichtet und sich in den Wahnsinn der abalractesten Formalität
des Willens hinabgestürzt hat, am naturgemässesten in der Form
der Aussernatürlichkeit, des dämonischen Wunders dar. Sein Be-
wnsstsein entweicht mehr und mehr aus der Einheit des vernünf-
tigen Ich und bewegt sich, phantastische Gestalten als den Ausdruck
seines Inneren bildend, in der Welt des Traumes. Es entwickelt
sich gewissermassen . zu unauflöslichem Bunde mit ihm eine zweite
Seele, das Schattenbild seiner ursprünglichen Wahrheit, deren
Stimme er durch seinen Trotze, seine höllische Festigkeit nicht mehr
zum Schweigen 4su bringen veroaag. Aber zur Umkehr kann ihn
auch dieses grässliche (bricht nicht mehr bewegen; der Anblick
des Entsetzlichen scheint nur seine Bosheit noch zu stählen, — es
kann fernerhin blos davon noch die Rede sein, wie er in der Ver-
worfenheit sich selbst zu überbieten habe. . Er ist entschlossen,
der Hölle nunmehr sich ganz in die Arme zu werfen, blindwüthend
zu handeln und es gar nicht zur Ueberlegung bei sich kommen zn
lassen, bevor er seine Entwürfe ausgefülut hat. Endlich schreitet
er bis zur Grenze aller Verruchtheit voran, bis „zur Lust am
teuflischai Wüthen^ (Hiecke S. 21). Inwiefern hierbei die trüge-
rischen Orakel der Zauberschwestern auf ihn einwirken, darüber
haben wir uns schon oben in einem anderen Zusammenhange aus-
gesprochen. Sie sind zugleich die Ursache, warum ihn die nun-
mehr über ihn hereinbrechende Gefahr nicht schreckt. Er baut
fortwährend auf die Berechnungen des gemeinen Weltverstandes,
der gegen das Walten der Nemesis in der Weltgeschichte völlig
verblendet ist. Die augenscheinlichen Widersprü^e aber, in die
er mit sich und seinen Berechnungen hineingeräth, die wachsende
UnMcherheit seiner Lage und das Vorgefühl des unentrinnbaren
Unterganges entfessln seine allem Edeln fremd gewordene Natur
zur brutalsten Rehbeit gegen seine Umgebung. Sein Muth ist
nichts, als frecher Trotz, mit dem er (V., 8. S. 889.} fechten will,
^bis flim das Fleisch von den Knochen gehackt ist.^ Leise An-*
klänge einer fremdartifren Wehmath, womit er die Verldssenheil
seines Alters beklagt (S6. S. 888), womit er der Lady zur Heiking
ihres kranken Gemttthes das süsse Gegengift der Vergessenheit
wünscht (S. 888.) und den Arzt befragt, ob es seiner Knnst
nicht möglich sei, die Krankheit des Landes zu entdecken und es
zum früheren kräftigen Wohlsein zu reinigen (8.389.), ver-
hallen unter den wilden Ausbrüchen derWuth, der Mordsueht und
einer Verzweiflung, die zum Aeussersten entschlossen ist. Der
Tod der Königin erregt seinen Schmerz nicht, lässt ihn aber doch
die Hohlheit seines ganzen Daseins doppelt schwer empfinden; das
Leben erscheint ihm nur noch als ein armseliger Komödiant, der
sich eine kurze Weile auf der Bühne abmüht, und von dem so«
dann nichts mehr vernommen wird. (S. 392.) Dass er sein
Leben verspielt habe, tritt ihm mit immer furchtbarerer Klarheit
vor disBewttsstsein; er flingt an, den Doppelsinn des bösen Fein-
des zu erkennen, und da er selbst fallen muss, so wünscht er nur
noch, es möchte der Wellbau zugleich mit ihm zusammenbreehen.
(V., 5. S. 398.) Seine Zuversicht klammert sich noch an das
letzte Orakel an , das ihm geblieben ist ; durch den Fall des jungen
Siward scheint es sich zu bestätigen. Da ruft Hacduff's Erschei-
nung die Bilder seiner Gräuelthaten in lebendigster Vergeben-
wärtigxing zurück, der Racheengel ist gekommen, Macbeth will den
Kampf mit ihm ablehnen. Dann nach kurzem Zweikampf neuge^
kräf^gter Trotz und freches Pochen auf das Orakel. Macduff ent-
hüllt die wahre Bedeutung desselben. Dadurch völlig zu Boden
geworfen, weigert sidi Macbeth, de« Kampf wieder aufzunehmen.
Da ihm aber, wenn er zurücktritt, nichts übrig bleibt, als sich zu
ergeben und der Rache seines Volkes anheimzufallen , so „lässt er,^
wie Herr Hiecke & 23. sagt, „durch keine trügerische Hoffnung
mehr über das menschliche Mass der Furchtlosigkeit hinausgehoben ,^
„die Entscheidung auf die alte und ursprüngliche Tapferkeit
ankommen , die aber gegenüber dem zum Rächer unerhörter Gränel
vom Geschicke Auserkorenen nicht ausreicht.^ C^ffl- V., 7. S. 895.
388.) t
Den Charakter der Lady Macbeth haben wir zum Theil
schon oben beleuchtet und auf das in ihr waltende Verhältniss vonf
Liebe und Ehrgeiz vorzüglich aufmerksam gemacht. Ihr Grundzug
ist die diamantene Festigkeit des particulären Willens, der weder
nach der Seite der subjectiven Idealität hin, noch hinsichtlich der
in der Objectivität der Welt gesetzten Grenzen irgend eine Schranke
ertragen kann. Daher strebt sie weit mehr, als Macbeth, nach
der Macht des Herrseherthumes, während der Heldensinn des Ge*
mahlcs vorherrsdiend von der Sehnsucht nach dem Glänze und
der imponirenden Majestät der Krone angespornt wird. Die
Zauber, die sie airf sein Handeln ausübt, gehen allerdings zunächst
von dieser Festigkeit aus; aber nur vermöge einer unwider-
stehlichen Gewalt der Liebe, die sie in Macbeth entzündet,
vemmg sie ihm auf solehe Weise zu impcmiren. Sie muss ein
aamuäuffes, reizendes Weib sein, sie muss zugleich diH'di eine
Liebe, die zwar auf der Stufe der. Natürlichkeit stehen bleibt, aber
eine unbedingte Hingebung in sich trägt, das von allen Flammen
der Leidenschaft durcfaloderte Herz des Gemahles untrennbar an sich
gefesselt haben; beide müssen einander absolut unentbehrlich ge-*
worden sein. Da aber der Lady formelle Festigkeit durch diesen
Bund nicht gebrochen ist, sondern, wie ein Gift in die Seete
des Gatten eindringend, in der wachsenden Depravation dessel«-
ben nur eine neue Stütze findet, so erkennen wir eine Superiori«-
tat, die das Weib über den Mann ausübt, und die vielleicht ur-
sprünglich ihren Grund darin hatte, dass sie ihrer Zärtlichkeit, ihrer
Leidenschaft ihm gegenüber mehr zu gebieten verstand, als er.
Es ist also erklärlich genug, dass sie sein^ Dämon wird, dass er
ihr zuletzt blind und willenlos folgt und ihr Wort wie die Stimme
der Naturnothwendigkeit auf sich wirken lässt. .
Dass dieser Charakter, der sich den Regungen der aUgemetnen
und ideellen Liebe kalt und fühllos versehliesst, in der natürlichen
Entwickelung blos particulärer Neigung durchaus nicht zurücksteht,
beweisen ausser der eisernen Anhänglichkeit an den Gemahl die
wunderbaren Naturlaute, mit denen sie ihres verstorbenen Kindes
gedenkt CI. 7}: „Ich hab' gesaugt und weiss, wie süss das Kind
zu lieben, das ich tränkte,^ beweist der Grund, aus dem sie es
nicht über sich gewinnen kann, den König selbst umzui»ingen
(U., 1. S. 825}: „Hätf er nicht geglichen meinem Vater, wie er
schlief, so hätt' ich's selbst gethan.^ Das Einzige, wovon die un-
barmherzigsten und lieblosesten Gemütber sich nicht loszusagen
vermögen, das ist die süsse Gewohnheit, mit den Blutsverwandten
einträchtig und traulich fortzuleben.. Ja, bei der Lady lässt sich
auch diess auf die starre Formalität in der Behauptung des Eigen-
willens zurückführen; was im weiteren Sinne ihrem Ich angehört,
Gatte, Kind und Vater, daran hält sie wie an ihren eigenen Ge-.
danken und Entschlüssen fest. Eine ähnliche Idee drückt unser
Verf. aus, wenn er (S. 29.) sagt: „Es liegt ganz im We^n ver-
wilderter, aber ursprünglich hochgesinnter Charaktere begründet,
dass die Liebe, welche ihnen für alle Anderen vollkommen abgeht,:
für die nächsten Angehörigen in concentrirter Stärke in ihnen
waltet."
Wir haben oben darauf hingewiesen, dass die einwirkende
und antreibende Stellung der Lady dem Gemahl gegenüber mit dem
Momente aufhörte, wo er zur Selbstständigkeit des Bösen voll-
kommen in sich erstarkt war. Von nun an tritt sie in den Hinter-
grund. Die Saat der Hölle, die vor dem schauderhaften Paare
sichtbar aufgefangen ist, die gegenwärtige Verwirklichung der in der
Heimlichkeit des Gespräches schüchtern angedeuteten Gedanken ist
der Tod ihrer Liebe. Der Dolch , den sie gegen den König gezückt
haben, ist in das Herz ihres eigenen Daseins gedrungen. Se
werden immer kälter, immer gleichgültiger gegen einander. Diess
ist denn auch der einzige Weg, auf dem das bis dahin so unan-
greifbar fesi« GaniMh dw Lady von den CMslern der Racke heifli-
gesucht werden kann. Sie findet keinen Trost mehr in dem Qe»
danken, dass ein Gemöth, das ihr unbedingt ergeben ist, die
Schuld und Strafe mit ihr trägt; sie kann mit der Liebe, deren
Name ihr zum hohlen Liuite geworden ist, das Vergangene nichl
mehr beschönigen und sieht sich, was sie nicht gefliorcÄitet und
vorausberechnet hat, in der Hölle allein. Ihr Werk ist voll«
bracht, ihre irdischen Wünsche sind befriedigt, and i^iemuss in die
HoUbeit und Nichtigkeit des eigenen Inneren zurüdifallen. fitor ist
es denn, wo sie dem Verdamntangsspmche nicht mehr entrinnen
kann. Auf die unnatürliche Spannung ihres Willens, durch die eB
ihr allein möglidi war, sich unerschütterlich in der Bosheit zu be-
haupten, folgt eine völlige ErschhiSung, in dar sie den höllischen
Mächten nicmt mehr zu wehren vermag. Erst weben sie den
Wahnsinn in die Welt ihrer Träume, über die audi der Festeste
nicht Herr ist; dann aber wird sie auch in der Tageshelle des
Bewusstseins, von dem die Abgründe nur immer kbrer beleuchtet
werden müssen, rath- und hilflos von ihnen ergriffen mid dem
Tode der absoluten Verzweiflung entgegengefahrt.
Die iU)rigen Personen der Tra^ie sind von Herm*Hiecke
verhältnissmässig weit gründlteher entvridKelt worden, als die oben
von uns besprodienen Hauptcharaktere. Wir finden diess um so
weniger angemessen, da selbst die bedeutendsten. unter den Ge**
stalten, die den zweiten Rang behaupten, den Kritiker und selbst
den Leser von bloss allgemeiner Bildung über die Grundzüge ihres
Wesens kaum einen Augenblick im Zweifel lassen können. Oder
sollten Persönlichkeiten, wie Banqno, Dunkan, Malcolm, Makduff,
u. s. w. wirklich Räthsel von Erheblichkeit aufgeben? Man muss
bei ihrer Betrachtung die Feinheiten schon mit künstlicher und
scrupulöser Reflexion in den verborgenen Winkeln aufsuchen, wenn
man in ihrer Bildung mehr Einzelnheiten entdecken will, als noth*
dürftig erforderlich waren, um die von ihnen getragenen Geister
der Besonderheit lebendig, klar und eindringlich zu vergegen-
wärtigen. Unseres Erachtens dreht sich die ganze Dichtung um
Macbeth und seine Gemahlin, und die übrigen Gestalten dienen
nur zur OtTenbarung der sittlichen Mächte des Staates, der Familie,
der Gesellschaft^ u. s. w., durch deren Entweihung und Verletzung
der absolut -selbstische Wille jenes Ehepaares sich den irdischen
Untergang und den ewigen Tod bereitet. Mit anderen Worten:
diese Individuen repräsentiren nur den sterbenden guten Genius
der Haupthelden und veranschaulichen uns, auf welche Herrlich-
keiten der Mensch verzichtet, der von der sittlichen Substanz der
WirklichKeit, die seine eigene Lebenssubslanz ist, in selbstmör-
derischer Partikularität sich abwendet. Da nun Macbeth und die
Lady gleich bei ihrem ersten Auftreten in diesem Selbstzerstör-
ungsprozesse begriffen sind, so erscheinen die Heiligthümer ihres
Daseins bereits als untergehende^ verschwindende, und diess ist
denn auch der Grund, warum der Dichter, der sich in die geheim-
sten Tiefen ihres Wesens versetzt, die persönlichen Gestalten jener
{90 UMke V Shahetf^etre^t' Madiotli«
lUchte nw in allgomeHieii Umrissen ansdniil und in kräftigen,
aber znsammengedrünglen Skizsen an unserem Auge vorttberziehen
lisst.
Ueber die ethische Weltansicht, die sich in dieser Gruppirung
der das Leben bewegenden ideellen Mächte und in der Beziehung,
die ihnen zu den Schranken des Schicksales und der individuellen
Endlichkeit und Zufälligkeit gegeben ist, so bedeutsam und tief-«
sinnig offenbart^ hätten wir gründlichere Aufschlüsse von dem
Verfiuaer erwartet. Hier liegt das Terrmn, auf dem sich eine
wahrhaft schöpferische KritÜE zu bethätigen hat; hier reicht man denn
fireilioh audi mit blosser Reflexion und Beobachtung nicht aus,
sondem, wenn irgendwo, müsste der reproducircnde Betrachter
sich hier auf die ernsteste mid strengste Arbeit dar Speculation
vnd religiösen Selbstbetrachtuag einlassen. So lang es uns jedoch
an einer Phänomenologie des poetischen Bewusstseins fehlt, finden
wir uns immerhin v^anlasitt, ^ese Forderung an dmi Beurth^er
des einzelnen Kunstwarkes mit grosser Ermässigung zu steUen,
und den Verfasser halten wir wenigstens insofern für entschuldigt,
als er in seiner Arbeit nicht eigentiich als Philosoph im strengsten
Sinne des Wortes, sondom nur als ein Exeget auftreten wollte, der den
Leser der Dichtung flir das tiefere Versündniss einstweilen auf
dem Wege der Re&xion vorzobereiten habe. Je bereitwilliger wir
ihm zugestehen, dass er dieser Aufgabe in mehrfacher Beziehung
infeine sehr dankenswerthe Weise nachgekommen sei, um so weniger
können wir den Wunsch unterdrücken, ihm noch recht oft auf
dem Felde dieser literarischen Wirksamkeit zu begegnen, wofern
ihn nicht jenes virgilische Majara eanamml zu höheren Entwürfen
und Unternehmungen begeistern sollte.
Worms, den 31. Marx 1846.
Licentiat Hr« Qeowff SlmmermanB«
SntwlelLelmisssesclilelite der neuesten
tfentsehen PMlesephle^
mit bjefoiOrtTfr HüAfUift auf Um f^mm&ttiitu Mam^f Sd^tttngd
mit tun i^tQtlf^tn ^d^tdt.
Darfeüelh in Yorlesitiifen es d«r Fmdrieh-WiNMlnii-UiitirenHH n
Berlm im SommerhaU^hre 1842, Ton Dr. C. L-Michelet. Beriln. Yer-*
lag von Dmcker «nd Hnmiilot, 1843, gr. 6. VI:, 400 S.
'Wenn auch über zwei Jahre seit dem Erscheinen des Werks,
dessen Titel wir vollständig in der Uelfersdirift hinstellten, schon
verflossen sind, so dürfte eine ausfuhrliche Beurtheilung desselben
so lange noch immer an der Zeit sein, als einerseits der Kampf
beider Hauptschulen der gegenwärtigen Philosophie, auf welchen,
wie der Titel schon anzeigt, die Darstellung besondere Rücksicht
nimmt, noch nicht zu Ende ist und andererseits die geschichtliche
Behandlung selbst noch nicht durch ein anderes Werk der Gegen*
wart entrückt wird. Dass weder das einb, noch das andere bis
jetzt der Fall ist, wird von allen Seiten anerkannt. Was den
Kampf betrifft, so ist zwar nicht zu läugnen, dass die Heftigkeit,
womit er in den ersten Jahren der Berufung Schelling's an die
Berliner Hochschule von beiden Parteien gefiihrt worden ist, sich
bedeutend gelegt hat; diess hat aber, wie es uns bedünken will,
nidit darin seinen Grund, dass er auf irgend eine Weise seiner
Schlichtung näher gebracht worden wäre, sondern vielmehr in
einer Abspannung, die gewöhnlich die Folge eines derartigen Auf-
tritts ist, wie auch in der Erkenntniss, zu welcher beide Parteien
gekommen sind, dass jede von ihnen zu unmächtig ist, die andere
Sanz zu verdrängen, worauf es anfänglich abgesehen war und nach
er damaligen Ansicht abgesehen sein musste. Diese Erkenntniss
hätte Schelliug allerdings gleich Anfangs haben müssen, da er
selbst die negative Philosophie, wie er sein früheres System und
das Hegersche bekanntlich nennt, f%r eine nofhwendige, d.h. nicht
nur den Ausgangspunkt bildende, sondern vielmehr immanente
Voraussetzung seiner gegenwärtigen, von Oun genanltten positiven
192 Michelet, Entwicklungigetchichte der neuetten deuttcben Philoiephie.
Philosophie hält und ihm somit das Uegersche System, das von
den Jüngern noch immerwährend weiter gebildet wird, kein anti*
quirtes sein kann, und es ist ihm somit allerdings daraus ein Vor-
wurf zu machen, dass er sie nicht hatte. Wenn aber auch dieser
Vorwurf den Jüngern Hegel's nicht gemacht werden kann, so kann
jedenfalls von ihnen gefordert werden, dass sie jetzt den Grund
ihrer Machtlosigkeit in obiger Beziehung, die sich sowohl an und
für sich in dem immer noch grossen Anhange Schelling's, wie
auch besonders in manchen Ueberlaufern aus ihrer Schule zu dem-
selben, von denen der Verf. in der fünfzehnten Vorlesung spricht,
deutlich zeigt, nicht nur in Privatinteressen und ähnlichen Motiven,
sondern in der immanenten Nothwendigkeit der gegnerischen
Richtung für die ihrige sehen. Eine solche Anerkennung des neuen
Schelling dürfte von den Jüngern HegeFs um so eher gefordert
werden, als es ja gerade ihr Meister ist, der zuerst alles Wirk-
lidie als das Vernünftige, wie auch umgekehrt alles Vernünftige
als das Wirkliche erklärte und allerdings auch, wie vielleicht in
der modernen Welt ausser Spinoza kein anderer Philosoph mehr,
in seinem Leben seine Philosophie verwirklichte, ja dasselbe zu
einer plastischen Gestalt, wie der wirklichen Vernunft, so der
vernünftigen Wirklichkeit herausbildete. Da nun dem neuen Schel-
ling schwerlich die Wirklichkeit abgesprochen werden dürfte: so
kann wohl auch gefordert werden, dass man ihm die Vernünftig-
keit, und zwar nicht als eine vergangene, in der Gegenwart nur
aufgehobene und aufbewahste, sondern als eine noch gegenwärtige
zuerkenne. Diese Forderung stellen wir an den Verfasser dieser
Entwicklungsgeschichte gewiss mit um so grösserem Rechte, als
er die Vorliebe seines Meisters für den preussischen Staat — der
einzige Punkt vielleicht, an welchem dieser Heros des Gedankens
seinem Gotte untreu wurde und dem fremden Götzen einen Altar
errichtete, worüber aber auch bald ihn, wenn auch nicht an ihm,
gewiss an seinen Schülern die Strafe ereilte — theilt und S. 11
behauptet, das freie unabhängige Denken habe sich meist auf das
nördliche protestantische Deutschland beschränkt und man könne,
da Preussen den Hauptbestandtheil desselben ausmache und der
Sitz fast aller grossen Philosophen unserer Zeit gewesen sei, diese
Philosophie (von Kant bis in die Gegenwart) eine preussische
nennen, ja sich sogar durch eben diese Vorliebe soweit verleiten
lässt, selbst Jakobi dem preussischen Staate zu vindiciren, weil er
in Düsseldorf lebte und diese Stadt seitdem zu einem integriren-
den Theile des preussischen Staates geworden ist, und nicht einmal An-
stand nimmt, zu Gunsten seines preussischen Staates der Geschichte
und der Natur, welche letztere unter den damals obwaltenden
Verhältnissen auf dem Wiener Congress wenig befragt werden
konnte, Gewalt anzuthun. Unserem Verfasser ist, wie aus der
Einleitung ersichtlich, Deutschland das Volk des denkenden, Preus-
sen das des denkenderen, und in Berlin, als der Metropole der
Wissenschaft, das Volk des denkendsten Bewusstseins. Wenn nun
der Superlatiir dieses Superlativs, die Berliner Hochschule, dem
MkMel, Bnlwickhiiigsfetchiclrte der neuetteii denttchen PhiloMphie. |93
neimi SchdHnff einen Katheder fttr dessen Philosophie einräumte
und er denseJUl)en seit einigen Jahren, im Besitz hat: so muss
er darauf Anspruch machen können, dass eben unser Ver-
fasser die Wirltlichkeit und darum auch Yernünftigkeit dieser
umgestalteten Schellmg'schen Philosophie, wenn auch nicht als
eine absolute, so doch wenigstens als eine im Gegensatze
nothwendige anerkenne. Diese Anerkennung geschieht nun in
dieser Entwicklungsgeschichte nicht, vielmehr wird S. 12 be-
hauptet, dass „diese Ideen (der gegenwärtigen Philosophie} das
innerste Wesen des norddeutschen Volksgeistes bilden, der, als
das Volk (^?) der Intelligenz, sieh vornehmlich im Gebiete der
speculativen Wissenschaft auszeichnete, wenn auch diese Gedanken
sich noch nicht in der Wirklichkeit überall Bahn gebrochen haben,^
und unmittelbar darauf als die Aufgabe des Buches hingestellt: „vom
Auswüchse jener Philosophie, der Umbildung des S^helling'schen
Systems nämlich, der erst ganz kürzlich sich unsern (preussischen)
Himmelsgegenden genähert (?) hat, um vielmehr, mit seinen scho-
lastischen Distinktionen, das Alte, Bestehende gegen den Durch-
bruch der neuen Ideen zu retten, habe ich zu zeigen, dass er wenigstens
einer volksthttmlichen preussischen Philosophie geradezu entgegen-
arbeitet und sich also auch aus diesem Grande auf dem Boden
unserer Universitäten nicht wird halten können.^ Wir haben somit
an dieser Entwicklungsgeschichte der Philosophie eine Tendenz-
schrift, insofern sie im Voraus schon auf ein bestimmtes Resultat
hinzielt, und dieses bei all ihren Bewegungen im Auge behält.
Es lässt sich nun zwar gegen die Te^denzschriften im Allgemeinen
nichts Erhebliches vorbringen, und es Hesse sich auch in einem ge-
wissen Sinne behaupten, dass eine jede Schrift genau genommen,
eine solche sei und sogar das Denken, selbst in seiner strengbe-
grifflichen Bedeutung, sich der Tendenz in einem gewissen Sinne
nicht verwduren könne. Dennoch aber hält Ref. dafür, dass auf
dem Gebiete der Philosophie, die nur insoweit diesen Ehrennamen
verdient, als sie sich ihrer eigenen Macht und Selbstgenügsamkeit
bewusst ist, jede Tendenz der Art, wie sie hier angegeben
ist, ferne gehalten werden müsse, weil durch sie dem Gedanken
die Freiheit oder wenigstens die Gipintie der Freiheit genommen
und somit der alleinige Lebensnerv entzogen wird. Ist ja auch
hier wieder der Meister das Ideal , auf welches nicht oft genug
hingewiesen werden kann. Keine seiner Schriften trägt das Ge-
präge der Tendenz an sich. Durch das innerste perpehmm mobile
getrieben, und darum In wahrer Freiheit schreitet in Hegels
Werken der Gedanke vorwärts, unzählige Lügengespenster mit
jedem Schritte zertretend, ohne weiteres Aufsehen damit zumachen
und ohne anderwärts tien Blick hin zu richten als auf die Wahr-
heit und immer nur die Wahrheit. Wo der Meister Seitenhiebe
austheilt, wie das wohl oft in den Zusätzen der Fall ist, so ge-
schieht es nur da, wo es dem olympisdien Jupiter auch einmal
ein wenig auszuruhen und an dem Spiele sich zu ergötzen oder
auch den untergeordneten Göttern etwas für sie besonders Ergötz-
Mih. rtr «pccnlat. Philo«. I. 1. |g
Heh«s darzubieten beliebig Mnst ist ^einAittge^ wie Mf d^ giiedH'
ischen Götiergestalten , nur nach Innen gerichtet. Und gewiss mü
Reckt. Nur die relative Idee^ die ihie Wahrheit in einer andere»
hat^ hat auch ihre Negfttivität i» eirter andearen, die absolute
Idee aber trägt die Negatiyilät in 'sieh selbst und brauclUb, daran
nur sich selbst zu e^itwickeln um Alles ausser ihr, in das, was es
ist, in Nichts aufzulösen. Zwar*hat, nach S.IY. der Vorrede^ Scbe^
ting das Beispiel einer Kathederpolemik gegeben; das» aber 4er
Verfasser hinzufügt, „die auch ganz in Ordnung ist,^ kann Rel
nicht biUig;en; SchelUng hat das Recht 2» einer Kathederpolemik»
nicht aber der Hegelianer, der es in Wahrheit ist. Das ist es ja^
abgesehen ¥Oii allem Uebrigen, worin Schelling*,. so Vieles auch
sonst sein jetziges System zur Fortbildung Hegels entfalten lURg^,
bäiter diesem zurüekgdl^Ueben ist und stets zmbck bleiben wird^
dass er den Boden der intellektaellen Anscbauung nie verlassen
kann, sein System darum^ wenn es, wie es in ihm ist, wdk:
den Namen verdienen, sollte, innerhalb der Snbjedivität eingeongt
ist, durch das Gepräge der Geniailtäl ^uch, die es übei^l an
sich trägt, den cWben erzwingt, aber es nie zur objedtven
Dialektik bringt, die allein die Gewissheit in sieh, selbst hat.
Auf diesem Standfii&kte müssen von allen Seitca Hülfstruppen
herbeigeschafft werden, und rnuss ai»eh die Polemik als solche
erwünscht sein; wer hingegen in die elyseische Dialektik Hegds
eingewandert ist, der kann und sM dieser Künste entbehrm,
die nur an das endliche Dasei» erinnern und nur in diesem
von Nutzen sein mögen. Ist es vollends wahr, was S. IV.. der
Vorrede behauptet wird, dass Schelling keine wissenschaftliche
Polemik gegen Hegel übt, dass er den; Gründeni dier Schule nur
Schmähungen und solche Scherze, die kdoe gute Gesellsdialt <fad«^
den l^w, entgegenzusetzen wei^s — was allerdings mä der obige»
Ideniifilöition des {»reussischen Volkes mit dem Volke d^ InieUigena
im Widerspmiehe m stehen^ schewt — sOi sottle ma» ihm entweder
giaip nii^htvCi^tgegeiHretiEm, wenn man es ^ni^ht besser thaei könnte^
als er, es schon selbei thut^ oder ihm stur eine Patti^ ms Begela
PbäDomenol^ie des Geistes entgegen hallen^,., aus. d^Bydeir wmhce,
des wahre« Fhilosepbeu wür<|ge und denselben chiBoahtenstrende
sittliah«i; G^ist geharnischlt itnd gepwzert hervoijlititt.
Stelten wir uns aiber auf dea Standpunkt d^s' Verfassers und
sehen wir zu, wie er von diesem aus seine: Aufgabe lösen za
kilnnen glaubte, und in wie weit er sie« .wiüklich löste! In der
Einleitung macht er selbst aiuf zwei Einwürfe, aufmerksam,, die der
Arbeit als solcher gemacht werden.kön»en,und die er darum zurück-
zuweisen für nöthig hältw Der eine ist mehr gegen den mündlichen
Voirlrag gerichtet, und iater essjrt uns. diahev nicht weito. Der an-
dere macht geltend, d««fs sowohl wegett^ deit Natiur des InhaltSi, dar
noch nicht zum völligen Abachluss gefcomnu^n. sei, «nd desseniEnd*-
resuUat man dahear noch Glicht wissen könne, als anch: wegen den
Stellung des Verfassers m seinem Gegenstande, welcher ersleiB-
jedenffl^ bei dtfoselfaen mit seiaer g^zen. PQmonlidrkeit. betileiligi.
IWcMet, EbtwkUttii^^eMbMile der ikeneiteif detitsehefil Philosophie. |95
ktj die Systeme der neuesten deutfechen Philosophie, die sich äh die
NliA)en Kant, Fichte, Schelling und Hegel knüpfen, noch nicht M
eirier geschichtlichen Darstelten^ sich eignen. Dieser Einwarf wird
min dadurch zurückgewiesen, d^SB an dem Beispiele des Thucydides
nachgewiesen wird^ wie selbst noch nidit abgeschlossene Zeiträume
eine historische Bearbeitung zulassen, dann aber noch besonders
der Unterschied zwischen der politisrchen Geschichte und der Ge-
schichte der Philosophie hervorgehoben wird, in welcher letzteren
die Zeiträume gar nicht zum Abschlüsse kommen sollen. „Bei der
Geschichte der Philosophie,** heisst es S. 4, „ist es nun vollendjJ
unstatthaft, von solchen abgeschlossenen Zeiträumen zu sprechen.
Denn in ihr haben wir es gar nicht mit vergangenen Begebenheiten,
sondern vielmehr mit der ewigen , nie alternden Wahrheit zu thun,
iie in verschiedenen Zeiten und Völkern, ja in gleichzeitigen Sy-
stemen der Philosophie nur auf einer verschiedenen St«ife ihrer
Entwicklung steht.* Ref. mu«5 sich bescheiden zu bekcinnen, dasi»
er trotz der Ausführlichkeit, welche dei* Verf. hier dtifbietet, den
bezüglichen Unterschied nicht einsieht. Haften wir es denn wirk-*'
lieh nur in der Geschichte der Philosophie niit der ,^ewi-*'
gen, nie alternden Wahrheit zu tlmn*^ und nicht auch in dei*
politischen Geschichte ? Die Geschichte f^t überhaupt die Dialektik
des absoluten Geistes, der seinen reichen Inhalt in einzelnen
Momenten , welche hier wie dort die versdhiedenen Epochen , danrt
noch hier die einzelnen Geschichtsvölker, dort die einzeMien öe-
schichtssysteme sind, auseinanderlegt und evolvirt. Kann es öfcer-
haupt eine Wissenschaft mit der Unwahrheit zu thun haben, oder
gibt e^ auch im Gegensatze zu der eVngen eine z^itKch-efidliche
und alternde Wahrheit? Auch in der politischen Gesdhichte, in-
sofern sie diesen Namen verdient,- und nur von einer solchen kaiiw
doch tvohl der Verf. hier als im Gegensötze sprechen, hai>eit wir
09 ni<*t mit vergangenen Begebenheiten Äi thun, denn' die reifste,.
vorgeF(lckte«(te Epoche enthält alle übrigen als Momente in sicft
und di^ss liachzuw^sen ist gerade die Hauptaufgabe des Historiker«^
Aue* in der politischen Geschichte Hiteressfren uns die Ötereir
Begeb^nhditen nur insofern, als sie uns noch hi der Gegamvätt
aufbewahrt sind. Von einem ^fodten Kram^ deif Historie keam
nirgends^ die Rede sein, dtf in der Historie Nichts stirbt; was sie)
nicht Im PanOieon' der Gegenwart aufstellt, das hat nie gelebt,
#ar Im wdbren, vom Meister oft gebrauchten, Sinne des Wortes*
nie wirklich, fiibfr ja der Verf. selbst zu, S. 5, dass »wir, in der
Politik ^ gut Wie in der Philosophie, die ganze Vergangenheit
erst aus d^^ Gegetmnrt verstehen kÖAnen, indem diese erst deii
gnnze« Kidzwädc der Entwicklung der Geschiebte mif voller Klar«*
heft ausspricht;^ wie könnte d^er auch in der Politik diess der'
Fall sein, wenn nicht ebenfalls m ihr die Vei^^genheit in der*
Gegenwart foiHlcfcte? S. 804 wird nach Hegel als dias ZicH der
Weltgeschichte Eingestellt, aHe Gelstalten des Geistes, Recht, Moral^
Panrind^ Sidftt, Kansrt, Religiorl und Wissenschaft,, wier sie dar
Sylstem der PhilosopMe der Idee ifaeli verfährt, in zisitlicfae» Ent-
13*
j96 M>c^l«^ Sotwickluiigsgeschiclite der neueiten deutschen Philosophie.
Wicklung durch die ewige Thätigkeit des Geistes hervor-
zubringen und wiederum als Aufgabe der Philosophie der Geschichte
zu zeigen, dass das, was in der dialektischen Entwicklung des
Systems sich als alle Wahrheit ergab, in der grossen Weltdialektik
auch alle Wirklichkeit sei, und S. dOß wird vom Geiste ausgesagt,
„er weiss, dass, was geschieht, nicht nur nicht ohne Gott ge-
schieht, sondern dessen eigene Yerwirklichunff ist;^ wie könnte
nun noch ein solcher Unterschied zwischen der politisdien Ge-
schichte und der Geschichte der Philosophie behauptet werden?
Wenn der Verf. also S. 5 sagt: „Nun wäre es doch wahrlich wun-
derlich, wenn wir für die so reichhaltigen Philosophien, deren
Zeitgenossen das Schicksal uns zu sein vergönnte, warten sollten,
um sie darzustellen, bis ein Historiker sie fUr etwas mit Fug und
Recht Begrabenes und nur in der Erinnerung Aufbewahrtes be-
haupten wollte:^ so müssen wir ihm entgegenhalten, dass es über-
haupt wunderlich wäre, wenn wir das, was der wahre Historiker
Air etwas mit Fug und Recht Begrabenes behauptet, darstellen
wollten, da wir die Todten ihre Todten begraben lassen sollen.
Dabei aber kann doch nicht in Abrede gestellt werden, dass die
Geschiebte der Philosophie von der Darstellung ihrer Gegenwart
nicht dispensirt werden kann, während man der politischen Ge-
schichte von der Darstellung ihrer Gegenwart wohl abrathen 'muss.
Der Grund des Unterschiedes liegt aber zunächst darin, dass die
Philosophie als der begriffene Gedanke der Wirklichkeit, insoweit
sie in einzelnen Systemen hervortritt, auch nur Individuen, d. h.
solche Genien, die dem Gegebenen das Zufällige und Endliche ab-
zustreifen verstehen, oder vielmehr die im Keiche des Ahriman
selbst die Lichtgestalten des Ormuzd erkennen, zu ihren Organen
wählt, während die politische Geschichte, als die Verwirklichung
des Staates mit seinen einzelnen Gestalten, ganze Völker in der
Regel zu ihren Trägern bestimmt. Es liegt daher in der Natur der
Sache, dass dort die Zeiträume sich schärfer abschliessen und un-
verrückbarere Grenzen haben, als es hier der Fall ist. Nur da,
wo wirklich in der Weltgeschichte einzelne Individuen als Trager
des absoluten Geistes auftraten, wie Alexander, Karl der Ghrosse
und Napoleon, konnte der Historiker auch ohne Scheu die Darstel-
lung der Gegenwart auf sich nehmen, und er hat es gethan.
Uebergehend zum allgemeinen Charakter der darzustellenden
Systeme, will der Verf. auch aus diesem die Nothwendigkeit und
Zeilgemässheit seines Unternehmens gewinnen. Es handle sich gar
nicht mehr darum, S. 11, die Prinzipien (der Philosophie} neu za
denken, sondern durch das Denken in systematischer Ordnung zu
begründen. Unsere Zeit rekapitulire zu dem Ende alle vergangenen
Prinzipien noch einmal, bringe daher einen Reichthum und eine
Fülle der Gedanken, aber auch eine Mannigfaltigkeit und Divergenz
der Ansichten, woraus sich die mit so vieler Bitterkeit in der
Gegenwart geführten Kämpfe erklären. Dieser Zeitraum sei d^
Spiegel, worin die ganze Geschichte der Philosophie sich reflektirl
und könne eben das Bewusstsein genannt werden, welches die
Ilielielel, BntwSekkiiigsgeschichte der neiiesten deutschen Philosophie. ^97
Geschichte der Philosophie Über sich gewonnen hat, oder 2a |^e«
winnen im Begriff ist. Darum sei es aber auch augenscheinhch,
dass in unsern Tagen ohne die geschichtliche Kenntniss dieses
Kampfes der Eingang zur Philosophie gar nicht gefunden werden
könne. So wird der Schrift selbst auch der Charakter einer Ein--
leitung in die Philosophie vindicirt. So sehr nun Ref. einerseits
zugesteht, dass in Hinsicht der meisterhaften Klarheit und
edlen Popularität, der Präzisität im Ausdrucke uud
Ebenmässigkeit in der Ausführung,- diese Entwicklungs-
geschichte die meisten Schriften ähnlicher Tendenz und Bestimmung
weit hinter sich zurück lässt, kann er sich doch nicht überredeni
dass sie zum Vortheile der Wissenschaft der in die Hallen dersel-
ben eintretenden Jugend empfohlen werden oder überhaupt als eine
solche Einleitung dienen solle. Es kann überhaupt daraus^ dass
die Gegenwart die Prinzipien der Vergangenheit rekapitulirt, nicht
gefolgert werden, dass darum mit Erfolg mit der Gegenwart be-
gonnen werde. Geht ja aus dem Ganzen hervor , dass selbst der
Verf. auch der weltgeschichtlichen Gegenwart denselben Charakter
beilegt, wie es sich auch nicht anders denken lässt, als dass die
Philosophie so lange neue Prinzipien heraiisarbeiten muss, als die
Weltgeschichte diese Arbeit noch nicht aufgegeben hat. So lange
wir. nun das Studium der Weltgeschichte nicht mit der Gegenwart
beginnen — und dass diess thunlich sei, wird doch der Verfasser
schwerlich im .Ernste behaupten wollen — dürfen wir es gewiss
auch in der Geschichte der Philosophie nicht thun. Gerade weil
die Gegenwart die Rekapitulation aller Prinzipien auf sich genom-
men und uns somit den seligen Gefilden der ruhigen Entwicklung
entrissen und den Stürmen des Kampfes einmal preisgegeben hat,
müssen wir der Jugend, die zu dem Heiligthum der Spekulation
verehrend herantritt, so lange als möglich den herben Schmerz zu
ersparen suchen, der auch ihr nicht ausbleiben wird, müssen wir
ihr die g^oldenen Zeiten zuerst vorführen, wo der Denker in seinem
stillen Kämmerlein dem Gotte opferte und sich und die Welt selig
wusste. Warum sollten wir auch von der Methode der Idee ab-
weichen und nun eine andere Erziehung angreifen, als sie selbst
mit ihrem Lieblingskinde, der Menschheit vornahm? Dass es auch
nicht einmal ganz möglich ist, sieht der Verf. selbst ein und muss
er, bevor er an die Philosophie Kant's geht, zuvor, S. 13, Allge-
meines über das Problem der Philosophie aller Zeiten sagen und
von der griechischen Philosophie, wie auch von der des Mittelalters
sprechen. Als dieses Problem erkennt er nun, „dass das Verhält-
niss angegeben werde, welches zwischen Sein und Denken, Subject
und Object stattfindet, obwohl er gleich darauf zugeben muss, dass
die griechische Philosophie in ihrer Naivetät gar nicht zum Be-
wttsstsein des Gegensatzes beider Seiten kam, sondern die Einheit
unmittelbar voraussetzte, ohne sie weiter begreifen und erklären
zu wollen. Wenn dem aber so ist, wie kann die Einheit dieses
Gegensatzes als das Problem der Philosophie aller Zeiten in
Wahrheit hingestellt werden? Die Philosophie kann Nichts in ihrer
198- ^i^^lcfi ^ntwic|4uiigsgesch)ci\te der neuesten ^fi^pcheii PhÜQfpyliilf.
NtiiY^ät voraussetzen, A^ sie Uberbaifpt mi^ der Nfiiye^t nU^if j^
thifii hat und erst anfängt, w^nn der meiisch ^ip Fri4cl|i yom iifimP
der Erkenntniss des Guten un4 Böj^en gebrochen h^t un4 ^W i^W^
Paradiese der Unschuld verjagt ist, ur|d geraije zur Aiifg^bfj ,hai,
die Schuld z^ büssen, dfis Par^^ies wieder z,]\ ^robeirn und d^ji
gtand der Unschuld als eipen l^öher^p, insofern dje gchuW duxiiht
gemacht ist, sich wiedef zu erringen j da sie über^iaupt l^jcht^
voraussetzten kann, in4ein ihr A|Le]; Voraussetzung ist i^nd ]sie depf^i^
ganzer^ Inhalt bewusst zu jfetzeif bat. Unm^glip^ kann 4ie Pbi}o-r
ißopb^^ die T^ösung eines (jegensatzes zu ihrem problepa gehabt
h^bei^, so leinge dieser Gegensatz ihr nicht selbst zum Qewusstseio
gekonifnenwar, da sie das überhaupt nicht hat, was überhaupt lür
sie nicht d@| i$t, von dem il^r d^s Bewusstsejn fehlt. Das Problem
der Philosopbje aljer Zp^t^u ^^"^ darum i^j^r diess gewesen sein,
fiie Einheit in der jV^ir^pigf^ltigKeit .aufzusuchen und ^^n Gegensatz,
der beide in der Reflexion. ^Viseinandei- bält, ai|fzuheben. Im Ver-
laufe d^r Qeschicbte der Philosophie spbwaijd nv^n die M^i)jiigf3|tig?T
keit immer mehr zusg\iflmen und wurde die bpgrifflic^^ Erh^nntniss
der Einheit immer niehjf efweitert. M,\\ jedepi Systeme der grie-r
cbischen Pbilpsqpbje tritt. so^iiV jn^iftfir ein Qegeftsatz m^bv ^^ <**«?
Bewusstsein, bis; im Mitte jal^pr der von Sein und Denken vß. seiner
wejtßi^ Kluft quseipancier iv^\ und als das Hauptproblem alL^
übrigen sieb s\»l)Prdinirte. iLei^-tef^s hsit der Verf., wie avch die
Stellung der mw^ Philosophie zu der des Jlittel^ltei^^ ir^it einer
Jfunstfertigkeit dargestellt, die al^ Muster dienei^ ks^nn.
Seine eigeptliche A\ifgab?i suqbt n^n d^t Verf,, nachdem er
in der Einleitur^, ^Is der erstem Vprlesung, sich den Weg ebnete,
in noch fünfzehn Vorlesunger^ zu lösen, von denen die erste dei|
j£riti;zismus Kant's, die zweite die Glaubensphilosophie Hamann's,
ISerder's und Jipikobi's, die dritte den transscendentalep Idealismus
der Ficbtie*scheni W^i^se^^^^haft^lehre, ^ie v^erle die Fichte's^ghe
Schule; Scbl^geJ, Scblej^rmacher und Noval^i;, die fünfte das. uip-
gebildete Syst en» Fichte's, die' ^^hste.j siebept^, achte und ne^^e
Schelling'si gau^es, SQwoW ^^ijpfü^iglicbes, ^Is umgebildetes Systepgt,
4ie zehnte Solger, die elfte, zwömß und dreizehnte JÖLegefs valW
ständiges Systepj, iind eiidlicb die yi^zebflte und fünfzetnt^ 4i^
Hegfl'scbe Scbü.l^: Pseudohegel,^^fter^ rejjjbte Wi Unke Seite ^^4
das die Centren behar^^el^. Aus (^(eser ^D^alts^hgabe ergibt sicli
schon, die Reichhaltigkeit des lub^ts, pbgleicb. mpii^ mit Kedit d^
System ^erbart's vermisst, welche^ ^r doch in sieiner:„Gespibi9bt(^
der letjjten Systeme der Philosophie in Peutschlf^?id von K?yiit bis
P[e^el''. einß Stelle gönnt, und dais doch seitdem nicht an ^^nftuss
verlor uii^ darum jedenfalls so g\xt ^ Schlegel !^|^^^ehj^pdlH»g
verdient. Zu ben^erken, ist nqcb,. daas Sciielji.ing nicbi .erst ^(t clw
sechsten Vorlesung eingeführt wir4., jpon4ern sphan früher R^
stehen muss. Sp wird :fu ^, &, 27 sphon 4^i^uf Wfn^^yks^W g^
mach^, vrie Sch^.ling>, inteÜekt\iell^.Ans<?)ba^\iflg ^^ip wurzelt,, d^
Kant ?eit ün^ |aHqi. ^k'f^rnjiw d^. AVs({b»iuflg v^ §w^
PmiV^rMV. .te#sf un4 ^\^ jf^. di^ g^yj^cli v^lj^t, fAlgm«#
Mkiu»!«!, Eo(wicUiuif«g«fcbipli(e der a«aesrm deaMcb#n FiiilMopha». |99
aucli behauptet, dass wir die Diiige gar nicht als 0m Ausserein^
ander und eine Succession von Gegenständen vor uns haben und
iu Eins zusammenfassen würden, wie wir sie uns in Gott denken,
wenn wir sie nur »hne die Bedingung von Zeit und Raum an-
schauen könnten. Dabei wird zugleich Scheliing's Angabe, als sei
die intellektuelle AnschauUng gar nicht sein Grundprinzip gewesen
und habe er sie nur aufgestellt, um die Stetigkeit der philosophi-
schen Entwicklung beizubehalten, als eine Verdrehung der Ge-
schichte zurückgewiesen und ihr die Fähigkeit abgesprochen, Mit*
und Nachwelt zu bestechen. So zweifellos es nun dem Ref. dünkt|
dass das ursprüngliche System Schelling's die intellektuelle An-
schauung zum Grundprinzip hat und dass diess allerdings aus den
Kant'schen Anscbauungsformen von Zeit und Raum hervorgegangen
ist, so sieht er doch nicht ein, wie man denselben einer Ver-
drehung der Geschichte anklagen kann, wenn er, nachdem er durch
Hegel hindurchgegangen ist, über dieses Grundprinzip hinausgeht
und durch das gewonnene Resultat und dadurch, dass er jetzt
dieses schon in seinem Grundprinzip sieht, selbst das Bewusstsein
desselben als solchen verliert. Man vergisst überhaupt, wie es
scheint, bei der Beurlheilung Schelling's, dass sich in ihm diQ
Uebergänge ganz anders gestalten mussten , als sie uns , denen die
feingesponuenen Fäden der Subjectivität nicht so sichtbar werden,
Yorkoipmen können und dass darum er unmöglich im Stande sein
kann, das Hegersche in ihm, was doch allerdings in gewisser
Beziehung, insofern nämlich Hegel aus ihm hervorgegangen ist,
auch ihm angehört, von dem Schelling'schen zu unterscheiden.
Auch kann Ref. sich nicht damit befreunden, was allerdings mehr
die Form betriiTt, wohl aber die dem Inhalt nicht gleichgültige und die,
besonders wenn die Arbeit in Wahrheit eine Entwicjilungsgeschichte
sein und als Einleitung in die Philosophie dienen soll,, auch unmit-
telbar in den Inhalt eingreift, dass durch solche Hinweisungen der
Entwicklung vorgegriiFen und das, was das Ergebniss sein soll,
schon in jene hineingezogen wird.
Dieser polemischen Richtung, und zwar selbst gegen solche«
welche noch theilweise innerhalh der Hegel'schen Schule stehen,
dem Prinzip der Autonomie aber^ wie sie von Hegel gefasst ist,
untreu geworden sind, gegen die Pseudohegelianer, ist es auch
zuzuschreiben, dass Hamann, Herder und Jakobi eine besondere
Behandlung finden und ihre Philesophie mit dem Namen Glaubens-
philosophie belegt wird. Schon in der Einleitung wird darauf auf-
merksam gemacht, wie in der Philosophie des Mittelalters der
Gegensatz- von Glauben und Wissen hervortrete, indem einer-
seits ein Qbject da ist, das durch die Vermittlung der Sinne eine
gegen dasselbe selbstständig bleibende Aussenwelt in sich zurück-
schlingen will; andererseits ein nur in der Vorstellung vorhandenes
InteUekliualreicb, das ^er Glaube sich obstinirt, aus sich heraus in
eine jen$eitig^]^ernei zu. werfen. Ebendaselbst wird es alsdann als
diq BestÄmwiing der neuem. Ptulosofhie gefasst, neben dem von Sein
u«d DßW9a auob di^s^a Gegaosat? von Glauben und Wissen auf-
300 ^i<^helet, Entwidiluiigsfeichidite der neueaten denlicbra Fhilcyioplde.
zuiösen, damit aber zagleich die Immanenz des Göttlichen hefza-^
stellen. Es fragt sich aber, wie ein Gegensatz zwischen Glauben
und Wissen stattfinden könne, da ja der Glaube, wenn er es wahr-
haft ist, sich als das wahre Wissen weiss. Auch ist ja der Glaube
nie in der Geschichte als Etwas, was ^noch neben dem Wissen
wäre, hervorgetreten, sondern immer nur als das gewisseste Wissen
der Glaubensgenossenschaften. Wo irgend ein Gegensatz hervor-
trat, so war er der der Glaubensgewissheit und der durch die au-
tonomische Dialektik des Geistes gewonnenen Ueberzeugung. Dieser
Gegensatz zwischen der Glaubensgewissheit und der dialektischen
Gewissheit, wie wir die durch die dialektische Vermittlung zu
Stande gebrachte Ueberzeugung nennen können, kann nur dadurch
gelöst werden, dass sie entweder beide in Eins gesetzt werden
und zu einem und demselben befriedigenden Resultate gelangen,
oder dass die Glaubensgewissheit sich selbst als ein Höheres, aber nicht
in Widerspruch Stehendes mit dem durch die Dialektik Vermittelten
bewähret, oder dass die Dialektik der Glaubensgewissheit eine unter-
geordnete Stellung, deren Wahrheit sie ist, anweist. Dass letzteres
das Endresultat HegeFs ist, ist bekannt und zieht sich auch durch
diese Schrift, deren Verf. sich darum in den Mittelpunkt der Hegel-
schen Schule stellt und S. 384 von sich sagt: „Ich war bemüht,
das innerhalb der Vemunfterkentniss gewonnene Resultat wieder in
eine religiöse Anschauungsweise umzusetzen: sollten wir auf die-
sem Wege auch gezwungen sein, manche Lieblingsvorstellungen,
an denen wir gross gezogen worden, fallen zu lassen und unsere
religiösen Ueberzeugungen einer Läuterung und Umgestaltung zu
unterwerfen. Ich verhehlte mir also nicht die Inhaltsverschieden-
heit der religiösen Vorstellungen und der philosophischen Sätze;
statt aber zwischen beiden Seiten einen Vergleich zu schliessen,
habe ich vielmehr offen die neue, aus den Ergebnissen der philo-
sophischen Betrachtungen fliessende Vorstellung als die wahre
mystische Auslegung des Christenthums ausgesprochen, deren ja
ohnehin jedes Jahrhundert eine andere aufzuweisen habe.'' Von
einer ulaubensphilosophie kann daher gar keine Rede s^in, wenn
sie nicht gleichbedeutend mit Religionsphilosophie sein soll, da
Glauben und Wissen in keiner wahren Philosophie einen Gegensatz
bilden können, und kann vom Glauben in einer Geschichtsentwick-
lung der Philosophie nur insoweit gesprochen werden, als dieser
seine Ueberzeugung oder seine G^wissheit als nicht identisch weiss
mit der der Dialektik und daher ein weiteres Ferment für die
Selbstbewegung des Geistes wird. War diess ja eben der Fall
bei Hamann, Herder und selbst Jakobi, denen nie in den Sinn kam,
ein philosophisches System aufzubauen, sondern dds, was sie in
sich als den Inhalt des Glaubens wussten, dem Systeme gegenüber
zu retten und geltend zu machen. Dass sie es gethan haben,
müssen vdr ihnen Dank wissen, denn sie haben in der That die
Blosse des Kanfschen Systems an den Tag gebracht und in der
Genialität des Glaubens Gedanken herausgearbeitet, die Kant und
sogar später Fichte kaum noch geahnt haben und die in ihrer Tiefe
Miclielet, Snlwickhmgsgeschichto der neuesten dentfcben Philosophie. ^01
ZU fassen und zu begreifen erst der Spekulation der Geg^niirärt
auftewahrt blieb, und sie haben gar Manches in ihren Schriften nieder-*
g'elegt, woran erst spätere Systeme sich werden abarbeiten müssen,
Ks muss daher befremden, wenn selbst Schelling zu den Glaubens*
Philosophen, S. 54, gezählt und somit das Verdammungsurtheil über
ihn ausgesprochen wird^ während doch der Gedanke auftauchen
muss, dass, so lange der Glaube in den Resultaten der Dialektik
nicht seine* eigne Gewissheit wiederfindet, die Dialektik selbst sich
den Vorwurf machen muss, den reichen Inhalt des Glaubens nüch
nicht ergründet, noch nicht denkend begriffen zu haben.
Durdh diese falsche Klassification der philosophischen Systeme
in Wissens- oder Denkphilosophie einerseits und in Glaubensphilo-
sophie andererseits lässt sich, nach der Ueberzeugung des Ref.,
der Verfasser zu so mancher Behauptung verleiten, die keine Probe
einer tieferen Kritik aushält. So soll, S. 117, der spätere Schelling
— wie ehedem der spätere Fichte gegen ihn ankämpfte — jetzt
gegen das philosophische System HegePs reagiren, nur mit deih
Unterschiede, dass während Fichte vorwärts zu dringen strebte,
Schelling nach hinten ausschlagen und die Waffe seiner Reaction
die Glaubenspbilosophie sein soll, welche weit hinter der von Jakobi
und der von Schlegel als eine religiös -positive zurückbleibt. Es
ist dieser Vorwurf vom Religiös- Positiven in dem Hunde eines
Hegelianers um so befremdender, als sich Hegel selbst auf dem
Boden dieses Religiös -Positiven wusste und noch biblischer als die
Bibel, auf die er sich so häufig beruft und die nur aus der Stufei
der Vorstellung in die der SpeKulation erhoben zu haben, er sich
als Hauptverdienst anrechnet. So soll, ibid., auch das firühere System
Schelling*s schon mehr der Glaubensphilosophie angehören, weil eir
von der unmittelbaren Anschauung ausging, während ihm ja der
neue Schelling selbst das Prädikat der Negativität beilegt und seine
gegenwärtige Philosophie, obgleich sie als eine Fortbildung dessel-
ben betrachtend, ihr entgegensetzt. So soll, S. 119, Solger, der
vor dem Ende des zweiten Decenniums dieses Jahrhundei^ abge-
tretene Schüler Schelling's, höher als der neue Schelling stehen
und unmittelbarer Vorläufer HegeFs sein, weil beide Arten der
Philosophie bei ihm sich mehr noch, als bei seinem Lehrer durch-
dringen; wohl nur um ihn als vierten Glaubensphilosophen unter-
bringen zu können.
Wie diese, kann auch Referent die Eintheilung der Hegerscheh
Schule in die rechte und linke Seite und das Centrum nicht billigen,
welche Strauss geistreich, aber auch nur geistreich, alsAnalogöni
der französischen Kammer aufbrachte. Zwar wird sie S. 225 ge-
r<echtfertigt und, wenn man es gelten lassen will, deducirt, dabei
aber vergessen, dass in den politischen Begebenhefton, insofern
Individuen mit ihren aufs Endliche gerichteten Leidenschaften auf
den Schauplatz treten, die Endlichkeit und die Willkür ihr Spiel
treiben, die allerdings zuletzt vom Leuen des Absoluten verzehrt
und, insofern auch die Unendlichkeit und absolute Freiheit ihren
Antheil daran haben, auch gereinigt und geläutert worien, dass
f
9)^r. ipexwle .^arom nur die W^itgescbiohto im Ganzen uad die
Fb4(;^^opbi& der Geschichte in ihrern ewispeo Gellung sich geg^n&^itig
ZUKO Spi€;gel dienen können, aber nicht einem einseitigen politischea
Ttßib^n .iißser. hohe. Werth beigelegt werden darf. Was sollen
auQlt Kategorien, wie Rechts, Links und Centmm, einer Schule
dienen, me sich im Besitase der absolu):en Wahrheit weiss? Jede
^ipjjutung der Schule weiss sich im Centrum, und wenn sie sieb
^ne andere Stellung selbst i&uweist, so ist es mir- in RiXcJ^icht auf
tiestehende Verhältnisse, die nach ihrem eigenen Geständnisse schon
längst nichtmehr der Wirklichkeit angehören, weil^ wenn es anders'
Wärei diess allein schon hinreichend sein müsste, sie zu widerlegen.
Dß8S.$ie ^uch nicht einmal ausreichen, muss sich der Verfasser
selbst; eingestehen, da immer nur in Rücksicht auf einige Sätze
d^s Sinen oder Anderen die Classification vorgenommen werden
Wnjl, die durch andere Behauptungen wiederum umgestossen wird,
JTas dieser Classification zu Grunde liegt, ist, dass alle Richtungen
er Sßl^ule von Hegel, gleichsam von der Kammer, umschlossen
weifd^n. Aber auch diess kann nicht zugegeben werden, trotz der
g^9^ejn Muhe, die sich der Verfasser gibt, um diess zu beweisen,
^,^7 }^, S.^ und trotz der so häufig vorkommenden Versicherun-
en, |dwi§ die HegeFsche. Schule nur die entwickelte Totalität ^e^
^ ystema selbst sei. Es ist nicht zu läugnen , dass nur dem Um-
^tai^de, dass Hegel mit dem Dogma kokettirte, es aufsuchte, um
€^ wieder zu fliehen, .^s floh.« um mit ihm wieder zusammen zq
ilieffen smd Niemand wjus^te, wie es mit seiner Orthodoxie steht,
es^j^uzusotüT^ihen ist,, dass di^e verschiedenen Richtungen in seinem
Systeme Jtefrij^djgvng fanden: "».d dass pie auch so lange ihin trw
Ijweben, als sie, sich nicht ^filbstjJwei. Stellung ihm gegenüber klajp
^U; inachen sucWi^n, Sehe», wir j^v -wie . die meisten der Schüler
heute noqh unklar hierübej: siud, dabei ^ber geradezu ihre Oppo-
sitjiQn gegen den DIeister aussprechen ^^ofej:n e^^f ich herausstellen
?oUte,^ dass er es andexs . gehaUen habe, z. B. Gabler,, Hinrichs,
Jfeszk^wski etc.. Diese Richtungen nun» jetzt durch die Opppsition,
dief von aussen gegen sie, unter Anderem drückend, ^ich geltend
5 lachte, jpusiwmengebalten^ müssen die Schule sprengen, jsobald
ieDiffereuzeii, was bis. jetzt noch nickt geschehen i&t, bis auf die
Grundprinzipien verfolgt werden, weil am wenigsten dieses aus
einem Gusse geformte, fest gegliederte System eine VeTschiedenheit
der Ansichten zulassen kann.
Fragen wir uns nun, ob der Verfasser durch diesen Gang und
^Uf dies9 Weise seine Aulgabe löste; so müssen wir mit Nein ant-
wo?tea. Die polemische Richtung, die sich durch das Ganze zieht,
Ü^ut dem Virerjte, ^ einer Entwicklungsgeschichlfi, bedeutenden
Eintrag, da. eJute solche schon in sieht seU)st die Negativität hat»
jegen AJteÄ, was ihren^ Wesen nickt gemäss ist, jede fremdfi Ein-
mischung entbehren kan^ und ikre durchsichtige Klarheit durch
tet^terQnurffQtrübtwjird. Vpllend^ lä^^ich nicht absehen, wie dia
JI.Q^\m fhws%plvie gcheUipg'ji in.: die^i^r Entwi^klungageschieht^
^m ^tog^. $n((ta«k, IfWn, wem ^ wahr i;st, wu ^ lMm% Wfß
MMieM,: BntfndikiiiigsgeMhlelrte d«r iMUtftiM 4i««Mlieii'FliyöMpy». {|||g
V^rCMmr nagnAclAeat fwird , i)a^» ^ sie . nur «in Prodokt der Seh'trM^^he^
des BgdtfttiHS iflt, 'du ZurückfaUen in länöst überwundene Welt«*'
«n^auuiijg^eii, ciin YerArehm und Verftlsoben der CfesN^ieht» »tict
A^ßt^tt die -fiesrchiohte selbst sich etltwickein und sprechen zu las«
s««, werden ihryfiadi wiflktirMek fewfihlter C^asAficition und v^Mi
anderswo heH^eig^fiEafenen Kaitegonen, die Weg« Voi^ez^cbnet, in
die stie hineingeziwängit wird, inneihalb der Schule selbst weist det
Verfasser sieh selbst ünit wenigen Anderen dus Oentnim an, um se
sich als den Mittelpunkt der Geschichte • flii fselgenj ohne erst in
Wahrheit die Entscheidung dev Geschfehte atenwarten'! Dass auf
diese Weise auch der neue Schelling nicht überwunden wird, ist
klar, so wie es «uoh andererseits leicht ersichtlich ist, dass dieser
auch jetift noch nioh^ über den Vorwurf, den Hegel schon dem
früheren Scheliing machte, dass er nämlich innerhalb der fi^jeotivea
Versicherung verharre, noch nicht hinausgekommen ist, da er es
noch zu keiner immanenten Methode, nach welcher er zwar ringt,
bringen konnte. Immerhin bleibt noch am Schlüsse der ganzen
Entwickelang die ausschliessliche Immanenz der göttlichen Persön-
lichkeit als eioe einseitige zurück, die Scheliing mit Recht mit der
Transscendenz zu versöhnen sucht; immerhin sind die Räthsel des
Bösen in der Hegerschen Schule, welcher die ganze Geschichte
nur eine Selbstverwirklichung des Absoluten ist, noch nicht gelöst,
die Scheliing mit Recht zu lösen sich bemüht; immerhin existirt
im Hegel'schen Systeme noch eine Kluft zwischen dem logischen
Gedanken und dem rdSlep Sein, zwischen der Logik und der Phi-
losophie der Natur, die* Scheliing mit Recht auszufüllen strebt.
Allerdings ist nicht zu verkennen, dass Scheliing, aus Scheu, dem
Nachgekommenen eine Bedeutung zuzugestehen , dem vollen Inhalte
nach nicht da den Faden aufnimmt , bis wohin Hegel ihn gesponnen,
und darum auch vielfach hinter der geschichtlichen Entwickelung
zurück bleibt; aber desshalb muss ihm doch zugestanden werden,
dass die Wege, die er angibt, gerade diejenigen sind, welche
der philosophische Genius der Zukunft, dessen Flügelschlag wir
unter dem Waffengeklirre der Kämpfer nicht überhören, weiter
verfolgen wird, und dass das Material, das er liefert, gerade das-
jenige ist, mit welchem der künftige Baumeister seinen Tempel
des Gedankens zu errichten hat. Ist aber auch der neue Scheliing
durch diese Schrift noch nicht überwunden: so mag er doch durch
dieselbe überzeugt worden sein, dass der grosse Todte, mit dem
er ohne Zweifel leichler fertig zu werden glaubte, in Wahrheit
nicht todt ist, vielmehr in seinen Schülern lebt und dieselben be-
lebt , dass diese Schüler die Waffen vom Meister trefflich zu fuhren
gelernt haben und darum mehr, als er erwartete, im Kampfe sich
bewähren; dass er überhaupt wohl mehr zum negativen Kritiker
des Systems als zum Aufbau eines neuen berufen ist. Denn das
müssen wir dem Verfasser zugestehen — weil die Schrift auf jeder
Seite die Beweise liefert — dass das System des Lehrers nicht
abstract als Tradition in ihm liegt, sondern viehnehr sein eigenstes
Eigenthum geworden ist, dass er mit ihm auf die naivste Weise
204 BGehelely EnlwickloiifSfetchiditc dSer neuesten deatachen PhOosopUeC
imusugf^en weiss und natürlich ttnd gesdiidiUicfa G^benes bis
auf den letzten Rest durchdringt. Darum wird auch diese Schrift
ßinen bleibenden Werth, selbst wenn die Kämpfe der beiden Haupt-
richtungen in einem dritten Systeme einst ihre Versöhnung ge-
funden habra, in der Wissenschaft behalten, weil sie eine klare
Einsicht in das Gemeinsame, wie in die Differenzen der HegeFschen
Schule verschafft und das Durchdnuigensein von der Macht des
Gedankens, das der ranzen Schule eigen ist, beurkundet. Der
Verfasser selbst bewährt zugleich in ihr eine an wahre Genialität
ärenzende Meisterschaft, diejenige Philosophie, welche am meisten
er Unpopularitat in der Darstellung angeklagt wird, mit dem
populären Bewusstsein zu vermitteki, und es wird ihm daher auch
jeder, der für die Verklärung der Gegenwart durch di» Speculative
für die Zukunft etwas hofft, reichlichen Dank zollen.
A. Adler«
IIL
Zur Kritik iren »r. üTIrth^s Analyse des
rellgISsen CirundgefÜhl».
(Die speculative Idee Gottes und die damit zusaimnenhängenden Pro-
bleme der Philosophie. Eine kritisch -dogmatische Untersuchung von Dr.
J. U. Wirth. Stuttgart und Täbingen, 1845. S.l ->6, Einleitung.)
fis ist in letzter Zeit öfters und insbesondere gerade von
Solchen, welche keineswegs auf Seiten der sog. positiven, dog-
matischen, christlichen — das Wort im pretiösen Sinne genommen
— Philosophie stehen, mit aller Entschiedenheit, welche dem philo-
sophischen Denken zu Gebote steht, darauf aufmerksam gemacht
worden, dass der Identitätsstandpunkt der herrschenden Philosophie
die Idee der Religion in Wahrheit aufgehoben, die ewige
Wahrheit der Religion als solcher annihilirt habe; und wenn den
flüchtigen Bemerkungen, die der Verfasser dieses Aufsatzes in der
Dissertation „der Religionsbegriff HegeFs*' (Darmstadt 1845) un-
längst ausgesprochen hat, einiger Werth beigelegt werden dürfte,
so möchte derselbe darin gerade gefunden werden, dass eben jener
Punkt in der Kritik der HegePschen Religionsphilosophie ans Licht
zu stellen versucht worden ist. Von diesem Gesichtspunkt aus er-
scheint es nun als ein Verdienst Wirth's, in seiner vorliegenden
Schrift, der Hegel'schen Philosophie gegenüber, auf die ewige
Wahrheit der keineswegs im Kreise des Vorstellens beschränkten
and beschlossenen Religion, auf ihr specifisches Wesen und ihre
ewige Idee von Neuem hingewiesen zu haben. Mit vollem Be-
wusstsein stimmen wir darum dem Herrn Dr. Wirth bei, wenn er
sagt, dass diejdee der Religion nur aus dem Herzen des Menschen zu
reissen sei, wenn das Herz selbst aus dem Menschen gerissen werden
könnte, dass das religiöse Grundgefühl immer noch so lauter im
Menschen sei, wie am ersten Morgen, da der erste Mensch ge-
worden, dass dieses Urgefühl der Rejigion auch die ewige Basis
des Wissens, der Philosophie sei, deren Aufgabe darin bestehe,
der eigenen Stimme jenes Gefühls zu lauschen, das reine Sich-
selbstvernehmen jenes Gefiihls zu sein, das religiöse Bewusstsein
zu einer neuen, tieferen Form zu läutern, den Glauben in seine
2Ag Zur Krilik von Dr. Wirth's Analyse
freie, philosophische Gestalt zu erheben und in verjüngter, idealer
Form wiederzugewinnen. Allerdings liegt etwas tief und nachhal-
tig Begeisterndes in dem Gedanken , dass die Philosophie die Mutter
eines freien, philosophisch -religiösen Bewusstseins , einer neuen
religiösen Zukunft sei, deren Morgenröthe die Wissenschaft bereits
erkannt habe. Der Verfasser dieser Zeilen hat selbst ähnliche
Ueberzeugungen über das Verhältniss von Philosophie und Religion
überhaupt und über die Zukunft des Christenthums insbesondere
bereits anderwärts*) ausgesprochen, und so weit wären wir also
mit Herrn Dr. Wirth vollständig im Einklang. Nicht so ist es aber
der Fall in Bezug auf den näheren Inhalt des uranfänglichen Ge-
fühls, welches als die Wurzel nicht bloss, sondern als bleibende
Grundform der Refigion von Ör. WJrth bezeichnet Wird. Wenn
Dr. Wirth von der ft^igton sagt, sie wutÜB in ^em uranfäng-
lichen Gefühle des Geistes, dem unmittelbaren Innewerden
seines» eignen WeseKs, so beweist diese Bestimmung! eben,
dass wer sich so äusdräcken konnte $ ftir sein The^l selYfiSi ft^ca
im Prinzip der Identitsitspkilosophie befangen i^t, so sehi* er auch
sonst in der Peripherie von den Hegerschen Resultaten abweichen
mag. So sehr nun auch Dr. Wirth gegen diese Behauptung zu
protestiren geneigt sein möchte, so entschieden müssen wir bei
derselben beharren, und das Nachstehende, hpifen wir, wird de»
Beweis davon liefern« Wenn der Geist im religiösen Grundge-
fühle sein eigenes Wes^rt sucht und finden will \m^ des^selben
unmittelbar inne wird^ w^s ist diess anderiff, als die religiöse Form
des Ausdrucks für die, wenn auch durch einen EqtwicHlungspro-
zess vermittelte. Identität Gottes und des menschlichen Sdbst^
bewusstseins, des Absoluten und des endlichen Geiste»? . Und
wenn der religiöse Geist in jenem .unmittelbaren Innewerden semeM
eigenen , Wesens dieses sein eigenes Wesen als ein anderes, aki
das Unbedingte, worih der Geist sich, finden will, anschaut: —
worin läge hier der Unterschied von dem Feuerbaeh*scben Satze,
dass der Gegensatz des Göttlichen und Menschlichen nichts anderesi
ist, als der Gegensatz zwischen dem mensdilichen WeseA und
dem menschlichen Individuum , dass Gott qur das offenbafe
Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen ist? Ist abo
mit der Wirtb^schen Bestimm^ng de;f religiösen Grundgefühls, wenn
sie consequent gedacht wird, nicht e^euMs die Religion ßb»soleha
annihilirt? Ist sie als ein Verhältniss dies Menschen zu sich selbst,
zu seinem eigenen Wesen, bestimmt, so ist in der That das Ver-
hältniss des Menschen zu Gott zur Ideniität neutralisirt ! Doch wir
wollen diess Resultat hier nur vorläufig antipiciren und die Ana-
lyse Wirth's selbst betrachten, um unsere Behauptung zu erhärten^
*} Itt der Sbhrifi: M^thoilog'^ie und Offeitbäfdiig. Die tteligion in
ihrenr allgaoemeti W^Mi, ihi«¥ |f6MliidKllkAen ÜMfti^feklimi^ dttd ihftif
i^oliiMn V<d)eadufi2. I. Bind (Oormiiadl, 184S)^.4 9,7 #. üüa %W,
. (iU^i ilia und' 12a ^.dm f^ «n<(.S<4fd.t^
6m§ roTii^Mn ÜtJoni^iMA». f^^
Ams auf dieaem Staadciiiikte nrit dem Ahdereti des UknnAen^ A^m
Absoluten md Unbedinfften, also auch mit der ReUgiou S0lbst^
kein Ernst gemadit wird.
Gehen wir jedodb im Prifui^ der von Dr. Wirft in sehier
Einleituiig S. 1 *- 6 Tersuchten anatytischeR Entwicklung d«^s
religiösen Grundgefühls selbst über^ so kann im Voraus kein
Zweifel danjUMa* obwalten, dass die qieculatire Analyse eine} con-
creten geistigen Lebensverhältnisses nur eine genelische sein kann,
eine solche, in welcher das in Frage stehende Terhftltitiss zuerst
in seiner Unmittelbarkeit, in seiner noch an skh seienden , nodh
nicht zum Gegensatze auseinandergetretenen Einheit, dann in der
^bäre der Däerenz oder Entzweinng der Elememte und endlich
in der Sphäre ihrer yernrittelten Einheit und freien Versöhniaig
betrachtet, also der Prozess der immanenten Dialektik des wer-«
denden Verhältnisses selbst vor Augen geführt wird. Was nun
diese formelle Seite angehl, so könnte es zwar beim ersten
Anblick allerdings seheinen, als ob Dr. Wirth gegen daa Gesetz
dieser Methode nichts gefehlt habe, da er ausdrüGkiicb daTon aus«^
geht, dass die das Wesen des Geistes constitnirettdea Elemente
an sich eins und darum auch aetuell vereinbar sein ftinssen^
weil der Mensch eine Henade, sein Wesen ein einheitliches sei
und desshalb auch die Entzweiung der Elemente niemals zur Aof^
lösitng fortgehen könne. Bei näherer Betrachtung verschwindei
indesKsen dieser Schein. Begreiflicher Weise iat doefa., da das
menjadili4;he Wesen ein einheitliches ist, wie Dr. Wirth selbst sagl^
der dialektische Prozess seiner Eniwiddung aus der Unmittelbar-»
keit durch die Entzweiung der Elemente hindurch zmr Versöteiing
des Zwistes, nur Reconstruelion der ursprünglichen Einheit des
Geistes!,, ein immanenter; die Vermittlung dev ansii^eieaiiea, un«
mittelbaren Einheit zur fiirsichseiendew, freien Vetsöhnniig gehl
an und in dem menschlichen Wesen sdbst vor sich, und die fint^
wicUung des religiösent Grundgeiiihls z» seiner voJkmieten. IdeaUül
ist eine und diese&e mit dar eäiischen Entwicklung der mensda-^
lieben Eersönliold^it; das Werden der reUgiedt^süitliehen PersöiiK
lidikeit ist ebe» nichts andersi,. als diedUrbEdiel Entzweiung hici^
duurchg^rilende und durch, diese Vermittkiifg -sidii selbst herter^
bringende Einheit der Elemente.. Das Werden dieser Einheit, ibre
Reeonstruclion, ist eben nur das; zur Verwirklichung seines eignen-
Begriffs sich fortbewegende einheitliche Wesen des Menschen selbst..
Wie erscheint es ahear bei Herrn Dr. Wirth? Ihm ist vielmehr
das Unbedingte selbst die sich hervorbringende Einheit der cUs^
paraten and divergicenden Elemente des menschlichen Bewusslseins^
das Absolute, Gott,, ist ihm die werdende Einheit beider Eb^
mente. Aa die ^lle des seinen eignen Begriff verwirklichenden«
einheitlichen Wesens des Menschen sehen wir bei Dr. Wirth duirck
die wunderbare Magie dialektischer TaschenspieJerkunst das Abso-
lute gesetzt und auf dieses der Prozess der werdenden Versöhnung
ctes mensdilichen Wesens übcrtragenl Eine solche Escamolirutigy
die wir übrigens weit entfernt sind, für eine absichtliche und be-
209 Zur Kritik voo Dr« Wirlh*« Aiwlyse
unisste bei Iferrn Dr. Wirth erklären zu wollen^ bringfl in die
fragliche Entwicklung einen Dualismus zwischen GoU und den
Menschen, welcher der hohle Boden ist, auf dem dAe ganze Ent-
wicklung sidi bewegt. Die Kraft und Schärfe der Unterscheidung
wird hier um so störender yermisst, als auf deren Mangel die
ganze Deduction gebaut ist.
Aber es hängt damit noch ein anderer Punkt eng zusammen,
weli^er ebenfalls die formelle Seite der Wirth*schen Deduction
betrifft. Obgleich nämlich in derselben das Ansich der henadischen
Wesenheit des Geistes als das Erste erscheint und .dagegen die
Entzweiung der Elemente als das Spätere erst hervortritt, so geht
doch aus der ganzen Art und Weise, wie Dr. Wirth sich aus-
drückt, deutlich genug hervor, dass er auch hier in einem un-
statthaften Dualismus sich bewegt und von dera Boden des logi-
schen Begriffs unrnittellmr in das concrete Gebiet über-
springt. Unter der an sich henadischen Wesenheit des Geistes,
von wekher er ausgeht, ist bei ihm nicht sowohl die erste, un-^
mittelbare Existenz des wirklichen Bewusstseins, in welcher der
Gegensatz noch nicht erwacht und hervorgetreten ist, sondern noch
im Hintergrunde des unmittelbaren Yersöhntseins der Elemente
schlummert, verstanden, sondern vielmehr der logische Begriff des
menschlichen Wesens, nach welchem freilich die Elemente blosse
Bestimmungen und Unterschiede, keine wirklichen Gegensätze sind.
Desshalb kann aber sofort nicht geschlossen werden, dass sie in
der concreten Erscheinung der Persönlichkeit nidit als wirisliche
Gegensätze hervorträten, sondern blosse Unterschiede blieben, die
wi^er zur Identität und Indifferenz zusammengii^en. Der Ueb^-
gang aber vom logischen Begriff des menscUichen Wesens, als
d^ ansichseienden Einheit der disparaten Elemente,' zum concretea
Verhältnisse derselben im wirklichen Bewusstsein ist ein so ge-
waltsamer Sprung, dass damit nothwendig die immanente Gon-
tkittität der genetischen Entwicklung zerrissen und die Möglichkeit
einer wahrhaft speculativen Analyse des religiösen Grundgefühls
von vom h^ein abgeschnitten wird. Wenn irgendwo, so stdit
gewiss hier die Betrachtung auf durchaus concretem Boden, und
mcht das logische Ansich des menschlichen Wesens, sondern das
concrete Ansich, die wirkliche Unmittelbarkeit des religiösen Ver-
hältnisses bildet den Ausgangspunkt und das erste Glied in der
Entwicklung desselben. Statt zu sagen: die Elemente müssen an
sich eins und darum actuell vereinbar sein, musste Herr Dn
Wirth die Sache vielmehr so ausdrücken: Weil die Elemente an
sich, unmittelbar im menschlichen Geiste schon eins sind und in
sich versöhnt, müssen sie auch wieder aus ihrer zeitlich hervor-
getretenen Entzweiung durch die freie That des Menschen zur ver-
söhnten Einheit zurück- oder besser fortgehen. Denn was an sich
ist, muss freilich werden, wie Dr Wirth hervorhebt; es wird
aber hierin auch eben nur das, was poteiitialiter schon in ihm
wiriüich vorhanden und unmittelbar gesetzt ist; denn sonst wäre
des rdigiöses Grumdgefilhls. 209
die Entwicklung keine einheitliche; das Ich ist selbst die sich
setzende und zur Einheit ihrer Elemente entwickelnde Potenz.
Als ein weiterer formeller Mang^el der Wirth'schen Deduction
erscheint endlich noch die Art und Weise, wie das Wesen dos
religiösen Grundgefühls definirt wird. Es soll nämlich, nach Dr.
Wirth, das Sich-selbst-finden-wollen im Unbeding-
ten sein. Allerdings ist dieses ein Moment in der innern dialek-
tischen Entwicklung des religiösen Grundgefiihls, aber nur die
Formel für den Ausdruck seiner Erscheinung in der Sphäre
der Entzweiung, der Differenz, nicht aber zugleich die adä-
quate Form desselben in seinem anundfürsichseienden Wesen über-
haupt; es ist mit dieser Definition nur das religiöse Gefühl in einem
vorübergehenden und wieder aufzuhebenden, zu negirenden Momente
seines Werdens, mithin noch in seiner Unwahrheit, nicht in seiner
Idealität bestimmt. Und Herr Dr. Wirth befindet sich mit dieser
seiner Definition noch in eben derselben Sphäre des blossen Be-
griffswissens, die er überschritten zu haben vorgibt, und das voll-
ständige, consequente Denken dieses seines Begriffs des religiösen
Grundgefühls führt zu Nichts Anderem, als eben auch zur Auf-
hebung und Vernichtung der Religionsidee selbst. Die Religion
soll ein Sich -finden -wollen im Absoluten sein; sich finden im
Unbedingten kann aber der Geist nur unter der Voraussetzung —
nicht (wie Herr Dr. Wirth meint), dass er selbst eine Potenz des
Abst)luten sei, sondern — dass er sich unmittelbar schon im Un-
bedingten hat und festhält. Denn nur was an sich schon ist, kann
und muss auch werden. Ferner aber folgt hieraus, dass auch das
Ziel und der Zweck, somit das eigentlich ideelle Wesen des reli-
giösen Grundgefühls nicht sowohl bloss das Sichfinden wollen , son-
dern das Sich-wiedergefunden-haben im Unbedingten
und das Sich-haben und-Festhaltcn in demselben ist, — Un-
terschiede, deren Wichtigkeit sich später zeigen wird.
Soviel im Voraus über die formelle Seite von Wirth's Analyse.
Es ist bereits angedeutet worden, dass die Wirth'sche De-
duction des religiösen Grundgefühls insofern den Mangel einer
wahrhaft genetischen an sich trug , als Dr. Wirth in der dialektischen
Entwicklung desselben den ersten concreten Anfang desselben
nicht feslgehallen hat, sondern vom logischen Wesen des Menschen
aus über die erste unmittelbare Existenz desselben , als noch unent-
zweiter, noch in sich versöhnter Harmonie der Elemente, hinweg-
springt und sogleich mit der Entzweiung , der wirklichen Divergenz
der Elemente selbst beginnt, anstatt diese Entzweiung als den
immanenten Act des concreten, einheitlichen Ich selbst zu begrei-
fen. Er ist hierbei in denselben Fehler wie Hegel verfallen, wel-
cher in der Religionsphilosophie die Kategorie der Unmittelbarkeit
mit der eigenlhümlichen Bestimmtheit der Religion der Zauberei
identificirt und diese Form als eine unmittelbare auftreten lässt,
während sie wesentlich schon der Sphäre des entzweiten Bewusst-
seins angehört. So deducirt auch Wirlh das religiöse Grundgefühl
aus der Entzweiung, durch welche es in derjenigen Gestalt, iu
Jahrb. ffir cpecuUt. Pbilos. I. 1. 14
210 Zur Kritik Ton Dr. Wirtb's Analyse
welcher es bei ihm auftritt, erst bedingt und hervorgerufen wird.
Das Resuliirende und Vermittelte ist aber in Wahrheit an sich
selbst auch das Bedingende; das die Entzweiung hervorrufende,
die Divergenz der Elemente wirklich setzende Prinzip ist nicht die
disparate Tendenz der Elemente, sondern ihre unmittelbare Har-
monie, ihr an sich schon wirklich seiendes, unmittelLares Aufge-
hobensein zur — nicht Identität, sondern vielmehr — Einheit der
Elemente, ziun concreten Spiel des Incinanderseins derselhen. Aus
diesem seinem eignen unmittelbaren Lebensgrunde muss sich das
religiöse Grundgefühl zuYn Zusichselbstkommen herausarbeiten und
in der Manifestation dieser seiner einheitlichen — nicht disparaten —
Tendenz tritt, als das negative, selbst aber wieder als solches zu
negirende und zur höhern Affirmation und vermittelten Position
zurückzuführende Moment, die Entzweiung in die Erscheinung her-
vor. Es ist allerdings schwer, die Versöhnung selbst als den
ersten Anfang der Religion, als die erste und ewige Grund-
form der Religion auch anschauend zu denken; aber die Spe-
kulation darf und kann sich vom Denken dieses Anfangs nicht
emancipiren wollen. Dr. Wirth hat das religiöse Grundgefühl in
die Sphäre der Entzweiung gesetzt; was er als das specifische
W'^esen desselben angibt, das Sichfinden wollen im Absoluten, ist
nichts anderes, als eben nur die Form seiner Erscheinung inner-
halb des entzweiten Bewusstseins , in welcher Gestalt es als das
Streben erscheint, sich aus der Entzweiung zur Versöhnung zu
erheben. Wird die Religion nur als dieses Streben gefasst, so
sind wir über den Hegefschen Standpunkt des blossen Begriffs-
wissens ebensowenig hinaus , als der absolute Kritiker der Religion
in seinem „Wesen des Christenthums" diese Stufe überschritten hat
und aus dem rein negativen Resultate zur ewigen, positiven Idee
der Religion vorgeschritten ist, obgleich zu diesem Fortschritte
nur ein einziger Schritt nöthig gewesen wäre. Die Wirth'sche
Formel, dass die an sich einheitlichen Elemente mit einer dispara-
ten Tendenz begeistet seien, ist nichts weiter, als das auf ihren
logischen Ausdruck reducirte, in die Begriffsform gesetzte
Wesen der Entzweiung selbst; keineswegs aber ist damit die
Idee der concreten Einheit und unmittelbaren Versöhnung des
menschlichen Geistes {selbst ausgedrückt. Unter diesen Umständen
hat aber Dr. Wirth auch die Entstehung des Zwistes in ihrer
immanenten, absoluten Nothwendigkeit keineswegs aufgezeigt; er
Jionnte sie sogar nicht begreifen, wie sich diess schon unmittelbar
in der Flüchtigkeit kund gibt, mit welcher er in wenigen oberfläch-
liche^ Worten über die Entstehung des Zwistes hinwegeilt. Er
MgX wr an zwei verschiedenen Stellen: „Der Zwist entspringt aus
:der Divergenz des Unendlichen und der Individualität im mensch-
lichen W-esßn" — und: „Die Freiheit reizt die an sich — d. h.
nach Dr. Wirtb's Auffassung: dem Begriffe nach — einheitlichen,
aber mit eii>er disparaten Tendenz begeisteten Elemente, diese
Tendenz zu einer Divergenz zu entzünden, die den Geist zur
jtösung drängt." In diesen Worten ist allerdings mit einem siehe-
de# religiOflen Grundgefahlt. 21t
ren Takte die richtige Bestimmung ausgesprochen, dass ans dein
Freiheilsstreben des Menschen die Entzweiung entsteht. Wie djess
näher zugeht, hätte aber in einer speculativen Dcduction des reli-
giösen Grundgeluhls ebenfalls entwickelt werden müssen.
Wie verhält es sich nun aber mit jener ersten Form des reli-
giösen Grundgefühls im wirklichen Bewusstsein des Menschen, dem
eigentlich religiösen Grundgefühle? Warum ist diese erste, un-
mittelbare Versöhnung des Geistes mit sich selbst der nothwendige
Anfang und die ewig -zeitliche Voraussetzung der aus ihr hervor-
tretenden Entzweiung? Welches ist die Entstehung der letzteren,
ihre Natur und Eigenthümlichkeit ?
Der letzte Grund der Entzweiung des Geistes mit sich
selbst liegt in der Natur; darum ist es aber keineswegs ein trans-
scendenter, sondern nichts desto weniger ein immanenter Grund der
Entzweiung des menschlichen Wesens. Denn die ganze Entwick-
lung der Natur, als der Voraussetzung des Geistes, ist nichts an-
deres, als das präexistentielle Werden des menschlichen Wesens;
das Ich selbst ist die immanente, verborgene Grundlage der gan-
zen Weltentwicklung; die ganze Entfallung der Natur drängt sich
von Anfang an zur Menschwerdung hin; das Universum ist eben
nur das in der unendlichen Vielheit auseinandergelegte Dasein des
zur Concentration im Ich aufstrebenden Weltwesens, des gottbe-
seelten Logos, mithin in Wahrheit das'Ich selbst in dem ewigen
Prozesse und Progresse seines Werdens. In diesem Entwicklungs-
prozesse sind aber zwei Elemente zu entscheiden , das objec-
tive und siibjective Prinzip, Nothwendigkeit und Freiheit,
Negation und Position. Diese Elemente stellen sich in der Natur
als ein Gegensatz dar, der ewig zur Vermittlung strebt, ohne in
der Natur als solcher wirklich zur realen Versöhnung zu gelangen.
Diese ist vielmehr erst die Menschwerdung, der Geist; während
die Natur die reale Entzweiung des Weltwesens ist,
der Dualismus des subjecliven und objectiven Prinzips, der Gegen-
satz und Streit von Freiheil un^ Nothwendigkeit , indem die Noth-
wendigkeit sich selbst zu negiren und zur Freiheit und Individualität
sich aufzuheben, über diese selbst aber zugleich ewig wieder hin-
auszugehen strebt. Diese Entzweiung und ihre reale Dialektik in
der Natur ist die reale Voraussetzung des menschlichen
Geistes, sein praexistenlielles Werden in der Natur vor seinem
wirklichen Hervortreten in der Menschwerdung, in welcher die
Entzweiung zur unmittelbaren Versöhnung zusammengeht. Die
höchste Spitze und Vollendung der Natur und zugleich ihr Gegen-
satz, als Geist nämlich, ist der Mensch, in dessen unmittelbarer
Existenz die Gegensätze der Natur, Nothwendigkeit und Freiheit,
Obj^ctives und Subjectives , als relative Momente zu thätiger Einheit
versöhnt erscheinen. Der Act der Zeugung und Empfängniss ist
die Concentration des durch den Unterschied des Geschlechts indi-
viduell ausgeprägten allgemeinen Gegensatzes des Naturlebens über-
haupt; im Act der Zeugung sind Maun und Weib sich einander
Object und stellen die Elemente der Menschwerdung in ihrer leben-
14*
212 Z"' Kritik Ton De. WiHWt Aimlyse
digen Einheit dar: das Sich -entlassen in das Andere als Object,
oder die Hinorebung, und das Sich -haben und Sioh-feslhallen des
Subjects im Andern, oder die Freiheil , und endlich beide Seiten,
Freiheit und Hinorebung, in Einem Momente zumal. Die Elemente
der Subjectivitat und Objectivität, der Hingebung imd Selbslheit,
Nothwendigkeil und Freiheit, Spontaneität und Receplivität werden
in der Vereinigung der Geschlechter in Einem lebensvollen, keim-
kräftigen Punkte real vereinigt. Die in der Geschiechtsliobc als
Empfindung sich manifestirende Einheit des Selbsibewusstseins , als
die wenigstens nmmentan gesetzte Versöhnuug des Subjects mit
sich selbst durch die Vermittlung, des Anderen geht in und mit
dem sinnlichen Elemente in das neue begeistele Leben über. Diese
im Keime des neuen Individuums umnillelbar als versöhnt auftre-
tende Einheit von Freiheil und Nothwendigkeit ist das Mysterium
der ewigen Menschwerdung; an's Licht der Wirklichkeit ge-
boren, ist so der Mensch die unmittelbare Einheit der beiden
Elemente, ihre wirkliche Versöhnung in Gott, das paradiesische
Ebenbild Gottes , die Einheit der götilichen und menschlichen Natur.
Dieser erste unbewusste, träumende Zustand des Bewusstseins, das
Eden, worin der Mensch sein Leben beginnt, wo der Geist noch
in sich und in seiner Natur und in beiden zugleich in Gott ver-
loren und alle Unterscheidung der Elemente w^ie in Einem harmo-
nischen Meere verschwommen ist, ist zugleich die erste, unmittel-
bare Form der Religion, das uranfängiiche religiöse Grund-
gefühl. Dieses ist seinem Wesen nach nicht bloss Streben und
Verlangen nach dem Unbedingten, sondern auch das Haben und
Festhalten desselben in sich, beides zumal und in ungetrennter
Einheit, Ein ungetheiltes , einfaches Selbst-, Gemein- und Gott-
ijcfühl, welches noch nicht die Unruhe des Suchens und erwachen-
<ien Strebens kennt,' welche schon die Erhebung des Ich aus jener
seiner ersten Paradieseseinheit in der Urreligion, nicht mehr diese
selbst, ist. Mit dem Erwachen des Bewusstseins, als dem Eintritte
des Moments der Unterscheidung, tritt der Mensch heraus zur
Ichheit und in die Entzweiung ein, oder vielmehr diese tritt aus
dem dunkeln Hintergrunde des Bewussts9ins und seiner natürlichen
Voraussetzungen, wo sie nur geschlummert hatte, in die Wirk-
lichkeit. Dem Individuum tritt die Natur als ein Anderes, als
Object gegenüber; aus der Abhängigkeit von ihr und dem Kampfe
mit ihr zieht sich der Geist in seine reine Innerlichkeit und Selbst-
ständigkeit zurück und wähnt sich hier sicher gegen die Macht de^
Objeds, von welchem er sich abhängig sieht. Aber der Mensch
findet die Natur auch an ihm selbst gesetzt, als sein Anderes, als
ein positives und bleibendes Element seines eignen Daseins; das
Dasein der Nothwendigkeit, der Schranke findet er auch in sich
vor und empfindet es als die objective Schranke und den Gegensatz
seiner Freiheit, seiner reinen subjectiven Innerlichkeit, welche
ihrerseits jene Schranke von sich zu stossen strebt. Immer von
Neuem aber, in unendlichem Wechsel, wird der Mensch in die Ab-
hängigkeit von iler Natur hineingezogen, welche ihre negative
des reiigiöflen Grundgefülüs. 213
Macht ge^en die Selbstständigkeit und Freiheit des Subjects kehrl
und ihm herbe Wunden schlägt. Indem nun weiter der Mensch
rein fürsichseiende Freiheit zu sein strebt — was doch nur Gott
ist — und damit sich von dem Zusammenhang mit der in der Natur
waltenden allgemeinen Nothwendigkeit frei erhallen, von dem Ge-
setze derselben emancipiren möchte, wird er böse, weil er die
Nothwendigkeit, welche die Manifestation der reinen gölllichen
Freiheit in der Natur ist, von sich ausscbliessend und sich von ihr
losscheidend, sich selbst in seiner Einzelheit gegen die absolute
Nothwendigkeit als diese reine Freiheit setzen will. So erscheint
die Entzweiung als der Gegensatz gegen Gott, und dieser treibt-
sieh durch den immanenten Prozess der Erl(>sung zur Verstihnung
des Subjects mit Gott fort. (Vgl. Mythologie und Offenbarung
I. §. 18, 32, 70 und IL §. 126, 128 u. tl.)
Hätte Dr. Wirth die Entstehung und die Natur des
Zwistes im menschlichen Wesen näher dargelegt, so hätte klar
werden müsspn , dass von einer wirklichen Entzweiung der Elemente
des menschlichen Geistes nur dann die Bede sein kann , wenn diese
Elemente nicht als Unendlichkeit und Individualität, sondern als
Nothwendigkeit und Freiheit gefasst werden. In der Weise, wie
Dr. Wirth das Wesen der menschlichen Persönlichkeit beschreibt,
dass sie nämlich eine relative Absoluiheit sei, da sie schlechthin
alles Sein im Denken umfasse und es doch wieder nur in einem
besonderen Reflexe anschaue und dass ihr Wille unbedingt, schlecht-
hin universell sei und doch wieder nur in ^iner geschlossenen Sphäre
das allgemeine Weltgesetz zu verwirklichen vermöge; so bestimmt,
ist kein Ernst mit der Entzweiung gemacht, dieselbe keineswegs
als ein den ganzen Menschen in seinem innersten Wesen durch--
schlitternder Zwiespalt gefasst. Die Natur des Zwistes hat Dr. Wirth
darzulegen versäumt; sonst hätte er zu der Einsicht kouunen müs-
sen, dass die Lösung desselben, die Realisirung der Versöhnung
im Subject auf einem ganz anderen Wege, als in der von ihm
bezeichneten Weise zu Stande kommt und dass das versöhnende
Prinzip, oder (wie es Wirth bezeichnet) die lösende Potenz nicht
selbst wieder ein Selbst, sondern vielmehr das Hervortreten eines
Acts reinster und freiesler Reflexion, eine jedes entzweite Selbsi
nothwendig und. ewig unendlich überragende Kraft ist, in und
durch welche die streitenden Elemente zur in Gott, als dieser
Kraft, versöhnten, wirklichen Einheit des Selbstbewusstseins zu-
sammengehen. Die, von Dr. Wirth versäumte, Analyse des Zwistes
enthält in sich selbst ;schon die unmittelbare Nothwendigkeit der
Einsicht in den nothwendigen Prozess der Lösung das Zwistes, du
derselbe eben nur die aus der unmittelbaren, versöhnten Ureinheit
hervorgetretene Entzweiung der Elemente jener Einheit ist, niciU
als die disparate, sondern die einheitliche, hannanische Tendenz
dieser Elenjente sich erweist. Herr Dr. Wirth dagegen müht sich
mit dem eiteln und unfruchtbaren Versuche ab, nachzuweisen, wa-
rum die lösende Kraft des Zwistes selbst ein Selbst sein müss(*.
Begleiten wir ihn in seiner Argumentation und sehen wir, ob nii^ht
214 Zur Kritik von Dr. IVirlh's Analyse
ffanz besonders in diesem eigentlichen Contrum der Wirlh*schen
Einleitung der oben erwähnte Mangel an Schärfe und Kraft der
Unterscheidung am augenscheinlichsten hervortritt.
„Die eingetretene Divergenz (sagt Dr. Wirth) nöthigt den
Geist, im Unbedingten die Lösung des Zwistes zu suchen; denn
mit der dyadischen^ Gestaltung ihres Seins hat die begeistete Henade
den ewigen Grund desselben verloren und sie kann ihr einheitliches
Sein nur wieder dann entdecken und in ihr Bewusslsein und Wol-
len erheben, w^enn sie jenen Grund wieder gefunden hat.'' Hier-
Segen scheint nun zunächst nichts eingewendet werden zu können,
a, ohne Gott gefunden zu haben, gewiss keine Versöhnung mög-
lich ist, mit dem Finden desselben als des Grundes der wesentlichen
Einheit des Menschen allerdings diese Einheit, die Versöhnung als
reconstruirte wieder erreicht ist. Nichtsdestoweniger liegt hinter
der Unbestimmtheit jenes Satzes eine Amphibolie versteckt, auf
welche die ganze weitere Argumentation des Herrn Dr. Wirth ge-
baut ist. Wenn es nämlich heisst, dass die begeistete Henade mit
der dyadischen Gestaltung ihres Seins — also mit der Entstehung
des Zwistes, dem Eintritte der Entzweiung — den ewigen Grund
desselben — also ihres Seins — verloren habe, so ist dagegen zu
sagen, dass mit dem Eintritte der Entzweiung zunächst nur das
Paradies der Urreligion, die erste unmittelbare Versöhnung des
Geistes mit sich selbst verloren geht und Gott nicht sowohl als
der Grund des menschlichen Seins überhaupt dem ßewusstsein ver-
schwindet, sondern nur als der Grund und Halt und als die Kraft
jener ersten, der Entzweiung im wirklichen Bewusstsein des Men-
schen nothwendig voraufgehenden, unmittelbaren Versöhnung und
ansichseienden Einheit. Als der letzte Grund des menschlichen
Seins überhaupt kann aber Gott niemals dem Menschen verloren
gehen, sondern immer wird derselbe als solcher auch in dem Zu-
stande der Entzweiung doch im Hintergrunde des Bewusstseins
bleiben, sei es auch in irgend einer abslracten, vorgestellten gegen-
ständlichen Gestalt. Nicht ebenso verhält sich's freilich mit dem
Segenwärtigen Bewusstsein oder unmittelbaren Gefühle Gottes als
erjenigen Kraft, welche in dem noch unentzweiten religiösen
Grundgefühle, welches das entzweite Bewusstsein nunmehr hinter
sich hat, die gegenwärtige Bedingung der Einheit und Harmonie,
das die Versöhnung eigentlich constituirende Prinzip , die eigentliche
absolute Voraussetzung derselben gewesen war. Diese unmittelbare
Nähe und beseligende Gegenwart Gottes im Bewusslsein ist aller-
dings in der Entzweiung verloren gegangen und nur wenn diese
göttliche Gegenwart als der Grund des versöhnten Bewusstseins,
als welchen der entzweite Geist Gott sucht und zu flnden strebt,
wieder gefunden ist , erst dann ist das einheitliche Sein des Geistes,
sein verlornes Paradies wieder entdeckt und was der Mensch an
sich war, mit sich eins und in Gott versöhnt, das strebt er ewig
auch wieder zu werden, von Kindesharmonie zur freien Harmonie
des Geistes, die seine eigne That ist, zu gelangen. Denn sowohl
die Entzweiung, als auch die Versöhnung sind nicht
dei reli^ittseii Grandgefälib. 215
eine transscendente That, sondern des Menschen in-
nerste Selbstthat.
Herr Dr. Wirth fährt- nun weiter fort: „Soll das Unbedingte
jenen Zwist zu lösen vermögen, so muss es an sich selbst frei
von ihm sein.** So weit wären wir einverstanden. Erläutert
nun aber Dr. Wirth diesen Salz dahin: „Das Unbedingte als die
lösende Potenz des Zwistes muss beide Elemente selbst in sich
schon gelöst enthalten,* so ist Beides, das Ansichselbst- frei -
sein vom Zwiste und das denselben-insich-schon-gelöst-Enthal-
ten , keineswegs eins und identisch. Vielmehr muss gesagt werden,
dass diejenige Kraft, welche den Zwist der Elemente zu versöhnen
im Stande sein soll, in, an und Tür sich selbst als ein rein in sich
vollendetes, einfaches Sein auftreten muss und mit diesem Zwiste
gar nichts zu thun haben, auch nicht einmal die versöhnte Einheit
dieser streitenden Elemente sein kann, weil diess ja voraussetzte,
dass jene Kraft selbst, wenn auch nur in einem verschwindenden
Momente, in der Entzweiung gestanden und den dialektischen
Prozess der Entzweiung und der durch ihre Vermilllung sich her-
vorbringenden Lösung selbst in sich durchgemacht hätte, selbst
concret - vermittelte Einheit dieser disparalen Elemente wäre, wie
es allerdings auch Dr. Wirth will. Wäre diess aber der Fall, so
sind Gott und menschliches Wesen, weil beide als Einheit eben
derselben Elemente, nicht mehr zu unterscheiden und wir stehen
auf dem Boden der Identitätsphilosophie, die mit der reinen Idee
Gottes ebensowenig, als mit dem Anderssein Ernst macht. Der
von Dr. Wirth gebrauchte. Ausdruck „lösende Potenz" ist aber
übek*haupt nicht der richtige (scheint uns), und wir möchten dafür
lieber den Ausdruck „Kraft" gebraucht wissen; denn die lösende
Potenz des Zwistes ist eben doch das, was ein Vermögen hal^
gelöster Zwist zu werden, was die Möglichkeit der Versöhnung
ebenso wie der Entzweiung — Begriffe, die einer ohne den andern
nicht denkbar sind — schon in sich enthält. Was ist aber diess
anders, als das menschliche Wesen selbst in seinem con-
creten Ansichsein, in seiner ersten, noch unentz weiten wirklichen
Existenz in der Urreligion? Offenbar hat also Dr. Wirth die Kraft,
welche die Versöhnung zu Stande bringt, mit dem Objecto, mt
und in welchem sie verwirklicht wird, bei der Bezeichnung „lö-
sende Potenz" verwechselt. Ist nicht das seinen eigenen Begriff
realisirende, in und kraft Gottes seine Versöhnung hervorbringende
menschliche Subject vielmehr diese Polenz, die durch die Ent-
zweiung hindurchgehend, ihre eigne Versöhnung in Gott wieÄer
selbstthätig setzt? Und heisst es umgekehrt nicht, dem Menschen
seine Freiheit rauben, wenn Gott als die im Subject sich liervor-
bringende Einheit gefasst wird? Nicht Gott, sondern das Ich selbst
ist das die Versöhnung als seine eigne immanente That Setzende,
dieselbe kraft Gottes Hervorbringende; während dagegen Gott nicht
sowohl die Einheit der Elemente des Ich , als vielmehr ihre ewige,
absolute Indifferenz ist, in welcher und durch welche sich wohl
die Einheit im Ich vollzieht , ohne dass aber diese die Einheit her-
210 Zar Kritik Ton Dr. WirUt*s Aniilyse
vorrufende indifferente Kraft mit dem durch sie Hervorgerufenen
ununterschieden identisch wäre, wie diess Dr. Wirth annimmt,
wenn er behauptet, das Unbedingte, wenn es den Zwist im menscli-
lichen Wesen lösen solle, müsse selbst Einheit des Unendlichen
und des Ich, müsse an und für sich seiender Geist sein. Aber
diess: selbst wieder Einheit des Unendlichen und dos Ich zu sein,
was heisst das anders als: selbst wieder ein endliches, bedingtes
Ich, ein unendliches Ich in der Form der Individualität und als
solches im Zwiste nothwendig befangen sein? Heisst diess nicht
mit den Begriffen ein willkürliches Spiel treiben? Was ist diess an-
ders, als der alte, leidige, unverbesserliche Subjectivismus der
Philosophie, der Alles ebenso erscheinen zu lassen und als noth-
wendig zu deduciren versteht, wie er*s gern haben möchte? einer
Philosophie, die im Voraus darauf ausgeht, die gegebene religiöse
Vorstellung sich auch speculativ zurecht zu legen und den gegebe-
nen dogmatischen Begriff in dieser seiner Posilivität für die Idee
auszugeben? Was soll man nun dazu sagen, wenn solche theo-
logische Tendenzphilosophie dennoch die Prätension m^ht, nicht
mehr im Begriffswissen befangen zu sein?
Doch wir wollen Herrn Dr. Wirth sich selbst expliciren lassen.
Er sucht zu beweisen, dass weder das reine Unendliche, noch das
Ganze der relativen Unendlichkeiten und Absolutheiten, sondern
allein das Unbedingte als an und für sich seiender Geist den Zwist
wahrhaft und schlechthin lösen, d. h. ewig beschwichtigen könne.
„Das Unbedingte — heisst es zunächst — welches die lösende
Potenz des Zwistes sein soll, vermag nicht das reine Unendlicho,
dieses als Abstractum betrachtet, zu sein. An und für sich ist das
Unendliche rein als solches ausserhalb des Gegensatzes; allein das
reine Unendliche ist nur die Verneinung, nicht die Lösung des
Zwistes. Gerade durch diese Verneinung aber wird im Leben des
Geistes jener Zwist vielmehr hervorgerufen; denn in demselben
will sich das Unendliche nicht als das Bejahende des relativen Seins
hergeben; es zeigt sich immer nur als die verneinende Macht des
letzteren; es will sich nicht fesseln lassen, um mitten im Endlichen
ein positives Element des Lebens zu werden. Würde daher das
reine Unendliche als dasjenige geboten, welches den Zwist der
unendlichen Einzelheit und der Individualität lösen soll, so würde
sich darin der Zwist vielmehr nur begegnen/ Sehen wir dieser
Argumentation auf den Grund, so stellt sich die Bedeutung, die
Dr. Wirth im dialektischen Prozesse der Versöhnung dem Unendlichen
vindicirt, als eine in sich selbst widersprechende dar. Er sagt,
das Unendliche sei die Verneinung , durch welche der Zwist gerade
hervorgerufen werde, sofern sich das Unendliche nicht als das
Bejahende des relativen Seins hergeben wolle, sondern sich immer
nur als die verneinende Macht desselben zeige und sich nicht fes-
seln lassen wolle, um mitten im Endlichen ein positives Element
des Lebens zu werden. Dr. Wirth hat das henadische Wesen des
Menschen als die Einheit des Unendlichen und Individuellen, als
relativ Uuendliches bezeichnet. Nun aber soll das Eine von diesen
det religiösen GrondgeflUilf. 217
beiden Elementen und Bestimmungen des Ich , das Unendliche, noch
ausserdem, dass es ein Factor des Ich, mithin selbst ein im ein-
heitlichen Wesen des Geistes nothwendig gesetztes, positives Ele-
ment ist, doch zugleich auch wieder die das andere dieser beiden
Elemente, das Individuelle oder Endliche negirende Macht sein^
die sich nicht fesseln lassen wolle, um ein positives Element des
geistigen Lebens zu werden. Ist denn aber, nach der Bestimmung
des Herrn Dr. Wlrlh, das Unendliche nicht schon dieses positive
Element? ist es nicht als solches, als eines der das menschliche
Wesen constituirenden Elemente im geistigen Leben gefesselt?
Ausserdem ist es aber gar nicht denkbar, dass das Dritte»
welches als das Unbedingte den Zwist zweier Elemente, des Un-
endlichen und Individuellen, beschwichtigen soll, selbst wieder eins
dieser Elemente wäre, das doch dem anderen gegenübersteht und
nur eine Seite des Zwistes selbst ist. In der oben angeführten
Stelle bezeichnet Dr. Wirth diesen Zwist als den Zwist der unend-
lichen Einzelheit und der Individualität; während er also früher
das Unendliche und das Individuelle als diese beiden divergirenden
Elemente des Ich nannte, setzt er nunmehr die unendliche Einzel-
heit als adäquate Bestimmung dessen, was er vorhin das Unend-
liche schlechthin nannte. Hiernach läge die Natur des Zwistes
darin, dass die endliche Individualität ihre Beschränktheit und Be-
sonderheit aufzuheben und zur unendlichen Einzelheit, zur rein
iursichseienden Einzelheit, zum absolut und unbedingt seienden Ich
zu erweitern strebte, was ihr aber nicht gelingen könne, da das
Unendliche oder die unendliche Einzelheit, die das endliche Ich zu
werden strebte, diese Tendenz des letzteren immer nur negire,
niemals afürmire. Verhält sich diess so, wie soll sich denn aber
dann der von Dr. Wirth gewollte GottesbegrifT realisiren können?
Gott soll ja ebenfalls die Einheit des Endlichen und des Individuellen,
wie sie als das henadische Wesen des Menschen bezeichnet worden,
selbst also ein unendliches Ich in der Form der Einzelheit sein und
sich als eben diese Einheit hervorbringen, er soll selbst diese
Geschichte haben, die das menschliche Wesen im Pfozess der Ver-
söhnung durchmacht, er soll eben diesen Prozess der werdenden
Einheit der Elemente des Ich selbst durchmachen, einen Prozess
aber, der nach Obigem für das in der ansichscienden Einheit des
Individuellen und des Unendlichen stehende (menschliche) Wesen
niemals zum Resultate, nämlich zur absolutfilrsichseienden unend-
lichen Einzelheit führen kann. Ebendasselbe aber, was Dr. Wirth
Jrerade für den Menschen, als der Einheit des Unendlichen und
ndividuellen, läugnet und verneint, strebt seine Argumentation
nachher doch wieder für die andere Einheit des Unendlichen und
des Ich, die Gott sein soll, als möglich und nothwendig zu er-
weisen. Wie ist es nun möglich, aus dem Chaos solcher gegen-
seitig sich widersprechenden und siqh aufhebender Bestimmungen
heraus zu kommen?
Das von Herrn Dr. Wirth gesuchte Unbedingte soll selbst
wieder ein Selbst, an und für sich seiender Geist sein und als
218 Zur Kritik TOn Dr. Wirth*« Amilyse
solcher ewig den Zwist schon gelöst enlballen. D. h. beim Lichte
betrachtet: es soll selbst wieder ein solches sein, das an einem
Anderen seine Bedingung und Voraussetzung hat; das Unbedingte
soll zugleich wieder nicht Unbedingtes, Bedingtes, sich Vermitteln-
des sein. Wir vermögen uns die Möglichkeit hiervon nicht zu
denken. „Ohne etwas Successives in Gott wäre er daher
nicht Object des religiösen Gefühls; er würde ohpe alle Beziehung
auf dasselbe, völlig gleichgültig für den Geist.*^ Als Object des
religiösen Gefühls ist Gott das Universum, das in Gott getragen
und gehalten und sein Dasein ist; an dieses ist das religiöse Gefühl
hingegeben, von ihm abhängig. Verlangt aber Herr Du Wirth,
dass in Gott etwas Successives. sei, dass er nothwendig eine Ge-
schichte haben müsse; so ist diess nichts mehr und nichts weniger
als eine Verwechslung Gottes mit dem in Gott sich entwickelnden
Logos, dem Weltwesen, dem Ich, der Menschheit. Dr. Wirth ver-
gisst, dass doch der Zwist nur als Resultat, durch Vermittlung der
Entzweiung selbst gelöst sein kann, und zwar ist diese Vermittlung
keine abstracto, sondern eine reale und concreto, eine durch das
Andere wirklich hindurchgegangene. Der Begriff der Vermitt-
lung überhaupt ist nur ein zeitlicher, eine dem Endliphen zukom-
mende Kategorie, und von einer ewigen Sclbstvermittlung Gottes,
einem ewigen Werden und Forlgehen Gottes vom Ansichsein zum
Anundfürsichsein so zu sprechen, dass dieser Prozess ein von
der Weltentwicklung, von dem Prozesse der menschlichen Persön-
lichkeit unterschiedener sein soll, ist eine unverzeihliche Verwir-
rung der Begriffe. Jedem das Seine! heisst's auch im Ge-biete
der Speculation. Wäre Gott selbst die lösende Potenz der Einheit,
die an und für sich schon gelöste Einheit der Elemente des mensch-
lichen Wesens selbst, so müsste er mit seinem Fürsich werden auch
den Schmerz und die Unseligkeit der Entzweiung durchmachen,
d. h. nichts anderes, als er müsste selbst endlich sein. Diess ist
aber eben nur der mythologische Gott. Worin anders besteht das
Wesen des mythologischen Standpunkts, als darin, dass der mensch-
liche Geist seine eigene Dualität und deren Einheit, als versöhnte
Einheit der entzweiten Elemente, auf Gott überträgt, sie ausser
sich setzt und als göttliche Wesen gegenständlich anschaut? Der
Mensch hält hier Gott als die absolute DualUät und Einheit des
Subjectiven und Objectiven fest; Golt wird selbst in ein solches
Werden, wie das menschUche Selbstbewusstsein, in den Entv»;ick-
lungsprozess des Subjects verwickelt. Daher denn die Vorstellungen
von den Schicksalen, den Leiden und dem Tode der Götter, welche
in der mythologischen Entwicklung der Religion den absoluten In-
halt bilden. Dieser mythologische Gott ist aber in Wahrheit nicht
der christliche, der absolute; wo dagegen die Philosophie
von der Selbstentw4cklung und Selbstvermittlung des Absoluten,
von einem theogonischen Prozess zu sprechen wagt, ist's ein Zei-
chen, dass sie noch nicht zur vollen Ueberwindung des mytholo-
gischen Standpunkts vorgedrungen , die Idee Gottes in ihrer Reinheit
und wahren Absolutheit zu denken noch nicht im Stande ist. Und
dei religiöflen Graodgef&hb. g|9
wenn Dr. Wirth hingegen bemerkt, dass nur ein der mysteriösen
Quelle der Religion, dein uranränglichen Gefühle entfremdetes Den*
ken Gott zu einem völlig Ungeschichtlichen zu machen vermocht
habe; so glauben wir mit besserem Rechte vielmehr die Sache ge-
radezu herumdrehen und sagen zu dürfen: nur ein dem wahren
Urgefühl aller Religion, dem ewig reinen, ursprünglichen Wesen
derselben entfremdetes Denken, nur ein Denken, das von sich
selbst nicht loszukommen und die Sphäre der Differenz , die Stufe
des Begriffswissens, dos Verstandes nicht wahrhafl; zu überwinden
vermag und gleichwohl speculatives Denken heissen will, kann
heutzutage bei den gegenwärtigen Leistungen und Resultaten der
Kritik, von einer Entwicklung Gottes in ihm selbst sprechen. Es
ist aber der Speculation durchaus unwürdig, anstatt das Unbedingte
in seiner Reinheit durch die Kraft und Schärfe der Unterscheidung,
den wahrhaft speculativen Verstand, festzuhalten und so zum reinen
und tiefsten Begriff desselben fortzuschreiten, immer wieder den
Begriff des Geistes, des Selbstbewusstseins zu substituiren und die
Idee Gottes selbst sich entwischen zu lassen.
Inzwischen besteht ohnehin das Ziel der ethischen Entwick-
lung der menschlichen Persönlichkeit keineswegs — wie Dr. Wirth
annimmt — darin, dass das Ich wirklich zum unendlichen Für-
sichsein, zum unendlichen Sichhaben und Sichfesthalten kommt,
dass dasselbe seine innere Unendlichkeit auch wieder als zeitlich-
ewigen Prozess in*s Unendliche der Zukunft hinein ausdehne, dass
die individuelle Henade oder der einzelne Mensch ewig sei, wie
diess Herr Dr. Wirth in Aussicht stellt. Viebnehr besteht die Ver-
söhnung des Geistes mit sich, als das eigentliche Ziel des Zwistes,
darin, dass das Ich im Bewusstsein seiner Schranke, seiner End-
lichkeit, in Gott als der reinen Freiheit sich findet und in der
Anschauung dieser Freiheit und in der Hingebung an den ange-
schauten Gott,! also durch Aufopferung und Preisgeben seines
eignen Selbst, sich selig und befriedigt weiss. Ohne den Tod und
die Vernichtung der Selbstheit gelangt das Ich nimmer zur Freiheit
und Veri§öhnung in Gott, und es ist ein eitles, unfruchtbares Be-
ginnen, ohne diese Idee des Opfers zu haben und zu denken,
von Versöhnung reden und solche deduciren zu wollen. Der Mensch
muss zuvor sein ganzes Nichts empfunden, muss in die „Schrecken
der Selbslvernichlung" eingegangen sein, ehe er frei im ewigen.
Morgenrolhe der Versöhnung athmen kann. Man hat freilich neuer*-
dings die Idee des Opfers aus der Dialektik des Prozesses der
Versöhnung zu verbannen und als einen „mystischen" Begriff bei
Seite zu schieben gesucht, weil man eben nichts damit anzufangen
wusste in einer Speculation, die über der Identität das Anderssein
vergass und mit dem letzteren keinen Ernst machte. Aber es darf
kühn behauptet werden, dass die Philosophie diesen Begriff nicht
wird aufgeben können, ohne sich selbst aufzugeben und ohne der
mystischen Tiefe , dem speculativen Kern der christlichen Idee sich
zugleich zu entfremden. Hat doch Hegel selbst das Mystische ge-
rade als das Wahrhafte und acht Speculative bezeichnet und die
220 Zur Kritik von Dr. Wirth^t Analyse
Welse derer entschieden verworfen, welche das Mystische als ein
dem Denken Unzugängliches und schlechthin Unbegreifliches bei
Seite liegen lassen wollen.
Der Mensch und sein Genius sind freilich das Sollen des Ab*
sohlten; aber diess hat vielmehr den Sinn, dass eben die, in (l«*r
Anschauung des wirklich Unbedingten und wahrhaft Absoluten und
Voraussetzungslosen zu ihrer Wahrheit und Idealitat, zu ihrem
tienius oder Ferver sich erhebende PersönUchkeit des Menschen
auch in dieser ihrer Verklärung sich dem Gotte zum Opfer bringt,
in dessen reiner Freiheil sie sich als vollendete und verklärte
Henade schaut. Denn nur jenes Absolute und Unbedingte, jene
Kraft der reinen Freiheit in ihr, der Henade, hervortreten zu lassen
und zur Offenbarung zu bringen , alles Individuelle aber ewig im
reiifen Aether dieses Absoluten schlechthin untergehen zu lassen,
ist die Aufgabe der Menschheit. Wer freilich sagen kann, dass
das Grund Wesen der Religion darin bestehe, im Unbedingten eben
nur sich selbst — dii^ses „sich selbst" urgirt — finden zu wol-
len, der beweist eben damit, dass er keine Ahnung hat vom Wesen
der Liebe, das mit der ewigen Wahrheit der Ueligion eins ist,
dass er nicht versteht, was die Dichterworte sagen wollen:
„Wohl endet Tod des Lebens Noth, doch sch^auert Leben
vor dem Tod;
„So schauert vor der Lieb' ein Herz, als ob es sei vom
Tod bedroht.
„Denn wo die Lieb' erwachet, stirbt das Ich, der
finstere Despot.
„Du lass ihn sterben in der Nacht und alhme frei im
Morgenroth!"
Liebe und Religion ist nicht diess, sich im Andern verdoppelt zu
haben und im Andern sich selbst erhalten wissen zu wollen, son-
dern im Andern sich selbst aufzugeben und als Ich unterzugehen
und den Tod des Ich freudig zu leiden, wenn nur das Andere
bleibt.
Sich selbst im Andern zu setzen und im Andern doch imni<;r
nur sich finden und haben und geniesseu zu wollen, sein Ich als
seinen Genius aus sich hinaus zu versetzen und an ihn passiv sich
anschliessen zu wollen, diess ist vielmehr gerade das directe Ge-
gentheil der Liebe wie der Religion, die eingeschlossene Egoität,
die von sich selbst nicht frei werden mag. Weil nun Herr Dr.
Wirth das Grundwesen der Religion von vorn herein darin
falsch bestimmte, dass er das eine Moment derselben, die Hin-
gebung an das Andere des Ich , ganz ausser Acht Hess und gerade
das als das Specifische des religiösen Grundgefühls hervorhob, was
vielmehr das der Religion Fremde, das Irreligiöse, Selbstische ist,
nämlich das Sich-seibst-finden-wollen im Unbedingten; so
musste er freilich auch consequent das Unbedingte oder Absolute,
Gott, als ein Selbst fassen, oder umgekehrt: weil er an seine
Untersuchung mit der feststehenden Voraussetzung ging, dass das
Absolute nur ein Selbst, an und für sich seiender Geist sei und
de# religiöMn Gniiidgefuhl#. 22t
dass es die Philosophie als diesen zu deduciren habe, so könnt«
er auch das religiöse Gnindgfefuhl nicht anders deiiniren, als es
von ihm geschehen ist. Wie der Mensch, so sein Goll, und wie
sein Gott, so der Mensch. Und so ist es freilich, von diesem
Standpunkte aus, ganz in der Ordnung, wenn Dr. Wirthsagt, dass
das sich selbst im Unbedingten finden wollende religiöse Gefühl
das Unbedingte als unendliche Einzelheit, d. i. als anundfürsich-
seienden Geist, als absolutes Selbstbewusstsein divinire. Verhielte
es sich freilich damit richtig, dass der Inhalt der Religion dieser
von Dr. Wirth bezeichnete wäre, dass nämlich das entzweite Sub-
{ect im Unbedingten eben wieder nur sich selbst finden müsse,
um von der Entzweiung erlöst und zur Versöhnung erhoben zu
sein: dann, aber auch nur in diesem Falle, wäre die von Dr.
Wirth behauptete Nothwendigkeit einzusehen, dass das Absolute
ein Selbst sein müsse. Diese gemeinte Nothwendigkeit verschwin-
det aber, sobald eingesehen worden, dass jene Bestimmung auf
das uranfängliche religiöse Giiindgefühi , auf das ewige Wesen der
Religion keineswegs passt, dasselbe vielmehr geradezu aufhebt
und vernichtet. Sobald wir uns dagegen die Natur der Entzweiung
recht anschaulich vergegenwärtigen, zeigt sich eben das Sich--
selbst -finden- wollen, worin Dr. Wirth das Wesen der Religion
setzt, gerade als der Gnmd der Entzweiung des Bewusstseins,
deren Spitze und höchste Manifestation eben das Böse als das
Streben ist, sich selbst als absolute, fürsichseinde , unendliche Ein-
zelheit durch die Kraft der eignen Freiheit und Selbstheit setzen
zu wollen. Diess ist es, was unlängst in den Jahrbüchern der
Gegenwart von Dr. Planck als das Jüdische der Zeit be-
zeichnet worden, diess nämlich, im Andern nicht sowohl seine
Versöhnung zn finden, sondern dass es in diesem Andern doch
immer wieder das Ich ist, welches sich im Absoluten haben und
behaupten und geniessen will, anstatt im allgemeinen Geiste des
Ganzen — also in der Idee der Liebe, die {jwie Hölderlin sagt)
„liebend unterzugehen, in die Fluthen der Zeit sich wirfl^ — das
Ich als einzelnes seinem Gotte zu opfern. Statt also das Finden
zu nrgiren und als das die Versöhnung im Subject eigentlich con-
stituirende Element, als die lösende Potenz des Zwistes festzu-«-
halten, wird vielmehr immer nui% das Sich selbst urgirt.
Doch hier, wo von der Hingebung an das Ganze und All-
gemeine die Rede war, müssen wir Herrn Dr. Wirth selbst hören,
da derselbe gerade die Möglichkeit leugnet, dass der allgemeine
Geist des Ganzen die Entzweiung im einzelnen Subject lösen
und 4ie Versöhnung zu Stande bringen könne. Er sagt nämlich:
„Ein solches Unbedingte, [welches als die lösende Potenz des
Zwistes die Elemente schon selbst in sich gelöst enthält,} scheint
das Ganze der relativen Unendlichkeiten, der individuellen Henaden
zu sein, und ihre Wechselwirkung scheint hiermit zum vollen Un-
bedingten sich zu vervollständigen. Es ist auch keiue Frage, dass
dieses Ganze den Zwist lösen könne. In der Idee und Anschauung
des. Organismus begeisteter Henaden liegt, wenn wir ihn über die
}^<| Zur Kritik von Jh. Wirth'i Analyse
Erde hinaus zum AU erweitert denken und uns in ihm als Glieder
fühlen , ein Gefühl der Befriedigung jenes Zwistes zwischen dem
Unendlichen und Individuellen unsers Seins; aber dieses nicht,
wenn jenes ganze als Collectivuin gedacht wird. Ist das Ganze
ein blosser, wenn auch organisch gedachter Collectivbegriff, so ist
die individuelle Unendlichkeit mit der Absicht, die sie hat, die
Individualität der Unendlichkeit geeinigt zu sehen, nur unendlich
ausser sich selbst hinausgewiesen. Denn nur in der vollständigen
Reihe der individuellen Unendlichkeiten vermag hier das Unbedingte
dem Geiste sich zum Genüsse zu bieten; eine solche Reihe ist
aber selbst derselbe Zwist, der den Geist umhertreibt, unendlich
endlich und endlich unendlich zu sein.^ — Zunächst fällt hier der
Widerspruch auf, dass der allgemeine Geist des Ganzen, das all-
gemeine Selbstbewusstsein der individuellen Geister als ein Unbe-
dingtes bezeichnet wird. Immer soll das Unbedingte wieder ein
Selbstbewusstsein, anundfürsichseiender Geist sein; wie ist es aber
möglich, wenn man sich den Begriff des Absoluten, als des rein
Unbedingten und schlechthin V oraussetzungslosen , deutlich gemacht
hat, diesen Begriff auf jenes allgemeine Selbstbewusstsein des
Ganzen zu übertragen, das ja als Resultat eines endlicfhen Vermitt-
lungsprozesses gar nicht anders zu Stande kommt, als unter der
ewigen Voraussetzung der Natur? Wie kann man also den Geist
überhaupt, der doch die Natur als seine Voraussetzung und Be-
dinirung hinter sich hat, ohne welche er gar nicht seinen Begriff
realii^iren kann, gar nicht Geist sein kann, doch als das Unbe-
dingte, Voraussetzungslose, mithin Absolute bezeichnen?
Wenn aber weiter Herr Dr. Wirlh, mit dem Ganzen der dies-
seitigen Menschheit nicht zufrieden, den Organismus begeisteter
Henaden über die Erdsphäre hinaus zum All erweitert denken und
sich als ein Glied in diesem unendlichen Reiche fühlen will, so
halten wir's dagegen mit Faust's Parole:
Das Drüben kann mich wenig kümmern, ....
Auf dieser Erde quillen meine Freuden,
Und diese Sonne scheinet meinen Leiden I
Die Religion realisirt sich nur in und für die Menschheit; diese
allein ist die Stätte der Verwirklichung des persönlichen Geistes,
und was drüber hinaus in einem uns verschlossenen Jenseits liegt
oder nicht liegt, kann auf die Weltanschauung, die wir als Erden-
bürger haben, nicht den mindesten Einfluss oder Belang haben.
Solche Versuche aber, wie sie uns hier auch be^ Herrn Dr. Wirth
begegnen, können nur zum Zeuo^niss dienen, wohin sich die Phi-
losophie verirrt, wenn sie der Schwierigkeit, die diesseitige und
für uns allein wirkliche Welt zu begreifen, sich durch die Flucht
in's leere Jenseits entziehen zu können meint. Unter solchen Um-
ständen freilich, wenn unser Gattungsbewusstsein auch noch über
die Grenzen der Menschheit hinaus erweitert und in den Reigen
der Menschheit auch noch alle mögliche überirdische, planetarische
und kometarische Wesen zum Bruderbunde hereingezogen werden
sollen, hat allerdings Herr Dr. Wirth ganz Recht zu behaupten,
det religiöten Grundgefähl». %%%
dass damit die zur Versöhnung strebende Individualität nur un-
endlich ausser sich gewiesen sei. Mit diesem Geständniss richtet
sich aber auch jene Hypothese selbst. Eine Versöhnung, zu
deren Realisirung wir, um die Unendlichkeit zu haben und zu ge-
niessen, in solcher Weise über Erde und Menschheit in die mass-
lose schlechte Unendlichkeit hinausgehen müssten, ist keine Ver-
söhnung, die das Ziel der Religion sein kann. Dass wir Religion
haben, diess ist, weil wir Menschen sind; in und mit der Mensch-
heit allein können wir auch die Versöhnung mit uns selbst, d. i.
unserm eignen menschlichen Wesen haben. Und setzt desshalb
Herr Dr. Wirth hinzu, dass nur in der vollständigen Reihe der
individuellen Unendlichkeiten hier das Unbedingte dem Geiste sich
zum Genüsse zu bieten vermöge, so müssen wir gestehen, dass
uns das Unbedingte eben, wie schon wiederholt bemerkt worden,
ein Anderes als dfese Identität mit der schlechten transscendentalen
Unendlichkeit ist. Wir sind der Ansicht, dass das Absolute als
reine, in sich vollendete, unbedingte Freiheit, die das Universum
durchwaltet, auch im einzelnen Subject so ganz und vollkommen
offenbar und gegenwärtig zu sein vermöge, um dem Versöhnung
suchenden Geiste, sei es in der Liebe oder durch freie sittliche
That, die ersehnte und erstreble Befriedigung zu verschaffen. Die
Versöhnung Aller durch Alle ist aber der ewige Zweck und das
ewige Ziel der diesseitigen Menschheit^ zu dessen Erreichung frei-
lich der Einzelne nicht für sich allein steht, sondern Einer dem
Andern und Allen Alle Mittler sind in gegenseitigem Priesterthume.
Darin aber liegt der Liebe tiefes Mysterium und innere Un-
endlichkeit, dass auch wo nur zwei zusammen und in Liebe wirk-
lich eins sind, schon die Qual des isolirten und vereinsamten Sub-
jects verschwunden und die Entzweiung des Geistes gelöst, zur
unendlichen gegenwärtigen Versöhnung aufgehoben ist, weil die
den Zwist lösende Kraft, die gegenwärtige Offenbarung der abso-
luten Freiheit im Subject, ihre Allmacht auch in der Einheit des
Ich und Du manifestirt und die Fülle ihrer Gnade überhaupt nicht
nach Mass austheilt, sondern ganz spendet. Wird aber der Be-
griff des Absoluten, als der die Versöhnung schaffenden Kraft, als
des schlechthin Einigen und Einigenden, rein gedacht, so wird da-
mit zugleich eingesehen , dass sie an sich selbst kein Ich ist, aber
eben nur im Ich, im MenscHen als diese Kraft sich bethäligt.
Die ewige Offenbarung Gottes in der Welt ist nicht so
zu denken, als ob er sein Wesen in der Welt in besonderen Be-
stimmungen auseinanderlege und etwa besondere Seiten seiner
ewigen Gottheit entfaltete, so dass die Offenbarung Gottes etwas
für uns zur Erscheinung brächte, was vorher nicht offenbar gewesen
wäre. Der Sinn der Offenbarung ist vielmehr der, dass Gott für
uns nicht bloss die allgemeine Voraussetzung und transscendente
Grundlage oder Substanz der Welt, sondern in jedem Momente
wirkliche Thatsache und lebendige Gegenwart in der Well und
Menschheit ist und dass sein göttliches Sein mit seinem Thun ewig
eins, also wirkende Allgegenwart und zwar in Allem er ganz und
224 2*v ^^^^ ^^ ^^' Wirlb*s Aniilyfe
derselbe ist. So ist er in seinem an und rursichseicnclen Wesen
für die Erkenntniss allerdings ewig unerreichbar; denn dieses sein
Wesen ist — obgleich Gott nicht von seinem Offenbarsein in der
Welt getrennt ist — r doch von dieser OfFenbarung selbst unler-
scfaieden. Das Absolute ist in sich ein reines, einfaches, eigen-
schaflsloses , keinem Werden und Wechsel, keiner Veränderung
und Entwicklung unterworfenes, in sich abgeschlossenes und ewig
vollendetes Sein, das schlechthin unbedingte, in allem Bewusstsein,
aber nicht als das Bewusstsein, doch zugleich vor und über dem-
selben in ewiger Sichselbstgleichheit und reiner Freiheit verharrende
Wesen, welches als eins und dasselbe in Allem offenbar, der durch
Alles hindurchschreitende, gleichwohl aber vom Zusanmienhang der
Weltentwicklung und des Bewusstseins unergriffene und über Allem
zugleich unendlich erhabene Urgrund alles Daseins ist. Natur und
Geist, letzterer selbst als .an und fürsichseiender Geist, als allge-
meines Selbstbewusstsein des Ganzen, sind nicht Gott* selbst, son-
dern in beiden schafft er sich nur zum Dasein; beide sind das
Dasein Gottes, während er selbst nicht in den Zusammenhang des
Daseins und seiner Entwicklung hineinfällt. "^3 Nur wenn der in
sich eiKtzweite Geist diesen Gott in sich, auch unbewusst, gefunden
bat, hat er auch seine Einheit mit sich selbst, seine ewige Ver-
söhnung in ihm und kraft desselben wieder entdeckt; nur in dem
reinen, in. sich selbst gleichen, durchsichtigen Aether dieser Idee
' — dem über das Selbst rein unendlich hinausgehenden Acte der
reinen Freiheit — gebadet und rein gewaschen von allem Kampf
und Schmerz der Endlichkeit ist das Subjecl als in seinem Gotte
i^ersöhnt und frei.
Herr Dr. Wirth freilich, dem das allgemeine Selbstbewusstsein
der Menschheit als ein abstracter Collectivbegriff erscheint, während
es durch und durch coricret ist, fasst das Ganze, als Totalität und
Einheit^ noch einmal für sich als einen singulären Begriff, als an
und fürsichseienden Geist; er setzt die Immanenz des allgemeinen
Selbstbewusstseins der Menschheit aus dieser selbst hinaus als eine
für sich seiende, jenseitige, unendliche Einzelheit, die ihm dann
das gesuchte Unendliche und Unbedingte ist. Das, was das indi-
viduelle^ Subject in Einheit mit dem Ganzen der Menschheit selber
ist, das eigne, ewige, allgemeine Wesen des menschlichen Selbst-
bewusstseins, welches ja erst im Ganzen möglich und also nur als
allgenteines und einzelnes zugleich das wahrhafte und vollendete
Selbstbewusstsein ist, dieses will Dr. Wirth noch einmal besonders,
als eine ausserdem noch unendlich fürsichseiende Einzelheit objectiv
vor sich haben. Feuerbach's Kritik hat also für ihnkeine Früchte
getragen; diess hat er mit den Theologen gemein. Denn wenn
diese Kritik etwas Unveräusserliches zu Stande gebracht hat, so
ist es doch gewiss die Auflösung jener Selbsttäuschung des ich,
*) Man sehe hierüber in meiner Mythologie und Offenbarung 11. Bd.,
§. 125 -* 127 die weitere Ausführung.
4eB ^eKgiÖien Grunig^vthU^ 23fi
dss in sanem Gott immer wkder. zuletzt mir sieh gelbst im Spiegel
scktfucfn und als eia Absolutes, Unbedingtes gegenständlich haben
will. Von dieser Hallucination (wie Reiff jene transcendente ThiA
des Ich treffend genannt hat} kann sich Herr Dr. Wirth nicht
emancipiren, obgleich gerade diese letzte Befreiung die con-»
diHo sine qua non aller künftigen Fortschritte des philosophischen
Geistes ist.
Allerdings — diess ist auch unsere Ansicht -^ ist die Losung
des Zwistes im menschliehen Wesen nur möglich durch eine reiite
Anschauung, durch die Anschauung seiner selbst in einem schon
versöhnten Ich, in einem Anderen, welches selbst ein Selbst und
zwar ein versöhntes ist. Aber (und hier ist der grosse, entscheid*
dende Differenzpunkt*) dieses ist die Anschauung der Liebe in ihrer
wirklichen Gegenwart, als einer Gott -erfUUten Welt, einem mikro-^
kosmischen Bilde, einer mikrokosmischen Repräsentation des Uni-*
versums. Sich selbst in seinem Anderen als sdnem Objecto (und
in der Liebe und Ehe ist Einer dem Andern Object, das er durch-^
dringt und das als selbst Subject auch ihn wieder durchdringt iil
Einem innigsten Zumal und wechselseitigen Lebenstausche} findend
und schauend und hinwiederum dieses sein Obiect als sein Anderes
in sich schauend und findend, mit Einem Wort^' in der Lieba^
mit ihr und durch sie ist erst die Versöhnung des Zwistes,
der den Geist umhertreibt, wahrhaft zu erreichen; sie ist der ewig
einzige Boden derselben. Mein anderes Selbst, das Du meines Ich,
steht in der Liebe vor mir in seiner Reinheit und Idealitat, in sei-*
ner gottverklärten Gestalt; diese Anschauung desselben als dieser
idealen Gestalt ist meine Anschauung, wie umgekehrt ebenso der
andere Theil auch in seiner Anschauung meines Wesens nicht
dieses mein Selbst in seiner empirisch* gegenwärtigen Gestalt, son-
dern dessen Genius oder Ferver vor mh und als sein Du gegen-»
ständlich hat. Ich und Du haben jedes im Anderen ihr versöhntes
Selbst; und dessen an sich versöhnte und im Himmel der Liebe
ewig an sich in dieser versÖhntjen Gestalt unwandelbar weilende
Gestalt des liebenden und geliebten Ich, diess ist eben der zur
Realisirung der Versöhnung nothwendige Gegenstand, der selbst
ein und zwar unmittelbar schon versöhntes Selbst ist, welches auch
Dr. Wirth fordert, nur freilich durch einen Hangel an scharfer
Unterscheidung als das absolute Wesen, als die den Zwist lösende
Kraft fälschlich fasst, während diese nur das nothwendige Glied der
Vermittlung, die nothwendige Bedingung der sich reidisirenden Ver-«
söhnung ist, die über dieser Anschauung der Einheit von Ich und
Du in der Liebe schwebt als reine Freiheit. Versucht man diese
immanente Dialektik der Liebe -^ auf welche hingewiesen zu haben*)
nicht eins der letzten Verdienste Feuerbach*s ist --^ zu denken und
in ihre Momente zu expliciren, so wird man zugestehen müssen.
*) Feuerbaebf Gr«nds«tze der Philosophie der Zukunft, 1843. S. 83,
$. 61 — 65. Vergl. auch sein Wesen de» Cbristenthums.
Jahrb. für Mpculat. PbU^f. 1. 1. |g
226 ^"'^ ^'''^'^ ^^^ ^^' Wirth's AttAlyit
dass Ref. weiss, tvas er will, wenn er sa^, dass nnr durch
Vermittlung seines Du jedes Ich seine volle, unendliche
Einheit wiederfindet. Man wird nicht entgegenhalten, dass
die Gestalt des versöhnten Selbst, welche das liebende Ich im Du
anschaut, ja doch nur als Resultat erscheine und als solches selbst
den Prozess der Entzweiung durchgemacht habe, mithin kein schon
in sich versöhntes Selbst sei. Keineswegs ist's so; der Moment,
ijfie dem Liebenden die Anschauung des versöhnten Ich im Andern
entsteht, werde nur klar gedacht, so wird in die Augen springen,
dass die versöhnte Gestalt, in welcher dem liebenden Ich sein Du
erscheint — und nur das Ich hat den Ferver seines Du, nicht die-
ses selbst hat ihn, sondern das Du schaut und hat umgekehrt den
Ferver seines Du, des ersten Ich, des Geliebten — eben nichts
anderes ist, als das in und durch die Anschauung des Du vom
anschauenden, liebenden Ich selbst frei erzeugte, durch einen un-^
mittelbaren schöpferischen Act der Phantasie geschaffene, durch
die Schöpferkraft der Liebe unmittelbar hervorgerufene Urbild
dieses seines Du, dasselbe wie es vor Gott steht in seiner reinen
Idealität, in seiner prototypischen, aller Verwickelung mit dem
Endlichen enthobenen Gestalt. Es ist als Resultat eines schlechthin
immanenten idealen Prozesses schlechthin ein reines, anundfürsich-
seiendes versöhntes Selbst. Das Du, ist der Heiland und Mittler
des Ich, und in seinem Da findet auch das Ich seinen Gott; in
dem Gefühl und Bewusstsein der Einheit des Du und Ich ist Gott
das einigende Prinzip, das Prinzip der Versöhnung, die Kraß und
Macht der Versöhnung, welche im Ich und Du zugleich über ihnen
ist. Im Momente des Aufgangs der Liebe, des Sichselbstabsterbens
geht das Ewige auf, welches vorher nur als der Grund, als das
die Divergenz der Elemente zusammenhaltende Prinzip war, nun
aber als Resultat hervortritt uud über der Einheit des Ich mit sich
und mit seinem Du, wie über dem unendlichen Wogen und Wal-
len des mit sich versöhnten Gemüthes, in stiller Ruhe schwebt.
Niemand komme uns, der da behauptete, in dieser Anschauung sei
Gott, der belebt und versöhnt, indem er das Selbst verniditet,
eine hohle Abstraction sei; nur für dasjenige Bewusstsein ist und
muss er eine solche sein, welches ausserhalb dieser Anschauunö^
steht und dieselbe nicht zu erfassen vermag. Es ist eben noch
nicht gar lange her, dass in unbegreiflicher Caprice die Philosophie
sich soweit vergessen konnte, die Romantik absolut zu verhöhnen
und zur Carrikulur zu erniedrigen. Ueber die abstracte Einsatig-
keit eines solchen rein negativen kritischen Beginnens ist die Ge-
genwart glücklich hinaus, und man hat den Inhalt der Romantik
nur specmativ zu begreifen und ihre unmittelbaren, phantastisch-
genialen Productionen im reinen Aether der Idee zu läutern, um
den ächtesten Goldgehalt zu gewinnen. Nur im Lichte der Liebe
findet der Mensch sich selber und die Welt und schaut sich als
versöhnt in Gott — diess ist's, was als Grundthema der Romantik
in den mannigfaltigsten Variationen sich wiedci4iok.
det religiösen Grundgefäbts. 22?
Doch wir haben noch einen Pankt übrig, dessen Beleaehtung
vielleicht am deutlichsten in die Augen springen lassen wird, wie
wohl begründet der Herrn Dr.Wirth gemachte Vorwurf des Mangete
an Scliärfe der Unterscheidung erscheint. Er sagt nämlich: „Lösung
des Zwistes ist aber zugleich die Einheit der Elemente nur als
dasjenige, worin die Elemente selbst einzugehen streben und worin
sie ihr eignes Wesen realisirt finden, sie ist mit Einem Worte der
Zweck des Zwistes. Folglich muss auch das Unbedingte gedacht
werden als der Zweck des Zwistes des Geistes? folglidi muss es,
obgleich an sich oder seinem Wesen nach unendliche Einzelheit,
doch als die Einheit des Unendlichen und der Individualität sieh
hervorbringen. Es muss somit werdende Einheit beider Elemente
sein; denn der Zweck des Zwistes wird erst, er ist noch nicht
.... Im Unbedingten die Lösung seines Zwistes suchend ahnt
das religiöse Gerühl das Unbedingte als seinen Zweck, d. h. als
ein Zumal beider Elemente der menschlichen Persönlichkeit, der
unendlichen Einzelheit und des Individuellen, als ein Zumi^l, wel-
ches sich erst hervorbringt. Diess aber vermag das Unbedingte
nur zu sein, wenn es Grund jener beiden Elemente ist.* — Wie
•weit man es in der Escamotage der BegrifTe bringen kann, liegt
"hier am Tage, wo Dr. WIrth beweisen will, dass das Unbe-
dingte der Zweck des Zwistes des endlichen Geiste»,
also selbst Einheit der Elemente desselben, Einheit des Unend-
lichen und der Individualität, und zwar werdende Einheit dieser
Elemente, ein Zumal derselben, das sich selbst hervorbringe, sein
müsse. Alles dieses, behauptet Dr. Wirth, soll das Unbedingte
selbst sein. Wo bleibt dann aber das menschliche Wesen, wel-
ches zur Versöhnung mit sich gelÄigen soll, wenn Alles da», was
den Prozess der Versöhnung ausmacht, diesem einheitlichen mensch-
lichen Wesen geraubt und auf Gott übertragen, d^n Unbedingten,
in welchem sich der Mensch finden soll, vindicirt wird? Freilich
ist die Lösung des Zwistes die Emiheit der Elemente nur als das-
jenige, worin die Elemente selbst einzugehen streben und worin
sie ihr eignes Wesen realisirt finden, mit Einem Worte, der
Zweck des Zwistes. Aber ist das menschliche Wesen in die Ent-
zweiung seiner Elemente eingetreten, so muss es doch vor dieser
:aritithetischen Bestimmtheit seines Seins, in seinem concreten An-
sich, in seiner unmittelbaren, ersten wirklichen (wenn auch als ein
•verschwindender und ewig aufgehobener Moment erscheinenden)
^Existenz auch selbst die ansichseiende Einheit der disparaten
Elemente sein; und der Grund der Entzweiung ist vielmehr die
Natur und das Wesen des menschlichen Ich selbst; sie ist nur die
sich differenzirende Einheit des menschlichen Wesens selbst, dte
auch wieder zu seiner Versöhnung fortschreitet und zwar in dieser
nicht zu einem Anderen, (As es seB>st ist, sondern nur zur Rea-
lisirung seines eignen Begrifls gelangt. Oder mit andern Worten:
der Crrpnd des Zwistes ist dk iilimanente Tendenz und Bestimmt-
lieit des Ich selbst und ebensb der Zweck des Zwistes ist eben
audh nieder nur das Selbsl des 'Menschen, nicht Gottes, als Ver«
15»
^2S ^^^ ^"^'^ ^^^ ^^* Wirth*8 Analyse
söhntes Ich. Was nützte es, wenn Gott unsere Versöhnanff wäre
und wir dieselbe nicht als die Spthesis nnsers eignen Wesens,
in und mit diesem nothwendig immanent gegenwärtig hätten?
Welche Logik hat denn Herrn Dr. Wirth diess gelehrt, dass der
Zweck eines begeistelen Wesens ein Anderes als dieses Wesen
selbst wäre? Der Zweck des Geistes kann unmöglich ein Anderes
als er selbst sein, er kann nicht Gott sein, sondern nur der mensch-
liche Geist selbst als in Gott versöhnter. Nicht ausserhalb Mt der
Zweck, sondern was d^ religiöse Gefühl als seinen Zweck ahnt,
kann nur es selbst, in seiner Einheit mit sich, sein, und nichts
Anderes als diess weder im Himmel, noch auf Erden. Und wenn
wir aus der Zerrissenheit und dem schneidenden Zwiespalt unsers
Wesens nach einer solchen Einheit und Versöhnung uns sehnen,
— eine Sehnsucht, die Jedem in wohnt — so ist dieselbe ebenso-
wohl die dunkle Erinnerung an ein verlornes Paradies in unsrer
eignen kindlichen Vergangenheit, als die Anticipation einer Ver-
söhnung in der Zukunft, beides in Einem zumal. Was das reli-
giöse Gefühl als seinen Zweck, als sein Ziel ahnt, kann nicht Gott
als diese Versöhnung, als an und für sich seiendes versöhntes
Subject, sein; sondern das erstrebte Zumal der Elemente des Ich
ist eben das immanente Resultat des Ich sdbst, die Synthesis der
Elemente seines eignen WesenHi. Seine Versöhnung ist des Men-
ischen eigne That. Nach Dr. Wirth's Theorie ist aber Gott, als
an und für sich seiendes Wesen, als absolutes Ich, der Grund und
Zweck der Versöhnung des Menschen. Also die Idee Gottes ist
ihm das Ansich des religiösen Verhältnisses, das Ansich des mensch-
lichen Wesens, und ebenso auch zugleich das Ziel und Resultat des
religiösen Verhältnisses, der *weck des menschlichen Wesens.
Nur was zwischen beiden in der Mitte liegt, die Entzweiung, ge-
hört dann dem Menschen an. Dasjenige, was Dr. Wirth im An-
fang seiner Einleitung vom Ansich des menschlichen Wesens, als
ansichseiender Einheit des Unendlichen und Individuellen, sagt,
diess ist consequent gedacht nichts anders, als die Idee Gottes
selbst, die zur Entzweiung fortgeht, Mensch wird, und zur Ver-
söhnung mit sich, durch diese Vermittlung des Endlichen, wieder
zurückkehrt. Es ist diess mithin ganz wieder der Hegel'sche Stand-
punkt (vergleiche meine Dissertation: der Religionsbegriff HegeKs,
S. 14f.), welcher die Religion schlechthin aufhebt, den Unterschied
Gottes und des Menschen zu einem fliessenden macht. Auch Dr.
Wirth hat, so sehr er sich gegen dieses Urtheil sträuben' dürfte,
in Wahrheit die Religion annihilirt;
Sollen wir nun auch positiv angeben, wie die Lösung des
Zwistes, die absolute Versöhnung in Gott zu Stande
kommt, und zwar zu Stande kommt, ohne dass Gott als ein
^Ibst, als ein Ich nothwendig ist, so wäre dieser Prozess kurz
dieser.
Auch in der schroffsten Entzweiung des Geistes mit sich sdbst
wohnt als dunkle, unbegriffene Macht schlummernd noch das Ge-
Jiyissen, als die mahnende^ Gegenwart Gottes selbst, ^|im Subject,
lässt es seüse Zerrissenlieit empfinden und treibt es v6ii innen her-
aus 2ur Einheit in Gott zurück. Das Gewissen ist das blitzende
Hervorleuchten der Göttlichen Freiheit in dem Abgrunde der Ent-
zweiung und Entfremdung von Gott, und von .hier beginnt nun
das neue Leben der Versöhnung, indem die Anschauung und der
Wille, anstatt sich in der subjectiven Isölirung zu üxiren, in Gott
sich festhält. Indem das SubjecL in dem Streben , rein für sich zu
sein, im Zustande der von Gott entfremdeten Selbstheit und Frei-^
heit, sein Nichts als den Tod dieser von Gott entfremdeten Selbst-
heit bebend empfindet, und in dieser Empfindung doch zugleich
noch die Gewissheit des Seins, das Licht des Nichtverlorenseins
zündend einschlägt, ist in dieser Anschauung unmittelbar Gotl
wieder erfasst; wird derselbe nun auch vom Willen ergrififen und
festgehalten, so ist der reale Anfang aus der Entzweiung zur Ver-
söhnung geschehen. Jener Moment aber kommt als Gnade zum
Bewusstsein; sie ist die Gegenwart Gottes selbst in dem seiher
eignen Nichtigkeit inne gewordenen Bewusstsein, das von der-
selben als von seiner göttlichen Seele durchleuchtet und belebt und
von ihr aus dem Tode der Vernichtung wieder zum Leben in Gott
erhobe^n wird. Diess ist zugleich die Wahrheit der Idee der Er-
haltung der Welt in Gott. In dem Nichtssein der für sich sein
wollenden Selbstheit war Gott dem Selbst und dessen Streben,
seine Freiheit ausser Gott zu haben, geopfert; das Subject hatte
ihn aufgegeben und sich in sieh selbst absolut zu fixiren gesucht
Und dennoch war Gott nicht aus ihm gewichen, er hatte sich
selbst in dieser Vernichtung gegenwärtig erhalten und, ob auch
das Subject ihn verliess, so hatte doch Gott nicht vom Subject ge-
lassen und es nicht von sich gestossen, sondern war im Hinter-
grund seines Bewusstseins schlummernd der Grund seines Seins
geblieben. Indem sich nun in jenem flüchtigen Momente des Inne-
Werdens seiner absoluten Nichtigkeit und Leere das Subject auf
Gott besinnt und die in ihm aufgehende Offenbarung Gottes als
die Grenze des Nichts gewahrt, wird dieser Anfang der Wieder-»
Versöhnung mit Gott vom Subject als der Act der unendlichen
Liebe Gottes empfunden, der sich des nichtigen Selbstes erbarmte
und es nicht verschmähte, auch im Nichts ungewusst und unge-^
kannnt und unerfasst doch zu weilen, um das Subject wieder zu
sich zu ziehen. In dem Dankgefühle schrankenloser Hingebung
und unendlicher Gegenliebe erfasst nun das Subject in dem wieder-
gefundenen Gott wieder die Kraft seiner Freiheit, schaut und
weiss sich nur in ihm, nur in seiner Gegenwart als ein wirkliches
und wesenhaftes, als göttliches Selbst und weiss so erst mit der
Welt und mit sich selbst in Gott sich absolut versöhnt. In freier
Hingebung an Gott hat das Subject die ewige Nothwendigkeit, die
das Gesetz der reinen Freiheit ist, in den eignen Willen aufge-
nommen, findet sie als steine eigne Freiheit und lebt in ihr wie
in seiner eignen That, und keine Schranke wird mehr zwischen
ihr und der Freiheit des Subjecls empfunden; über jeder möglichen
Trennung schwebt wieder die einigende, versöhnende Krdl des
«mir Zur Kritik von Or. Wirth'» A«idyM etc.
4
Gottes. In dieser Sdig^eit des EiiiMeiiis in GoU mtt skh seibsl
geht da3 Subject ganz in die ewige Stille des göttichen Wesens
ein und heil darin seine Versöhnung ewig gegenwärtig, lebt und
webt darin als im Besitze und Genüsse des höchsten Gutes, worin
Sünde und alle Qual der Entzweiung zumal verschwunden ist.
Mit allen Schmerzen der Endlichkeit, mit aller Sorge und. allen
Kummer versenkt es sich in die fühlende Tiefe Gottes, wo aller
irdischer Jammer lautlos verstummt und auch der Tod seinen
Stachel verliert. Diese Versöhnung erscheint so als die That Got-
tes und des Subjects in Einem, als göttliche That im Subject, und
ihre EmpGndung ist zugleich die höchste und tiefste Anschauung,
beides in Einem zumaL In Gott hat und weiss sich das Subje^
und das stille Wogen, das Sich verlieren und Wiederfinden in Gott,
ist das harmonische Liebesspiel des ^ewigen seligen Lebens in ihm.
Ohne dieses unendliche Liebesopfer der Endlichkeit isl.das ewige
Leben der Versöhnung nicht zu erreichen; so aber, durch dieses
Versöhnungsopfer dos ganzen Ich, ist es die That des Menschen
selbst, das Resultat seines Lebens. Der Untergang des Ich in Gotl
ist sein absolutes Opfer und seine Verklärung zugleich. Hi<»* auf
dem Gipfel und der heitern Sonnennähe der Religion bleibt allein
noch die Krall des göttlichen Wesens wirklich, durch welche wir
über Welt und Endlichkeit und uns selbst hinausgehen, um eben
in dieser Kraft uns als in Gott zu wissen und so des höchsten
Gutes zu geniessem Dieser ewige ideale Untergang der Welt,
als die Vernichtung ihrer Nichtigkeit, ist die absolute Offenbarung
des göttlichen Mysteriums. (Vergl Mythologie und Offen-
barung. U. .$. 131 ff.)
Wir haben uns bemüht, bis in die geheimsten Schlupfwinkel
4er von Herrn Dr. Wirth seiner Theorie des Absoluten voraus^
geschickten Erörterungen über das Wesen und die innere Dialektik
des religiösen Grundgefuhls einzudringen, weil es uns als eine
Pflicht erschien, die Widersprüche uiul Selbsttäuschungen aufzu-*
zeigen, in welche die Speculation noth wendig gerathen muss, wenn
sie darauf ausgeht, eine überkommene dogmatische Voraiisset;Bung
immer wieder von Neuem als ^Grundidee des religiösen Bewusst*
Seins philosophisch zu rechtfertigen. Je eifriger diese Tendenz in
der Gegenwart, von einer allgemeinen Richtung der Zeit noch
begünstigt, auf dem Felde der Wissenschaft, insbesondere der
Beligionsphi^osophie, sich geltend zu machen strd)t, desto unver-
drossener muss die Kritik sein, immer wieder von Neuem die
Blossen eines solchen Dogmatismus aufzudecken.
li« üoaeli.
filjrstefii der Metfi'physlk v#ii Dr« li. CS«iirse#
Berlin 1844. £. H. Schröder.
Dem Manne, 4eQ wir noch immer als unsern Führer in der
Philosophie anerkennen, ist das ganz EigenthUmliche begegnet, un^
widerlegt in die Gruft gestiegen zu sein, während bei jedem seiner
Vorgänger die Fösse derer, die ihn zu Grabe ' getragen , schon
limge vor der Thüre warteten und nur eine abgelebte Gestalt mit
sich zu nehmen hatten. Hegel dagegen ist bereits drei Lustra der
Zeittichkeit entrückt und doch ist sein Geist noch nicht in der
Mnemosyne der <jßschichte aufbewahrt, daselbst ein ewiges Leben
zu führen; sondern ein grünender Lorbeer umschlingt ihn noch
heute in den* Kämpfen der Gegenwart. Es sei damit nicht gesagt,
dass die Geschichte 1$ Jahre nicht von der Stelle gerückt sei, wie
Andere ein weisses Blatt von 40 Jahren in ihr entdeckt haben
wollten. Aber das Neue, das sich entwickeil hat, ist durchaus
nur Fortbildung des ursprünglichen Keimes, Entwicklung Hegel'schcr
Gedanken, ohne Negation des Prinzips, wenn auch die Jünger in
den Consequenzen weiter gegangen zu sein behaupten.
Qhne allen Angriff ist es nun freilieh nicht geblieben. Aber
des herausgetragenen Vorgängers, der lebendig begraben sich noch
im Grabe gegen seinen Nachfolger umdreht, um ohnmächtige Schat-
tenstreiche gegen ihn wegen des Liebesdienstes zu führen, den
dieser ihm geleistet, sei hier nicht Erwähnung gethan. Es haben
sich imkere rüstige junge Kämpfer aufgethan, welche, das specu-
lative Denken wieder als abstracten Begriff fassend, der an die
Wirklichkeit heranzukommen nicht vermöge, Logik und Metaphysik
wieder einander gegenüberstellten, vom Absoluten nur einen ne-
gativen Begriff, das i>erühmt gewordene nur nicht zu Den-
kende in der Metaphysik Uefern zu können eingestanden und
für die positive Enthüllung des Göttlichen an einen praktischen
Glauben appelliren zu müssen meinten. So wurde dem Ergebniss
der Kant'schen Philosophie die späteren Errungenschaften der Wis-
senschaft wieder vorgezogen; nur dass freilich, was die schwache
Seite .aller Glaubensphilosophie ist, die Immanenz auch noch in
diesem Kant'sphen Aufguss soll getauft werden.
M2 Die Philosophische GeseUschtIt io BerliiK
Dieser Ridiliiiig gehört im Ganzen auch das vorliegende „Sy«>
slem der Metaphysik^ von Herrn Dr. George an. Den eigen-
jthümliGhen Standpunkt, den er sich in der Geschichte der Philosophie
erwerben will, gibt er selbst so an: Hegel uad Scbleiermacher mit
einander auszus^nen und zu vermitteln; — in derThat die höchste
Spitze der sich zur Absolutheit ausbildenden Denkphilosophie and
jder aus dem Kant'schen Standpunkt hervorgetretenen Glanbens*
Philosophie. In diesem Gipfel jedoch, das hätte unser Verfasser
bedenken sollen, sind die Gegensätze schon viel vermittelter, als
wozu er es in seiner Philosophie nur überhaupt bringt. Denn
Schleiermacher nimmt wohl auch das Kant'sche Resultat auf, dass
0uf dem Gebiet des Begriffs die dialektischen Gegensätze nie gänz^
lieh zusammenfallen, sondern Asymptoten bleiben, wie viel er sich
auch bemüht und abmüht, sie aneinander zu bringen. Aber er
behält doch im Gefühle, und das ist der Hauptpunkt seiner Rede,
den vollen concreten Inhalt der ächten Speculation bei. Hier darf
die Transscendenz einer Gottheit und deren jenseitiger Wille nicht
mitsprechen; hier geht das Individuum im Weltgeist auf, die Per-
sönlichkeit des ^Us ist die allein seiende, und stellt sich dar in
den Individuen, die darin ihr ewiges Leben sudien.
Hier sind die Gegensätze wahrhaft durchdrungen, während
nns^ Verfasser, die Schleiermacher'sche Dialektik aufnehmend,
immer nur sagt, dass sie sich auflösen, ohne dass je ihre speca-
lative Einheit dialektisch nachgewiesen, noch dass das Ziel der
ganzen Bewegung errungen würde. Es heisst zwar: „Soli nun
von dem Nichts " (mit dieser Kategorie beginnt der Vferfasser näm^
lieh seine Darstellung} „weiter fortgeschritten werden, so kann
diess nur geschehen vermittelst der specuiativen Methode, welche,
ohne etwas Fremdes zu entlehnen , in einem rein schöpferischen
Denken ihre Begriffe erzeugt, nach dem ihr nothwendig einwoh-
nenden Gesetze.^ Sehr guti Doch die Ausführung entspridit
diesem schönen Vorsatze keineswegs. „Dieser Gegensatz,^ heisst
es sogleich, „zu dem Nichts ist das reine Sein, das daher audi
nur durch diesen Gegensatz zu erfassen und zu begreifen isk^
Das ist die ganze Ableitung, wenn man eine solche Assertion m>
iiennen kann, Wo bleibt die Hegel'sche Kunst, an dem Sein sdbst
apifzuzeigen, dass es das Nichts, in dem Nichts, dass es das Sein ist,
was schon Plato den Philosophen vorzunehmen rieth. Herr George
stellt bloss die Gegensätze nebeneinander, und dann war es wahr-
lich nicht der Mühe werth, so viel Aufhebens davon zu machen,
mit dem Nichts anzufangen, und nicht mit dem Sein, — oder gar
jeinen Anfang die genetische Methode, diesen die Methode der
Abstrdction zu nennen. Die seinige ist ganz willkürlich. Weitere
Beispiele mögen diess erhärten. „Der wirklich vollzogene l'eber-
gang des Nichts in das Sein ist das Werden, in welchem sich die
Gegensätze völlig durchdrungen haben. ^ Das übrige sind nur Re-
flexionen über diese völlige Durchdringung, die wir auf guten
Glauben annehmen sollen. Es macht uns den Eindruck, wie wenn
es in der vormaligen Logik hiess: „wir kommen jetzt zu den Ur-
George'« Syttem der Metaphysik , yon Michelct. 233
theilen.^ Ferner sagt unser Verfasser: ^»Entsteben und Vergehen
^ind Gegensätze und fordern daher zur Vermittelung auf; das
Resultat desselben ist das Dasein.^ Wie aber zu diesem Resultat
gelangt werde, ist mit keiner Silbe angedeutet.
So kommt der Verfasser zuletzt auf die höchste Idee Gottes,
dass er der göttliche Geist als die Identität von Immanenz und
Transseendenz sei, während in der Welt diese Momente immer
im Gegensätze zu einander verharren; — eine acht Schleier-
macher'sche Formel, aber freilich nur eine Formel, über welche in
der Metaphysik indessen nicht hinausgegangen werden könne.
Wollen wir hiemach den Standpunkt des Herrn George kurz cha-
rakterisiren, so mlissen wir sagen: Er verknüpft allerdings den
HegeFschen und Schleiermacher'sdien Standpunkt, aber auf eine ganz
einseilige Weise, — nämlich die ganz äusserliche Dialektik Schleier-
macbers, welche von empirisch gegebenen Gegensätzen ausgeht
und sich nur um sie herum reflektirend zu thun macht, mit der
Idee einer transscendenten Gottheit bei einem Theile der HegeFschen
Schule, der ja, damit auch die Immanenz verbinden zu können
glaubte. Der ächte Kern in den Ansichten beider Männer bleibt
aber unberührt: nämlich hier der immanente Pulsschlag der Hegel'-
schen Dialektik, der sich nur als die eigene Portbewegung des
Inhaltes kund gibt; dort der speculative Inhalt eines der WeK ab-
solut immanenten Weltgeistes, der in dem Schleiermacher'schen Ge-
fbhl und dessen Energie^ so sehr erhaben über die kritischen, be-
.sonders späteren Quälereien seiner Reflexion sich zeigt. Durch
Strauss' Vortritt hat der grössere Theil der Hegerschen
Schule diese wesentliche Identität in den Ansichten beider Männer,
die sich im Leben so fern standen, erkannt und ausgesprochen;
und wlis Herr George nur durch eine Hinterlhür und so natürlich
nur halb und mati erreichen will, wodurch er sogar über den
Heros der Philosophie hinausgeschritten sein will: das findet sich
schon auf der breiten Heerstrasse der Geschichte der Philosophie
von diesem Heros selbst und seiner zahlreichen Gefolgschaft ver-
vrirklieht; — das gewöhnliche Loos solcher Nachzügler grosser
Geister, die in ihren original sein wollenden Systemen nur schwache
Wandbilder der glänzenden Gestalten der Geschichte abzuspiegeln
vermögen.
Hiclielet.
I
V.
»eutoehe Phlloüoplile In Bnslmtd.
Qi^ant — SdieUittfi. — i^tgtl^
Miioelle von Ft. Förster.
In Nr. 898 der in London erscheinenden Zeitschrift ^Ae
j/Aenaeum^ befindet sich eine Beurtheilung der von dem Fran-
zosen Amand Saintes abgefassten ^Geschichte des Lebens und der
Philosophie Kant's.^ Der englische Beurtheiler zeigt, dass er mit
deutscher speculativer Wissenschaft vertrauter ist, als so manche
deutsche Doktoren der Philosophie, deren unverständige Anfein*-
dungen des Systems durch die Anerkennung, welche der Aus-
länder ihm zu Theil werden lässt, aufgewogen werden.
,)Derjemge, welcher eine genaue Bekanntschaft mit Plato zu
»achen wünscht, sagt unser Engländer, muss, so vieles mich die
AJebersetzer geleistet haben, Plato selbst lesen; und eben so ge-
wiss ist es, dass diejenigen, welche die Methode und die Theorien
4er deutschen Philosophen wollen kennen lernen, sich nicht auf
die französischen Bearbeiter verlassen mögen, so sehr auch diese
behaupten., ein jedes Gedankensystem in klarster und bestimmtester
Form gefasst zu haben. Herr Amand Saintes ist mit so geringem
Erfolg als Ausleger der deutschen Philosophie — wenigstens unter
den Deutschen aufgetreten, dass er besser gethan hätte, den Wei-
sen von Königsberg ungestört zu lassen. Er hat den Bereich der
Philosophie und Biographie ganz ungehörig durcheinander ge-
worfen.
Wollte er die Verdienste Kant's als Mensch, fPreund und
Lehrer darstellen, so hätte er diess in einer rein biographischen
Form thun sollen; beabsichtigte er dagegen die Vollständigkeit und
den Zusammenhang des Kantischen Systems zu zeigen, so hätte
er diess in einer streng wissenschaftlichen Weise thun müssen;
allein seine Art und Weise, ein philosophisches System durch
Citate von Autoritäten empfehlen zu wolUen, ist falsch: ein Sy-
stem muss entweder durch sich selbst vertheidiget
werden, oder gar nicht.
IXie phüofophisehe Gesellschiifl zu Berlin: etc. ;|g5
Ifi dem biographischen Theile des Werkes finden wir nichts
Neues, noch werden wir durch irgend eine darin enthaltene Idee
über Kant's System meiir aufgeklärt, als wir es bisher waren.
Diess System war von gewaltigem Einfluss, als der Ausgan^unkl
neuer Speculationen, welche seitdem einen so vorherrschenden An-
iheil an der deutschen Literatur genommen haben. Obsehon Kant*s
System ungenügend, oder skeptisch war, so diente es nichts desto
weniger daz», den Dogmatismus Wolfs und anderer zu stüreen nnd
der philosophisehen Speculation einen neuen Impuls und eine tiefere
Richtung zu geben. In wenigen Worten versuchen wir die Haupt«
2üge jene» Systems zu geben und zu zeigen, wie es nothwend^
fernere Speculattonen hervorrufen musste. Hierbei bemerken wir,
dass, wiefin englische Metaphysik«* die Dnnkelk^H Kant's und sei-
ner Nachfolger vermieden haben, der Grund davon zum Theil
darin liegt, dass sie sich nicht auf die Lösung derselben schweren
Probleme eingelassen haben. Kant musste zuvörderst den Dog*
malismus des Wolfschen Schema von Lehrsätzen aller sichtbaren
und unsichtbaren Dinge zerstören; diess that er, indem er zwei
Fragen stellte, erstens: sind diese Lehrsätze in Uebereinstimmung
mit der wahren Natur der Gegenstände, auf welche sie angewen-
det werden? zwdtens: sind sie nur das Ergebniss des nothwen-
digen Denkprozesses des Geistes in Beziehung auf die Geg^stände?
Bine bejahende Antwort auf die erste Frage zu geben, ist er be-
müht, als unmöglich darzustellen. Er steUt die Mögliehkeit in Ab-
rede, natürliche oder übernatürUehe Gegenstände zu erkennen,
wie sie an sich sind. Er zi^t daher eine Wolke über die äus-
sere Welt, während er sich bemüht, den inneren Kreis der Ver-
nunft durch eine Darlegung ihrer Gesetze und ihres Prozesses zu
erhelleii. Er zeigt, dass weder die Sinne, noch der Verstand uns
eine objective Kenntniss der Dinge wie sie an ihnen selbst sind
zu geben vermögen. — Da er jedoch diesem Skeptizisnnis, wei-
chen er in die ontologisehe Welt einführt, keine Störung dar
moralischen Welt verstatten will, fügte er, zur Ergänzung seiner
Kritik der reinen Vernunft, die der praktischen Vernunft hinzu.
In dieser sind seine SoMussfoIgenmgen oft denen von Butler
gleich. Er zeigt, dass, da die speculative Vernunft uns über die
lx»ste»2 eines künftigen Zustandes, eines höchsten moralischen
Ordners und eines Zustandes moralischer Vollkommenheit ungewiss
lasse, uns die praktische Vernunft nöthige, beständig «nter der
Voraussetzung ihrer Existenz zu handeln. Allein dieses ganze Sy-
stem schlies^t sehr unbefriedigend. Es lässt einen offnen • Abgrund
iTwischen dem sobjectiven Geist (mind) und dem, was er zm
wissen verlangt.^ Sein speeulatives und sein prakliisches System
«cbliessen mit dem alten Sprüchwort: y^ypoi^i oeatfWPy nichts
weiter, lieber diesen Abgrund, welchen er zwischen dem sub-
jectiven Geist und dem Universum geöffnet hat, hinüberzukommen,
war die Aufgabe der beiden späteren Systeme, welche es auf
zwei verschiedene Weisen versuchten, das eine im Fluge, das
andere dorcb eine, Brücke, Schelling durch sein Prinzip der An-
236 ^^^ philosophische GesdUchaft zu Berlin:
schaaang; Heffel durch seine Logik. 0er erstere hat sein Sy-
stem nicht vollständig und consequent entwickelt, sondern nur
einige geistreiche Constructionen über die Hypothese der Identität
von Subject und Object aufgestellt. Diese Identität bleibt bei ihm
eine blosse Annahme, während sein Mitstudent und später sein
Nebenbuhler (wir Deutsche dürfen sagen: zuletzt sein Besieger J
ein logisches System aufstellt, um zu beweisen, dass die wahrhafte
Natur der Dinge im Geiste vorhanden sei,, oder mit andern Wor-
ten, dass die logische Ordnung, unter welcher der Geist die Ge-
genstände betrachtet, nicht bloss ein Thun des subjectiven Geistes
ist, sondern auch den Gegenständen des Denkens selbst inwohnt.
Durch diesen Inhalt unterscheidet sich seine Logik von dem sub-
jectiven Philosophiren unserer Schottischen Metaphysiker Reid,
Stewart und Brown, welche Kant näher stehen, als sie selbst ver-
mutheten. Hegel erklärt, dass er eine Methode des Philosophirens
einführe, welche alle andern Systeme, die er nur als unvollstän-
dige Theile seines Systems betrachtet, umfasse. Diese Methode
besteht in einer fortlaufenden Exposition von Gegensätzen und
deren Auflösung in einer höheren Einheit. Unbillig aber würde
es sein, von mir zu verlangen, in einigen so dürftigen Sätzen
wie diese, eine genügende Idee von seiner Dialektik zu geben«
Er behauptet, dass, um eine wahre Vorstellung und volle Kennt-
niss des Prozesses zu gewinnen, man ihn ganz durchmachen müsse.
Mehrere seiner Resultate^ wenn sie abstract genommen und ausser
ihrem Zusammenhang gerissen wurden, sind miss verstanden wor-
den; so z. B. der Satz: Alles was wirklich ist, ist vernünftig,
wenn man den Nachsatz wegliess: aber alles was vernünftig ist,
ist nicht wirkhch.'^} Eines ist gewiss, dass, welches auch sein
System in seinem eigenen Geiste war, seine Schüler sind in
der Anwendung und Fortbildung desselben zu den entgegen-
gesetztesten Theorien [in politischen und religiösen Angelegen-
heiten und besonders in den letzteren hinausgegangen. Der
Meister selbst bekannte, fest am Lutherthum zu halten und als
Rector der Universität von Berlin feierte er in einer Rede die
dritte Secularfeier der Augsburgischen Confessioq.^
Nachdem der Kritiker die bekannte Stelle aus Rosenkranz' Briefe
an Lerottx angeführt, worin der Königsberger Professor bekennt, dass
er in Beziehung auf sein Glaubensbekenntniss nur wisse, was er nicht
sei, weder griechischer, noch römischer Katholik, weder Refor-
mirter, noch Lutheraner — werden einige Bemerkungen über die
innerhalb der HegeFschen Schule hervorgetretenen Spaltungen mit-
getheüt. Zu beherzigen dürften folgende Schlussworte sein. „Man
fühlt allgemein, dass eine Trennung zwischen Speculation und
Leben, Theorie und Wirklichkeit, Fortschritt der Schule und Be-
*) f^whatever is aciual is also rational y hnl all that is ralional is noi yei
actualJ^ Hier beiindel sieh un^er Eiij^Iaiuler in so forn im Irrthuui, «bi
Hegelf zweiter Satz lautet: alles was Yernünfti(( ist, ist wirklich.
detttMhe Philosophie in England, Miscelle von Föriter. 237
wegung im Volke unstatthaft sei, und wenn Professoren* der Philo-
sophie zu Resultaten ihres Studiums gelangt sind, welche einer
allgemeinen Anwendung und Brauchbarkeit fähig sind, so ist es
sehr Zeit, damit hervorzutreten und sie mit wahrhafter Volks-*
entwicklung zu vereinigen. Wir wollen durchaus nicht in Abrede
stellen, dass die neue Philosophie Resultate von allgemeiner Ver-
ständlichkeit und praktischer Wichtigkeit habe. Ihre concreto Be*
Stimmung der Freiheit, ihre Darlegung des positiven sittlichen
Grundes, auf welchem die wahre Freiheit eines Volkes ruhen muss,
ist, um nur eines anzuführen, ein ungeheurer Fortschritt der Phi-
losophie des achtzehnten Jahfhundertit. Ihre Forderung nach einer
Allen gerechten Gesetzgebung, welche zur Vereinigung und zur
Entwickelung der gesammten Menschheit führen wird, stimmt mit
dem fortgeschrittenen gemeinen Menschenverstände überein; in
praktischen Nationen aber kehrt die Philosophie nach allen ihren
Evolutionen zu guten, altbegründeten Grundsätzen zurück.^ —
Obschon wir uns mit diesem, zu sehr im Geiste Alt-Englands
abgefassten, Schlussbekenntniss nicht ganz einverstanden erklären
können, müssen wir doch dem freien und gut unterrichteten Ur-
theile des englischen Kritikers volle Gerechtigkeit widerfahren
lassen. —
F. Fdn*er.
cum einleitenden Vorworte des Herausgebers.
OchoR die Bereitwilligkeit, mit welcher die Mehrzahl der zu
Ihätiger Unterstützung unserer neugegründeten Zeitschrift einge-
ladenen Gelehrten ihre Theilnahme zugesagt hat, konnte dem Her-
ausgeber als die beste Widerlegung des v-on anderer Seile her
ausgesprochenen Bedenkens gelten, als ob unser Unternehmen in
keine besonders günstige Zeit falle. Um so mehr gereicht es uns
zu besonderer Genügthuung, hier am Schlüsse des ersten Hefts
noch nachträglich mit der gebührenden Anerkennuung die Un-
eigennützigkeit erwähnen zu können, womit die philosophische
Gesellschaft zu Berlin der Redaction entgegenorekommen -ist.
Nachdem der Prospekt unserer Jahrbücher bereits versandt
war und der Druck des ersten Hefts begonnen halte, wurde dem
Herausgeber im Namen der genannten Gesellschaft durch die Re-
daktionscommission derselben der Entwurf eines Prospekts zu einer
ähnlichen Zeitschrift mitgetheilt, deren Plan fast gleichzeitig mit
unserm Unternehmen entstanden war. „In einer Zeit, — so heisst
es in dem Prospektsentwurfe der genannten Gesellschaft — wie die
unsrige*, wo auf allen Gebieten des Lebens und der Wissenschaft ,
der regste Geist der Entwicklung und des Forlschritts sich kund
gibt, hat die Philosophie ganz besonders den Beruf, die im Kampf
begriffenen Gegensätze auf ihren wahren Werth zurückzufüliren,
die Extreme vom Prinzip aus zu beleuchten, das Zersplitterte zur
Einheit zusammenzufassen, überhaupt der geistigen Bewegung
einen festen Boden, einen sicheren Mittelpunkt auszumachen*
Unser Zweck ist also, den bereits errungenen Schatz der Ver-
nunflerkenntniss nach den Fragen herauszuwenden, denen die
Gegenwart die lebendigste Theilnahme schenkt, dadurch ihre
Naehtrag zum eioleiteDden Vorworte de» H«riiii|^cbeira. 289
Lösung auf organischem Wege zu fördern und zugleich die eigne
Erkenntniss zu grösserer Klarheit und Bestimmtheit zu erheben.
Indem wir in der Entscheidung aller zur Verhandlung kommenden
Fragen über Recht, Sittlichkeit, Staat, Kunst, Religion und Wis-
senschaft auf die letzten Gründe der Erscheinungen zurückzugehen
haben, wird auch bei der Besprechung der Zeitinteressen unsere
Arbeit immer auf das Allgemeine und Noth wendige, auf den Geist
der Verhältnisse gerichtet sein, so dass sich daraus die leitendien
Gedanken ergeben werden, wonach die bewegten Erscheinungen
der Gegenwart sich der Natur der Sache nach am Entsprechendsten
gestalten würden. Dabei werden wir diejenigen Standpunkte be^
kämpfen müssen, welche aus Mangel der wahren Prinzipien un-
fähig sind, die dringenden Fragen der Zeit zur genügenden Lösung
zu bringen. Nächst den wesentlichen Interessen der Gegenwart
wird uns aber die fernere Entwicklung der Philosophie selbst aufs
lebhafteste beschäftigen. Es sollen die wichtigsten literarischen
Erscheinungen auf dem Gebiete der Philosophie einer eingehenden
Beurtheilung unterzogen werden; auch wird auf Gesammtrichtungen
in andern Wissenschaften, denen sich eine bestimmte Stellung zur
Philosophie abgewinnen lässt, Rücksicht zu nehmen sein; philo-
sophische Erörterungen, die einen fraglichen Punkt in der Philo-
sophie näher bestimmen, werden ihre Stelle finden; endlich beab-
sichtigen wir, das öffenlliche ürtheil über die Philosophie zu be-
richtigen und Verunglimpfungen und Verdächtigungen derselben
kurz zurecht zu weisen." — -
Wiefern nun die beiderseitigen Bestrebungen im Allgemeinen
darin übereinstimmten, das Gegebene geistig zu beleben und zur
Idealität hinzuführen, konnte der Vorschlag zu einer ^Vereinigung
von Kräften aus allen Gegenden unsers Vaterlandes,
von Kräften, die vielleicht bisher weniger in gegen-
seitige Berührung getreten sind, zu einem gemein-
samen Wirken" nur die vollkommenste Aufnahme finden und
eine gegenseitige Verständigung um so leichter erzielt werden,
als eine gemeinsame Thätigkeit und zusammenhängende Geistesar-
beit sich für ein solches Unternehmen dem Herausgeber dieser
Jahrbücher gleich Anfangs (vergl. das einleitende Vorwort) als
höchst wünschenswerth darstellen mussle. Die philosophische Ge-
sellschaft zu Berlin, derep Beiträge für unsere Jahrbücher „mehr
240 Ifachlrag lUm einleitMideii Vorworte des Herausgebers.
Und mehr den CSiarakter eines planmässigen Ganzen annehmen*^
und das ^Zurallige^ möglichst ansschliessen wollen, tritt demg^e»
mäss als Eine an den ^Jahrbtichorn^für speculative Philosophie^
mitarbeitende Person ein und lässt sich als solche durch ihre Re-
daktoren bei uns vertreten. In Folge dieser getroffenen Einrich-
tung wird namentlich auch von den in der genannten Gesellschaft
gepflogenen und für den Druck redigirten Discussionen Ausgc^
gewähltes durch das Organ unserer Jahrbücher dem PublikMi vor-
gelegt werden.
Nachdem nun eine bedeutende Anzahl der ausgezeichnetstai
wissenschafUichen Kräfte unserm Unternehmen ihre Unterstützung
zugesagt haben, zweifelt der Herausgeber nicht, dass diese Jahr-
bücher zur wechselseitigen Verständigung und theil-
weiser Versöhnung der verschiedenen philosophischen
Standpunkte und Richtungen in der Gegenwart und zur
Durchdringung der gegebenen Wirklichkeit beitragen
werden, und so hoSt er denn mit all^ Zuversicht, dass es ihm
durch Muth und Ausdauer gelingen werde, das Schifflein glücklich
auf die hohe Sefe zu bringen und einen günstigen Erfolg für das
Unternehmen zu erzielen.
Worms, am 12. Mai 184G.
I^le BedaktioD«
Druekfebler und Terbesserungen,
welche der Leser in der Abhandlung von Reiff: über das Prinzip der Philo-
Sophie und die Idee des Systems der Willensbestimmungen berichtigen wolle:
Seite 69 Zeile 7 v. u. statt wäre lies ist.
— 70 -- 19 V. 0. statt Nachahmungen lies Wahrnehmungen.
— 70 — 12 u. 13 V. o. statt Idee lies Form.
— 72 — 10 y, o, statt ächte lies erste.
— 73 — 11 V. u. setze nach: Negativen ein Komma.
— 75 — 17 V. u. statt: in's Erstere lies als Erst eres.
— 76 — 11 V. u. streiche nach vor den -strich.
— ^^ — 11 V. u. statt dieser lies dieses.
— 77 — 9 V. u. statt von lies vom.
78 — 19 V. o. statt erhobene lies erhabene.
— 79 — 11 u. 12 V. u. statt sofern es lies dasjenige, was.
— 79 — 6 V. u. statt in unserm lies ist und unsern«
— 79 — 5 V. u. statt nun lies nur.
— 80 — 6 V. u. statt es lies er.
— 80 — 2 V. u. statt welcher lies welche.
-— 83 — 2 V. o. setze nach: enthält ein Komma.
■— 84 — 14 V. 0. statt solle lies soll.
— 84 — 4 V. u. statt jede lies jedes.
— 86 — 14 V. o. statt nun lies nur.
— 87 — 3 V. o. statt des lies der.
— - 91 — 2 V. o. streiche nach: das Erste das Komma.
— 91 — 11 V. 0. statt Idealität lies Identität.
— 92 — 6 V. 0. streiche: lässt.
^ 92 — 7 u.S.v.u. lies: in welcher der Begriff, sich selbst
negirend, sich fortwährend wieder erzeugt.
— 93 — 6 V. u. lies: derjenige aufstellen werde.
— 94 — 7 V. o. statt einem lies seinem
— 94 — 14 V, o. statt Weltlichen lies Wirklichen.
— - 94 — 20 V. o. statt greifen lies ergreifen.
— 95 — 2 V. o, statt von lies an.
— 96 — 11 V. u. statt göttliche lies sittliche.
— 97 — 17 V. o. statt Zurückstreben lies Entgegenstreben.
— 97 — 18 V. o. statt letzterem lies letzteren.
Seite 97 Zeile 3 v. u. 8tatt unabhängigen lies unabhängiges.
— 98 — 11 V. 0. statt Totalität lies Idealität.
— 99 ~ 1 V. o. statt allein lies seine.
— 99 — 5 y. o. statt von lies an.
— 99 — 18 V. 0. statt das lies diess.
— 99 — 19 V. o statt richtige lies wichtige.
— 99 — 8 V. u. streiche: allein.
— 99 — 4 V. u. statt Aller Andern lies aller andern.
— 100 — 15 V. o. statt hat lies ist.
-— 101 — 2 V. 0. set^e vor darstellt: sich.
— t05 — 2 V, 0. statt Bewusstsein Ifes Bewusstseins.
Jahrbücher
für
speenlatiTe Plillosopliie
und die
philosophische Bearbeitung der empirischen
Wissenschaften.
Herausgegeben
YOB
ERSTER JAHRGANG.
Zweitem Heft.
^^^
Druck und Verlag von C. W. Leske.
1846.
Inhalts -Terseleliniss.
Seit«
!• i%bhandlaiiKen:
1. Mätzner, die Philosophie und die Gegenwart 3
2. Schultz, zur Philosophie, der organischen Natur, nebst einem An-
hang von Michelet . « 8
3. Temmler, über philosophisches Wissen und Naturwissen, logische
Kategorieen und • Naturkategorien 34
4. Beck, die geschichtlichen Voraussetzungen des hebräischen Religions-
princips und ihr Uebergang in dasselbe . 42
5. Michelet, die Frage des Jahrhunderts 90
6. Voigtländer, philosophische Betrachtungen. II. : 102
7. AI. Schmidt, zwei verderbliche theologische Grundsätze . . . . 137
8. Carriere, über das göttliche Selbstbewusstsein. Ein Brief an den
Herausgeber 148
9. AI. Schmidt, Gedächtnissrede auf Marheineke 155
10. Die Berliner Akademie der Wissenschaften und die Philosophie . . 173
II. Kritiken:
1. Holberg, Biedermann's freie Theologie 179
2. Michelet, kritische Miscellen zur Politik u. s. w 200
3. Michelet, Herr von Drieberg und die Physiker 211
4., Zimmermann, Mundt's Aesthetik 214
5. Noack, Schelling's Vorwort zu H. Steffens' nachgelassenen Schriften 225
Den y^Jahrbüchem für speculalke Philosophie^ haben bis
jetzt ihre Mitwirkung zugesagt die Herren:
Adler in Worms
Bactamanii in Jena
Bayrtaolfer in Marburg
Beck in Kopenhagen
Benary« Ag.i in Berlin
* Berner in Berlin
Bohne in Gassei
^Bonmann in Berlin
Carrlere in Giessen
^Cieflzkowflki, Graf v., in Berlin
Conrad! in Deidieim in Rheinhessen
Hansel in Leipzig
Baumer in Nürnberg
Feuerlein in Stuttgart
* Förster in Berlin
Formflteeber in Oifenbach
* Gabler in Berlin
Oenthe in Eisleben
^Waser in Berlin
Oeorfi^e in Berlin
OQnther in Bemburg
Hafsen in Heidelberg
Hanne in Braunschweig
Harmä in Kiel
Hense in Halberstadt
Hiecke in Merseburg
Hiilebrand in Giessen
Hinriehi in Halle
^Hotho in Berlin
Kapp, Alex., in Soest
Kapp, Chr., in Heidelberg
Kapp, Fr., in Hamm
Kostlin in Tübingen
liindemann in Soiothum
Eieonhardi, Freiheit von, in Hei-
delberg
*]liarcker in Berlin
Marklin in Heilbronn
^üfttzner in Berlin
Marbacta in Leipzig
(yjF Die mit * bezeichneten Herren
Hayer in Oldenburg
Heler in Tübingen
*Mletaelei in Berlin
ndller in Ifidda
Uppentaelm in Heidelberg
Piper in Bemburg
Planek in Tübingen
Belir in Tübingen
Bdae in Berlin
^Bdfltell in Berlin
Bdih in Heidelberg
^Bdtoetaer in Berlin
BoaenkransE in Königsberg
Saetafle in Stettin
*fi(etanildi, Alexis, in Berlin
*£(eliniidt, Eduard, in Berliii
Schmidt, Reinhold, in Berlin,
Scliniidt in Cöthen
S^hinidi in Erfurt
* Schulze, A., in Berlin
* Schultz, C« H., in Berlin
Schwärs in Ulm
Schwef(ler in Tübingen
Schweickhardt in Tübingen
Stephan in Göttingen
SuBjCmihl in Heilbronn
* Temmler in Berlin
Ulrid in Halle
*Tatke in Berlin
Toif^länder in Berlin
IWelflsenborn in Halle
IWidenmann in Stuttgart
irirth in Winnenden bei Ludwigs-
burg
IWlttflteln in HannoTer
Zech in Tübingen
ZelfllnK in Bemburg
Zeller in Tübingen
Zimmermann in Worms
Zflchlesche in Dössel bei Wettin.
♦ bezeichneten Herren sind Mitglieder der philosophischeft
Gesellschaft in Berlin, welche sidi als solche durch ihre Redactoren, die Herren
Michelet, Rötscher und A. Schmidt an den «^Jahrbüchem für speculakTe
Philosophie** vertreten lässt.
Die Jahrbücher für ^pecuhthe f^b$ios(^hU^ ef^stm-'
nen in viertetjäirliclieii Heften ä circa ftanfzehn Bögen ^ so
dass vier Helle einen Band von sechszig Bogen bilden.
Titel nnd Inhaltsverzeichnids jedes Jahrgangs werden ^t
dem letzten Hefte geliefert. iKan abonnirt auf einen Jahr-
gang,' dessen Preis anf 10 Gniden oder 6 TUr. gestellt
ist. Einzelne Hefte werden nicht abgegeben. Jede solide
Buchhandlung in^ und ausserhalb Deutschland fibeminunt
Bestellungen auf die Jahrbücher.
I.
Abhandlungen.
Jahrb. fflr fpccidiit. Pbilos. I. 3.
I.
lUe Plillosoplile iinil die Gei^eiiwart.
Eds ist in Deutschland ein in weiten Kreisen verbreiteter
Glaube, dass seit länger als einem Jahrzeliend die Heroen der
dautschen Philosophie zu Grabe getragen seien, es sei denn, dass
an irgend einem Kenäon noch ein greiser Herakles im Geisterge-
wande umgehe, wovon ihn die ötäische Flamme erst noch zur Un-
sterblichkeit zu läutern habe. Schwächliche Nachkömmlinge des
philosophischen Geschlechtes, welches anregend und fördernd auf
alle Sphäi*en der Wissenschaft und Kunst, auf das Gesammtleben der
Nation nach allen Seiten hin einwirkte, sollen das Absterben des
edlen Stammes in naher Zukunft weissagen.
Weit verbreitet ist die Gleichgültigkeit gegen die Philo-
sophie und an die Stelle des philosophischen Rausches der Menge
scheint philosophische Nüchternheit getreten zu sein. Wenn man
ihr glauben darf, so ist eine neue Zeit der That herangebrochen;
der spcculative, träumende Geist muss dem politischen, wachen
Sinne weichen; die derbe Gesundheit des Verstandes, der sich auf
dem gewerblichen, kaufmännischen und sozialen Gebiete in nüchter-
ner Erwägung des Zweckmässigen, Nützlichen, Sicheren ergeht,
soll die Krankhaftigkeit der Speculation überwunden haben; die
alternde Religion endlich soll aus dem Wirrwarr dogmatischer
Klügelei durch den einfachen Sinn der Männer des Volkes gerettet
und zu neuer Lebensfrische gerührt werden.
Wenn in aller dieser Bewegung eines vor wenigen Jahr-
zehenden kaum geahnten praktischen Lebens die Philosophie zu-
nächst hintangesetzt wird, so beginnt in anderen Sphären die
Verachtung der Philosophie laut zu werden. Hochmüthig lächelt.
Die yfißhrbucbet für speculathe f^hihscphie^ etad^ei-
nen in viertetjfihrlichen Heften ä circa ftanfzehn Bö^en^ so
dass vier Helle einen Band von sechszig Bogen bilden.
Titel nnd Inhaltsverzeichniss jedes Jahrgangs werden ^t
dem letzten Hefte geliefert. iKan abonnirt auf einen Jahr-
gang,^ dessen Preis auf 10 Gulden oder 6 TUr. gestellt
ist. Einzelne Hefte werden nicht abgegeben. Jede solide
Buchhandlung in^ und ausserhalb Deutschland abemimmt
Bestellungen auf die Jalurbficher.
I.
Abhandlungen.
Jahrb. fflr fpecidlit. Philo«. I. 3.
ß Die philosophisch« Gesellüohsft za Berlin:
meinen Leben und Treiben auseinderfallen , versammelt und v^-
dichtet er zu einem geschlossenen Ganzen, zu einer Gesammtan-
schauung, welche nur für den ist, dessen Blick durch stille Ein-
gewöhnung in die Tiefe der Selbstbeschauung und durch allseitige
Schärfung dafür berähigt worden ist. Die Philosophie ist nie für
die Menge gewesen. So wie aber diese Weisheit nur d^s Produkt
des gesammten geistigen Lebens einer Nation ist, so wird es auch
wiederum ihr Prinzip. Ein Volk mag sich seiner eigenen Philo-
sophie nicht erwehren: denn wenn diese auch nicht unmittelbar
in die einzelnen Sphären des praktischen Lebens einzugreifen ver-
mag, so wirkt sie doch auf das in den einzelnen Wissenschaften
und Künsten auseinandergelegte geistige Leben nach allen Seiten
mächtig ein und damit auch mittelbar auf das gesanraite Volks-
leben. Dabei mag es immerhin vorkommen, dass die Philosophie
sich in mehrere selbst freindliche Schulen trenne, dass sie in man-
chen Sphären des geistigen und sittlichen Lebens keine Anerken-
nung, oder selbst Anfeindung erfahre. Wenn die Einen dem So-
krates den Giftbecher reichen, so hat er bei den Anderen schon
den Becher des geistigen Lebens kreisen lassen, und während er
sich den Tod trinkt, sprudelt aus seinem Becher frische Lebenskraft.
Die Wechselwirkung der Philosophie eines Volkes und seines ge-
sammten Lebens und Treibens ist aber so sehr vorhanden, dass
die verschiedenen Stadien, welche jene Wissenschaft durchwandert,
durch die Entwicklungsepochen des Volkes selber bedingt werden.
Es ergibt sich daraus, wie es Zeiten geben kann, in denen das
reine Feuer der Wissenschaft erloschen zu sein scheinen mag;
das sind die kreisenden Zeiten, in denen ein Volk selber in neue
Lebensbahnen einschreitet und zugleich zu ahnen beginnt, dass
auch die Philosophie einen neuen Standpunkt zu erklimmen habe,
um der Culturstofe des Volkes, so wie sich selbst, Genüge za
leisten.
So hat auch die Gegenwart der deutschen Philosophie von
allen Gebieten des sozialen, wissenschaftlichen, künstlerischen und
sittlichen Lebens her, in Staat, Kirche, Schule und Haus, neue
Aufgaben gestellt. Der Kreis, den die Wissenschaft sich vor Jahr-
zehenden gezogen, ist in der Gegenwart zu durchbrechen, und sie
hat den neuen Stoff in sich aufzunehmen und zu neuen wissen-
schaftlichen Formen zu verarbeiten. An eben diesem Stoffe hat
die Philofophie und die Gegenwart, von Mätxner. ^
sie aber auch neue Berührungspunkte mit der Welt und deren
noannigfaltigen Interessen erhalten. So mag sie sich denn auch, wenn
sie mit systematischem Ernste und ohne in den Dienst der Inte-
ressen des Augenblicks und der Leidenschaften des Tages zu ver-
fallen, an sich selber gearbeitet hat, als Prinzip der Weiter-
bildung des nationalen Lebens bewähren, und auch in ihrer Weise
und an ihrem Theile zur Lösung der Wirren unserer Tage zu ar-
beiten bestrebt sein.
Unser Zeitalter vor allen möge sich denn immerhin von mehr-
facher Seite her verkennend gegen seine Speculation wenden : seine
Widersprüche sogar beweisen, wie sehr es, sich selber mehr oder
minder unbewusst, mit seiner PhUosophie verwachsen ist; seine
Waffen selbst, die es aus der eigenen Rüstkammer der Bekämpften
zu entnehmen pflegt, beweisen seine Ohnmacht. Der Wurm der
Philosophie wird vom Geiste der Zeit nicht zertreten werden,
denn er nährt sich von dem Herzblute eben dieses Geistes und
mit ihm müsste Gedanke und That der Zeit selber ersterben. So
arbeiten wir denn mit frischer Liebe an dem Bau der Wissenschaft
"Ohne uns durch das Geschrei der Menge irren zu lassen — der
Menge, welche nicht erkennt, dass die erstrebte Selbstbefriedigung
des denkenden Geistes, von praktischer Seite betrachtet, zugleich
die Verwircklicfaung der Vernunft und Freiheit in allen Lebens-
sphären werden muss.
K. aifttsner.
II.
Zur Pltitosopltle der «rsaiiiseltea BTatur.
T«a
Dr. €tttl )^tmi^ f$^vA^ f^dfvi^tnfttin.
Prof. ord. an der Univ. in Berlin«
I. Die Aufffabe der Seit»
iis ist^ wie im Leben, so auch in der Philosop^iie, dass der-
Zeitgeist uns oft bewusstlos in praktischer Thätigkeit vor Augen
legt, was theoretisch noch gar nicht begriiTen ist. Eft gibt einen
philosophischen Instinkt, dessen Wirksamkeit vom freien Bewusst-*
sein weder bestimmt, noch gehalten wird, obgleich der Geist selbst
seine wahre Triebfeder ist; das praktische Gefühl, das Gemüth hat
einen philosophischen Keim, der noch in der geistigen Knospt
verborgen das Erdreich in Thaten durchbricht, ohne sich noth-
wendige Rechenschaft geben zu können, woher und wohin; die
Philosophie verschmäht es nicht. Manches in kindlicher Unschuld
zu thun, in der Hoffnung, dass es seine Wahrheit in männlicher
Einsicht finden werde. Wir meinen nun, dass auch die moderne
Naturphilosophie auf eine solche Art noch bewusstlos nach einer
Richtung hinarbeitet, deren Prinzip zu erkennen sehr der Mühe
lohnen möchte, damit man sich zum freien Bewusstsein bringt,
wohin der naturphilosophische Geist steuert. Die Elemente zu
einer solchen Betrachtung sind nicht aus .der Philosophie allein
zu nehmen, sondern auch aus dem Gang und den inneren Be-
wegungen der empirischen Naturwissenschaften, denen selbst als
menschlichen Werken, wenn auch unbewusst^ der philosophische
Dio philosophische (jeselischafl zu Berlin: etc. 9
Gedanke zu Grunde liegt. Es ist um so wichtiger, die Naturwis-
senschaften selbst hierbei mitreden zu lassen , als sie grosse Grund-
lagen für die philosophische Bildung von jeher enthalten haben
und immerfort enthalten , so dass man von einer Seite sagen
könnte, dass die menschliche Geistesbildung durch die Naturbe--
trachtungen erst recht zum Bewusstsein ihrer selbst gekommen
wäre. Vielleicht ist die Naturphilosophie die Mutter der Philosophie
überhaiq)t. Der Naturmensch hat eher über die Welt, als über sich
selbst zu denken Veranlassung; er ist von dem Weltgedanken erst
wieder in sieb zurückgetriebon worden. Die alten Philosopbieen
waren wesentlich Naturphilosophieen; man darf sagen, dass die
Naturwirkungen das erste Vorbild und der Massstab des Ideengan-
ges gewesen sind, in dem man die Begebenheiten der Aussen weit,
die Naturereignisse hat erklären wollen.^ Die Kosmogonieen , die
orientalische Emanationslehre, die griechische Elementenlehre in
allen ihren Ramifikationen als Zahlenlehre, Atomistik u. s. w. sind
blosse Naturphilosophieen. Wie der bewusste Geist des Kindes
aus seinem Körper hervorwächst, so sind die Philosophien aus den
Naturphilosophien hervorgewachsen. Sind wir jetzt auch aus die-*
sem antiken Naturzustand in Betreff der Philosophie des Geistes
hinaus; so bleibt er in Betreff der Naturphilosophie noch allgegen-
wärtig. Der naturphilosophische Gedanke kommt zuerst in An-
schauungen, Empfindungen, Gefühlen, Bildern zum Vorschein, die
sich dann zur bewussten Einsicht ausbilden.
Ich wünschte durch diese Betrachtung zu veranschaulichen, dass
dem naturphilosophischen Gedanken immer die Natur selbst zu
Grunde liegen muss und dass wir allein von der Philosophie des
Geistes aus mit der Naturphilosophie nicht fertig werden können.
Es sind die verschiedenen Naturanschauungen, die den verschie-
denen Naturphilosophien zu Grunde liegen, und die Naturphilo-
sophien sind bewusst oder unbewusst von der Art dieser Natur-
enschauungen abhängig und bestimmt, wie mannigfaltig auch sonst
ihre allgemeine, geistesphilosophische (logische) Entwickelungen
sein mögen. Hier tritt uns nun die Verschiedenheit der antiken
und der modernen Weltanschauung entgegen.
Die antike Weltanschauung ist kosmologisch , in unserer
Ausdrucksweise anorganisch. Man hat die Welt zuerst als grosses
Ganze aufgefasst, ehe man zur Erkenntniss ihrer inneren Gliede-
^Q Die philosophUohd Ge«e]lMhaft £u Eerlitt:
rang gekommen ist. Darin hat die griechische Elementenlehre
und Weltfieelenlehre, die aristotelische Entelechienlehre, die alte
Metamorphosenlehre, die orientalische Emanationslehre ihren Grund.
Man erkannte nur Ein grosses Leben in der Natur, das von Einem
und demselben Prinzip ausgehend, vorgestellt wurde. Damit war
die Idee einer absoluten Abhängi^eit alles Besonderen und In-
dividuellen von dem Ganzen verbunden, und gleiche Kräfte wur-
den als die Ursache alles Lebens in der Natur angesehen. So
erklärte man denn nach der griechischen Elementen- und Quali-
tätenlehre die Thätigkeit der feuerspeienden Berge und die Thätig-
keit des menschlichen Organismus aus der gleichen Ursache der
vier Elemente und deren Qualitäten von feucht, trocken, kalt und
warm: alle Wirkungen sollten das sein, was wir heute physikalisch
und chemisch nennen; was wir Physiologie nennen, war bei den
Alten geologische und kosmologische Doktrin; oi <jpvaiok6yoi
heissen bei Aristoteles die Naturforscher, welche die Ursachen
aller Dinge aus der Qualitätenlehre erklären, wobei der Gegensatz
von Leben und Tod, wenn gleich der Erscheinung nach erkannt,
im Prinzip auf ein und dasselbe zurückgeführt wurde. Die ari-
stotelische Entelechienlehre fasst die Sache nur von der geistigen
Seite auf; sie beruht aber sonst auf demselben Prinzip der Har-
monie alles Lebens in der Natur, wobei alles nach einem allge-
meinen, inneren Zweck in der ganzen Welt zusammenwirke. Ari-
stoteles hat nicht den Unterschied einer organischen und anorga-
nischen Entelechie, sondern es ist eine ganz allgemeine Idealität
des zweckmässig wirkenden Geistes in allen Thätigkeiten der gan-
zen Natur. In diesem Betracht (nämlich in ihrem Prinzip) ist die
aristotelische Entelechienlehre von der platonischen Weltseelenlehre
nicht wesentlich verschieden, der ganze Unterschied beider liegt
darin, dass die platonische Weltseelenlehre mehr eine, wenn nicht
ganz bewusstlose, doch mehr instinktartige Weltanschauung, da-
gegen die aristotelische Entelechienlehre eine philosophisch be**-
vnisste Durchbildung der Weltharmonielehre ist. Im Prinzip ist die
empedokleische Elementenlehre, die platonische Weltseelenlehre,
die aristotelische Entelechienlehre auf Eins und Dasselbe nämlich
auf die kosmologische Naturanschauung hinauslaufend. In dem-
selbenPrinzip hat auch die alte Metamorphosenlehre und die damit
zusammenhängende Seelenwanderungslehre ihren Grund. Diese
zur Philosophie der organischen Natur, von C. H. Schaltz. 4 4
Lehren laufen nämlich darauf hinaus, den Unterschied von Leben
und Tod zu verwischen und in der Harmonie des Weltlebens
aufgehen zu lassen. Da man aber die Erscheinungen von Leben
und Tod einmal nicht Ifingnen konnte, so erklärte man das Sterben
als eine Metamorphose, oder von der geistigen Seite als eine Seelen-
wanderung. Es ist meriswürdig zu sehen, wie in dem Punkt der
Annahme vieler Seelen (so gut bei Pflanzen und Thieren als beim
Menschen} die Alten auf der Spur des vollendeten Begriffs der
organischen Individualität waren, aber zu diesem Begriff selbst
durch ihre kosmische Harmonienlehre niemals gekommen sind. In
allen diesen naturphilosophischen Lehren spricht sich derselbe all-
gemeine Charakter der antiken Weltanschauung aus. Man darf
sagen, dass die aristotelische Entelechienlehre die Spitze der be-
wussten Ent Wickelung dieser Weltanschauung ist; einer Entwicke-
lung, der die instinktmässige Anschauung des Unterschiedes von
Leben und Tod, gewissermassen als ein organisches Vorbild zu
Grunde gelegen hat, ohne dass jedoch der Begriff von Leben und
Tod naturgemäss darin mit Bewusstsein erfasst worden wäre.
Der Charakter der modernen Weltanschauung ist
der bestimmte Unterschied der organischen und anorganischen
Natur; ein Unterschied, der aber immer noch mehr der Erschei-
nung nach und in der Unmittelbarkeit des Gefühls, als in bewusster
philosophischer Durchbildung vorhanden ist. Man darf sagen, der
Organismus ist zum Vorbild philosophischer Bewegungen gewor-
den, ohne dass man sich dabei von dem wahren naturgemässen
Begriff des Organismus selbst und von seinem dem Anorganischen
entgegengesetzten Prinzip Rechenschaft gegeben hätte. Der mo-
dernen Weltanschauung liegt das empirische Gefühl des grossen
Unterschiedes von organischer und anorganischer Natur im Hinter-
grunde; aber in der merkwürdigen Entwicklung, dass man sich
durch die jetzige theoretische naturwissenschaftliche Behand-
lung, in zwar bewusster, aber irrthümlicher Untersuchung diesen
Unterschied wieder gänzlich zernichtet. Dieser eigenthümliche
Zustand macht das Wesen der naturphilosophischen Bewegung seit
der arabischen , neuplatonischen und paracelsischen Zeit aus. * Man
hat empirisch zum Vorbild die Erscheinungen des organischen
Lebens; aber man reduzirt diese im Begriff wieder auf die alte Welt-
seelcnlehre. Es ist merkwürdig zu sehen, mit welcher Bestimmt-
^2 1^10 philosophische Gesellschaft zu Berlin:
heil jetzt Viele darin die zeitgemässe Aufgabe der Physiologie
£. B. suchen, dass die Gesetze des organischen Lebens auf die
Gesetze der Physik und Chemie (des kosmischen Lebens} zurück«^
geflihrt werden. Diese Naturforscher merken gar nicht , dass sie
dadurch das Leben auf den Tod, wie die Aerzte, die mit solchen
Maximen die Krankheit behandein, das Leben des Kranken auf den
Kirchhof, reduziren; und sie wissen nicht, dass dieses eben dif
antike irrthümliche Aufgabe der Naturwissenschaften gewesen ist.
Durch die wissenschaftliche ewige Seligkeitsldire im Kosmos be-*
gräbt man sich bei lebendigem Leibe.
Die organischen Naturanschauungen im Gegensatz gegen diQ
kosmologischen wurzeln besonders in den Lehren, die man mit
dem allgemeinen Namen des modernen Dynamismus belegen kann.
Dieser selbst hängt mit der orientalischen Emanation*) und der
mittelalterlichen Dämonenlehre zusammen, die sich besonders im
Gegensatz gegen die alte Oualitälenlehre entwickelt hat. Im Dy-
namismus selbst erscheint diese als Kraftlehre, Lebenskraftlehre,
worin die Vorstellung liegt, dass die Lebenskraft von den anor-
ganischen Naturkräften (die chemisch aber nicht dynamisch sind)
absolut verschieden ist und im lebendigen Organismus selbst ihren
Sitz hat. Das antike Prinzip ist nämlich, die Ursache des orga-
nischen Lebens und die Ursache des Weltlebens zu identificiren,
nur Eine Ursache (Elementarqualitäten, Wellseele, Enlelechie) zu
haben, welche die gleiche Ursache des Lebens und des Todes ist,
so dass es keinen Tod gibt. In dem modernen Dynamismus aber
ist dieser Widerspruch zum Vorschein gekommen, dass Eine all-
gemeine Ursache nicht zweien so entgegengesetzten Dingen, wie
Leben und Tod sind, zu Grunde liegen kann. Diesen Widerspruch
hat man praktisch empfunden, theoretisch gefühlt; aber er ist nie-
mals sachgemäss wissenschaftlich aufgelöst worden. Das Bewusst^
sein über diesen Unterschied ist mehr bei der blossen Negation
stehen geblieben, dass das organische Leben nicht ein und das-
•) Die Anwendung der Emanationslehre auf die Physiologie des organischen
Lehens ist zuerst von den arabischen Aerzten, namentlich von Amcenna
in der Schrift: de riiibus cordis et medicinis cordialihus gemacht worden;
einei» Schrift, die bisher von Geschichtsforschern gar nicht benutzt, in ara-
bischer Sprache auch gar nicht gedruckt, sondern nur in einer lateinischen
Uebersetzung von Arnold r. Villanora vorhanden ist.
zur Philosophie der organischen Natur, von C, H. Schultz. f^
selbe Lebensprinzip mit dem Weltleben haben könne, weil sonst
der Gegensatz von Leben und Tod verschwinden müsste. In der
Medizin besonders hat die Aufgabe, das kranke Leben vor dem
Tode zn schützen, zu der praktischen Nolhwendigkeit geführt, den
Dynamismus, im Gegensalz gegen die alte Qualitätenlehre (worauf
sich die Hippokratisch- Galenische Medizin stützt}, festzuhalten und
auszubilden; aber man ist trotz dreihundertjähriger Bemühungen
dabei nicht über die einfache Negation, dass das organische Leben
nicht anorganische (chemische und physikalische) Ursachen habe,
hinausgekommen; und selbst diese Negation hat sich vor dem mo-
dernen Strom der kosmologischen Theorien des organischen Lebens
nicht einmal halten können. Die antike Weltanschauung (sei es
im Sinne der Weltseelenlehre des Plato, oder im Sinne der Ele-
menten- und Owalitätenlehre) hat neben den modernen Theorien
des Dynamismus immer fortgedauert, und der Kampf des Dynamis-
mus mit der Qualitütenlehre hat dem ersteren die freie Ausbildung
unmöglich gemacht. Die grosse Schwierigkeit für den Dynamismus
lag hierbei darin, dass in ihm die blosse Negation, dass die Le-
benskräfte nicht anorganischen Ursprungs sind, aber keine positive
selbstbewusste Theorie des organischen Lebensprozesses, keine Ana-
lyse der Lebenskraft enthalten ist. Die antike kosmologische An-
sicht hingegen hat sich schon im Alterthum in der Oualitätenlehre
zu einer selbstbewussten positiven Prozesslehre gestaltet, die sich
im modernen Sinn in eine chemische Theorie des Lebens (die sidl
als Stoffwechsellehre^ Mischungslehre, organische Chemie darstellt)
metamorphosirt hat. Mit diesen wesentlich immer anorganischen
Theorien hat man, wenn gleich keinesweges befriedigend, aber
doch überhaupt Erklärungen mancher Lebensvorgänge geben
können, die eine Aussicht auf den Begriff des organischen Le-^
bens gewährten, während die negative Lebenskrafllehre auf jedes
Begreifen der Lebenskraft (als ProzessJ von vorn herein verzichtet
und sogar die Lebenskraft als das absolut Unbegreifliche hinstellt, bis
zu welcher Grenze die Forschung nur gehen könnte. Der DynamismüÄ
hat sich auf diese Art selbst den Riegel vor die Thüren seiner Ent-
wickelung geschoben, wodurch er immer mit dem Schleier des My-
stizismus umgeben geblieben ist^ den er seit d^ arabischen und
paracelsischen Zeit, also von Ursprung an,* getragen hat. Die
arabische und paracelsischen Lebenskraftlehre (Archäuslehre)
jl^ Di« philosophische GeselUchaft m Berlin:
ist daher schon rückwärts, selbst in eine Dämonotogie (nach der
man z. B. alle Krankheiten vom Teufel, Behexisein ableitete),
Astrologie und finstere Schwarm^ei umgeschlagen, welche, in
der Medizin besonders, ihre praktische Anwendbarkeit durchaus
verhinderte, wenn man auch die theoretische Richtigkeit des Dy-
namismus zugegeben hat. Die Möglichkeit eines philosophischen
Begreifens des Lebensprozesses ist durch den Dynamismus ausge*
schlössen, der Dynamismus ist so eine ganz hoffnungslose Theorie,
was eben in der Praxis, wo man nach Begriffen handeln soll, am
allerfühlbarsten werden musste. Die Praxis ist daher mit dem Dy*
namismus auch immer in dem grössten Widerspruch geblieben,
und diess enthält den Grund, warum der Dynamismus selbst immer
wieder in die materielle Qualitätenlehre zurückgeschlagen ist, weil
diese eine begreifliche Prozesslehre wenigstens in Aussicht stellt,
so ungenügend sie auch an sich ist, und so vielen Selbsttäuschungen
man dabei ausgesetzt sein mag. Wir haben auf diese Art trotz
allein Dynamismus immer noch chemische (also anorganische) Theo-
rien des organischen Lebens; die antike Naturanschauung hat in
modificirter Weise immer das Uebergewicht , besonders in der
praktischen modernen Wissenschaft. Der Dynamismus ist unfähig
gewesen das zu leisten, was er in Aussicht gestellt hat, und was
auch die theoretische und praktische Forderung der Zeit ist: näm-
lich eine von der alten anorganischen verschiedene, dem Organis-
mus entsprechende Theorie des organischen Lebensprozesses,
eine Dialektik der Lebenskraft, wenn ich so sagen soll, zu geben.
Weil man eine solche Prozesslehre in der Praxis aber nothwendig
braucht, so hat man lieber die unnatürliche antike, anorganische
Prozesslehre behalten, um nicht ganz und gar von einer solchen
en1l>löst zu bleiben.
Diese anorganische Lebensprozesslehre kann aber keinen Augen-
blick ihren Widerspruch mit dem organischen Leben verlättgnen,
weü sie in der That eine Theorie des Todes ist, die man gewalt-
samer Weise auf das organische Leben anwendet. Chemismus und
Organismus verhalten sich zu einander wie Tod und Leben. Wenn
die chemischen Gesetze im Organismus hervortreten; wenn, seine
6t(^e. den chemisohen Yerwandschaften geliorchen; wenn der Kör-
per zu faulen und sich zu zersetzen anfängt, so sirbt er, oder ist
schon todt; und im |[|ißben widerstel^t ^r eben der Fäuküss «nd
zur Philosophi« der orfl^am»ohen Natur, von C« H. Schulte. |5
Zersetzung. Der Arzt, der das Leben erhalten, vom Tode retten
soU, muss es gegen den Chemismus erhalten. Der Arzt ist nicht
der Unsterblichkeit und ewigen Seligkeit in der Harmonie des
Weltlebens wegen, sondern er ist des irdischen Lebens wegen da,
das er von dem Weltseelenleben auPs Bestimmteste unterscheiden
muss. Diess ist die einfachste Anschauung der Sache, zu deren
Erkenntniss man bloss Augen, noch gar keine Theorie braucht.
Wenn man aber nach der alten Anschauung das Leben selbst
chemisch qualitativ erklart , so sieht man hieraus, dass man es aus
dem Tode erklärt oder auf den Tod zurückführt, was in der
that weder einem concreten natorphilosophischen Begriff, noch
der einfachsten praktischen Lebenserfahrung entspricht.
Auf dem theoretischen Gebiet haben sich hier allerhand Aus-
wege gefunden, die organischen Anschauungen mit den anorgani-
schen Theorien so zu verschmelzen, dass die absoluten Wider*
4sprüche beider nicht bemerkt worden sind. Der erste und allge-
jtteinste dieser Auswege ist seit Paracelsus im Gebrauch. Er be«
steht darin, dass man eine allgemeine organische Naturan-
schauung als das Vorbild nimmt, nach welchem man alle Natur-
erscheinungen, also auch die anorganischen, betrachtet. Auf
diese Art verglichen die Alchymisten und Paracelsus den ganzen
chemischen Prozess, (die Gährung, Fäubiiss, die Metalfareduktion,
die Verkalkung u. s. w.) mit der organischen Zeugung, und sagten
so, dass alle chemischen Produkte Wirkung einer orga-
nischen Entwickelung wären. Paracelsus hat dieses alchy-
mistische Verfahren bis ins Wunderbare ausgebildet, und diess ist
es eben, was ihn und seine Leser durch Unbegreiflichkeit in ewiger
Verwirrung gehalten hat. In dem Buch: de. generoHone verum
pahiralium spricht er von einer Zeugung, einem Wachsthum,
einer Veredlung, Transmutation der Metalle, (worauf eben die
Geldmacherschw^rmerei beruht} selbst von einem Leben und Sterben
der Metalle^ ganz nadi Analogie des pflanzlichen und thierischen
Wacfasälums und Lebens.- Paracelsus hält nun in feinem ganzen
dynamischen, archaischen Prinzip sonst den .Gegensatz von Leben
und T.od> von . Orgsoiisvaus (MikrokQ^us^-und Mfi^k^okosiinis, «Is
ieinen absolute» Usüer^phied fc^t; 9^, pir. w^te nicht, dass er
^ei. Erklärung. 4er .anorgflenisphß]»,'QhePV9cbeii Prozesse mis orga^-
nischea Analogie (Vorbildern} in^eniiiunrigekehrteri Irrthum der
«Ig Die philosophiflche Gesellschaft zu Berlin:
Alten verfiel, die alles Organische nach anorganischen Vorbildeni
erklärten, un4 dass er hier wider Willen dennoch Leben und
Tod Mdeder indentificirte und den eigenthümlichen Charakter des
organischen Lebens Preis gab. Selbst der grosse Denker Hegel
hat sich dadurdi in seiner Naturphilosophie irre leiten lassen, in-^
dem er die Erde einen Organismus nennt und als Organismus be^
trachtet, wie Plato sagte, dass die Welt ein grosses Thier sei.
In der Philosophie des Absoluten mögen solche abstracte Ana-
logien wohl hingehen, aber in einer concreten Naturphilosophie
und besonders in der Philosophie der organischen Natur erscheinen
sie YcMlig naturwidrig, weil man dabei Leben und Tod niemals
unterscheiden kann , und ohne diesen Unterschied eme wahre Phy-^
Biologie des organischen Lebens gar nicht bestehen kann.
Man darf hiernach sagen, dass die Wahrheiten des philo«^
sophischen Instinkts im Dynamismus durch die antiken Theorien
vorzüglich in der wissenschaftlichen Medicin immer wieder zer-
nichtet wofden sind, wesshalb es unmöglich war den wahren ob-
jectiven Unterschied von Leben und Tod sowie den concreten
unterscheidenden Charakter des organtschen Lebens in philosophi-
schen Begriffen zu fassen. Wenn diess nun auch ahnlich in der
Naturphilosophie geschehen ist, so hat sich doch der philosophische
Cleist des Lebens dadurch nicht irre machen lassen und besonders
für die praktische Gedankenthäligkeit, wenn auch nur unbewusst,
sich organischer Vorbilder bedient, um darnach vernünftige Werke
zu organisiren. Es ist richtig, dass hier nicht entwickelte Begriffe
des organischen, sondern einfache Naturanschaunngen aus den
Erscheinungen des organischen Lebens zu Grunde liegen; aber
dass man diesen Anschauungen immer allgemeiner und immer un-
widerstehlicher nachstrebt, ist ein tiefer liegender Ausdruck der
Richtung des philosophischen Zeitgeistes überhaupt. Die Erschei-
nungen des organischen Lebens: die Zeugung, die KeimMldung,
das Wachsthum und die Entwickelung des Keims und Saamei»r,
das Hervorgehen einer Mannigfaltigkeit von Theilen (Organen) aus
dem Keim, die geordnete Zusammensetzung des Cransen u. s. w*
sind Dinge, die dem organischen Naturieben ganz fremd, da-
gegen der Gl^dankenentwickhmg entsprechender iänd. ibm will
daher jetzt Alles in Leben und WfssenschAft orgaiäsiren, den Staat;
die Kirche, das Gesetz, dte SchuUn u.s. w.; man sagt nicht, dass
zur Philosophie der orgatii^cheii Natur, von C. H. Schuhs. . f^
man so etwas astronotnisiren, geologisirenf niechanisiren, physika-
iisiren wolle, weil man den Widerspruch des anorganischen Pro-
zesses gegen das Lebendige und Gedankenhafte, wenn man ihn
gleich nicht in deutlich bewussten Begriffen erkennt, doch un-
widerstehlich empfindet. Die Zeit klebt also, wenn gleich be«
wusstlos, an dem Dynamismus, indem sie die Vorbilder für ihre
Geistesentwickelung aus der organischen Natur entlehnt; es ist in
der Natur der modernen Weltanschauung begründet, dass man
den organischen Begriffen nachstrebt, auch wenn man sie noch
nicht hat, oder nicht in hewusster Weise hat. Es ist nun aber
die Aufgabe der Zeit^ dasjenige zum freien Bewusstsein
zu bringen, wonach man unbewusst und instinktmäs-*
»ig strebt. Es ist die Aufgabe der Zeit, die unbegrif«
fenen organischen Naturanschauungen, die Ahnung
des organischen Begriffs, in bewusster Weise durchs
zubilden.
Zum Begreifen der Natur gehört ausser dem Object der Natur
der begreifende Geist, der sich seine Naturanschauung als Geistes-'
nahrufig assimiliren soll Der empirische Naturinhalt muss ver-*
geistigt weirden^ wie man sich umgekehrt Gedanken versinnlicht^
um sie anschaulich zu machen. Hier ist nun der Geist in seiner
Operation des Erkennens in der Naturphilosophie uns entgegen-
tretend« Alles wai^ der' Mensch thut^ thut er als vernünftiger
Geist, und so ist auch seine Naturauffassung nicht ohne Einwirkung
des Geistes auf die Naturobjecte möglich. Man denkt über die
Natur; man bringt seine Gedanken mit^ ehe man die Natur be-
griffen, den Naturgeist erkannt hat. Der Gedanke ist schon in
seinen Formen, und die Anwendung dieser Formen muss zuerst
zur Sprache kommen. Die philosophischen Gedankenformen sind
das was man seit Aristoteles die Kategorien nennt. Insofern sie
sich in der Sprache ausdrücken, sind die Kategorien, was man in
der Naturgeschichte Terminologie nennt, die diagnostischen Merk-
male des Inhalts. Aristoteles hat die von ihm aufgestellten Kate*
Jahrb. fQr ipeculat. Philo*. I. 9. 2
4 g Die plulüHophiscIie Gesellschaft lu Berlio:
^lien von dem Oedankeninhidt streng ualerschieden, und sie als
eine Art von philosophischem Handwerkszeug betrachtet, mittelst
dessen man 4urch den dialektischen Mechanismus die objectiven
Wahrheiten und so auch die Wahrheiten der Natur erkennen
könne. Die Kategorien bildeten hiernach einen künstlichen Rahmen,
kl dessen Fächern ^er Inhalt des Wissens aufgeschichtet werden
sollte. In dieser Weise sind die Aristotelischen Katogorien nicht
bloss von den scholastischen Philosophen gebraucht , sondern in
der Logik überhaupt bis auf Kant angewendet , der den Ge--
brauch der Kategorien auf die Erfahrungsgcgenstäode, also beson-
ders auf die Naturkunde > eingeschränkt wissen wollte, da die Ver-.
nunftgegenstände nach ihm nicht durch Kategorien erkennbar sein
sollten. Kant fasste^ wie Aristoteles selbst, die Kategorien als
empirisdie Thatsachen, gewissermassen als Natursystem der Ge--
dankenformen auf, das historisch hinstellt, nicht wissenschaftlich
abgeleitet war. Mit Fichte und Hegel trat die Wendung ein, dass
Fichte den Ursprung der Kategorien in den Gedanken selbst zeigte,
und Hegel die Kategorien, als Formen in denen sich der Gedanke
ausdrückt, mit dem Gedankeninhalt gänzlich identlficirt, so dass
er den Gedankeninhalt und die Kategorien gar nicht unterscheidet.
Ueberall aber sind die Kategorien in der Logik mit den Urtheilen,
d. i. mit den Beziehungen der Kategorien auf die Objecte und die
Verhältnisse des Allgemeinen und Besonderen in den Objecten in
Zusammenhang gebracht, vorzüglich bei Kant, der daher von
kategorischen Urtheilen, kategorischem In^)erativ spricht, während
in der That die Kategorien bkisse Gedankenmerkmale (Quantität,
Qualität, Zeit, Art u. s. w.) sind, von denen erst die Bewegung
der Urtheiie ausgeht, ohne dass Urtbeil und Kategorie dasselbe
wäre. Bei Hegel, deir Gedankeninhalt und Kategorien ganz iden-
tlficirt, tritt dieser Widerspruch weniger heraus, andererseits aber
erscheinen bei ihm, vorzüglich in der Logik, die Gedankenbestim-
ttiüngen in den strengsten kategorischen Formen, die dann doch
wieder, wennnidit auf dieselbe, doch auf eine ähnliche Weise wie
bei Aristoteles und Kant» auf die philosophische Betrachtung der
Natut- und Geistesobjecte angewendet werden. Ich setze hier
keinen Zweifel darin, dass dieses Verfahren des grossen Meisters
in den Gegenständen der Philosophie des Geistes ganz richtig ist
oder doch sein kann, weil darin das denkende Subject mit dem
zur Philosophie der organischen Natnr, von C. H. Schuhs. f^
Object identisch wird, der Geist sich also in- seiften, eigenen For-
men erfasst. Die Kategorie des subjectiven Geistes können hier
ittil dem Inhalt des objetiven Geistes wirklich identijcb werden.
Naturgeist aber und logischer Geist, sind verschiedene Geister,
die im Concreten gar nich^ identisch sind.
In der Naturphilosophie kann jenes Verfahren wohl noch spe-
cidativ- logisch sein; aber es ist gewiss nicht naturgemäss, und
am wenigsten in der Philosophie der organischen Katur geeignet,
uns zum wahren B^friff des organischen Lebens und zur Kennt-
niss des Unterschiedes ¥on- Leben und Tod zu verhelfen. Die Na-
turphilosophie ist zwar einerseits ein Vergeistigen- der Natur zu
Gedanken durch den Prozess der Asinmilation, andererseits; aber
muss die Idee der Natur auch in ihren eigenen Bestimmungen er«
fasst (assimilirt) werden , wenn ViTthrheit in der philosophischen
NaCurkenntniss^ sein soll. Vielleicht hat sich Hegel zu sehr mit
der allgemeinen Wriirheit, dass der Nalnir überhaupt eine Idee
zu Grunde Begt und das» man sie als Idee auffassen müsse ^ be-
gnügt, und in diesem Betracht eine absolute Identität des logisdien
trod des Naturgeistes vorausgesetzt, während diese Identität nur
eine ganz allgemeine ist, im Besonderen aber die EigenthümKch-
keiten der Naturideen so gross sind, dass es unmöglich ist sie in
id%emeinen logische» Kategorien zu fassen. Bei Hegel Ssti die
Naturphilosophie in der Logik vorgebildet, gewissermassen eine
Evolution aus der Logik, allein die kategorische (logische) Be-
handlung der Natinphilosophie gibt höchstens nur das, was man
sonst künstliche Systeme in <ler Natur nennt; nämlich
eine Klassification des Naturinhalts nach der Natur
fremden Gedankenbestimmungen. Hier ^vird es am mei-
sten klar, dass in der That Kategorien und Gedankeninhalt ganz
verschieden sein können und wirklich versdiieden sind, wie auch
Aristoteles annahm, der sieh iä>erhaupt mehr mit der Anwendung
der Kategorien (Gedankenbestimmungen) auf die von ihm beob-
achteten Naturgegenstände beschäftigte. Die Verschiedenheit liegt
wesentlich darin, dass überhaupt die logischen Kategorien abstracte
AHgemeinheften sind, die den concreten Inhalt nicht fassen, und
dass gerade in dem conoreten Inhalt die Naturbestimmungen am mei-
sten von den Verstandesbestimmungen abweichen. Der kategorischen
Betrachtungsweise der Natur fehlt daher der innere organische
2*
20 Di« philosophisch« ^eseUschaft eu Berlin:
Züsammeiihang, das was wir daa Nalürliche in der Naturkunde
nennen^ Wenn man die Pflanzen nach ihrer Grösse in Bäume,
Siräucher, Kräutar; nach dem Alter in Sommergewächse und au^
dauernde; nach dem Nutzen in Futtergewächse, Nahrungs« und Arznei-»
pflanzen; nach der Behandlung in Gärten- in Kaltbaus- und Warm-
hauspflanzen eintheilt; so ist diess eine durchaus kategorische,
logische d. h< nach Gedankenbestütimungen gemachte Behandlung;
aber es ist nicht naturgemäss-philosophisch. Die Gedanken^-
(Verstandes-} Bestimmungen erscheinen hier in ihrer Anwendui^
auf die Natur ToUkommen willkürlich; sie haben keinen Zusammen-
bang mit der Organisation des Objects; )e logischer man verfährt,
desto unnatürlicher Qiünstiicher) wird man verfahren. Die ge-
dachten Verstandesbestimmungen, die wir so> eben als Beispiele
künstlicher Naturaufiassungen angeführt haben, enthalten allerdings
atigemeine Identitäten mit einzelnen Eigenschaften oder Merkmalen
an der Pflanze, es ist ein Stück aus dem Natürlichea darin; allein
die Natur wird dabei nicht als Ganzes in ihrer concreten, totalen
Idee erijLannt. Die logischen Ideen ersdieinen also in der That
in ihrer Anwendung auf die Natur ate von dem organischen Zu-
sammenhang des Naturinhalts ganz abweichende Kategorien, upd
die allgemeine Identität der Kategorien mit dem Naturgedankenin-
hfllt ist iih Besonderen nicht festzuhalten. In der Voraussetzung
dieser Identität ist Hegel z. B. bei der Anwendung seiner logischen
Kategorien auf die Begriffe von Leben und Organisation wieder in
die antike Weltansicht zurückgefallen, dadurch, dass er den Be-
griff des organischen Lebens auch auf die Erde anwendet und die
Erde einen Organismus nennt. Wie naturwidrig dieses ist, haben
wir oben daran gesehen, dass man nach dieser Ansicht Leben und
Tod nicht unterscheiden kann.
Eine naturgemässe Nattirphilosophie muss uns nicht
künstliche, sondern natürliche Systeme geben; d. h. die
Natur muss darin in ihren eigenen Naturbestimmungen erkannt
werden, in denen eine eigene Art von Allgemeinheit und Noth-
wendigkeit liegt, die gar nicht aus dem logischen Gedanken kommt. Die
logische Nothwendigkeit ist dagegen in der Natur ganz und gar
nicht nothwendig, sondern ganz willküriich und zufällig, (gibt
künstliche Systeme) es ist keine Nothwendigkeit der Prinzipi^,
sondern eine abstract- formelle Nothwendigkeit, die m ganz fal-
lur Philosophie der organischen IVator, von C. H. Schnlta. 21
sehen künstlichen Consequehzen föhrt, wenn man dialektisch damit
weiter geht. Das Weltgranze z. B. muss uns in seiner naturge-
mässen Gliederung erscheinen, wenn es in seinen eigenen Natar^
bestimmungen aufgefasst wird; während es durch die Anwendung
der abstracten Kategorie von Weltsede^ Weltleben, Weltorgani-
sation ii. s. w. in einem identischen Verüiessen aller seiner Theile
vorgestellt wird. Das was natürlich geschieden ist, wird durdi
die küHi^lichen Kategorien widernatürlich verbunden, und was
natürlich zusammengehört, wie z. B. Wurzel, Knollen, Stengel als
identische Anaphytosen der Pflanze, wird widernatürlich getrennt,
indem man diese Anaphytosen als besondere Organe unterscheidet.
Dass die Welt ein grosses Ganze ist, ist zwar richtig; aber eben
als Naturganzes ist sie durch selbstständige TheUe in sich geglie-
dert; es ist ein System von Gliedern, von Individualitäten, die aueh
* in ihrer Besonderheit und Eigenthümlichkeit betrachtet sein wollen.
Gerade in dieser Gliederung liegt die Naturnothwendigkeit. Or-
ganisches und anorganisches Leben in der Natur sind so noth-
wendig verschieden, als der positive und negative Pol einer gal-
vanischen Säule oder der Süd- und Nordpol eines Magneten. Diese
Nothwendigkeit der Gliederung, worin der Gegensatz von Leben
und Tod liegt, muss die Naturphilosophie erkennen, was aber durch
die logischen Kategorien nicht möglich ist, sondern allein durch
Auffassung der Naturbestimmungen in ihrer eigenen Entwickelüng.
Die Nothwendigkeit der Naturbegriffe kommt also durchaus nieht
aus den Kategorien, wie man nach Kant angenommen hat, son-
dern die wahre Nothwendigkeit liegt in der Gliederung der Natur
selbst. Das Studium der naturnothwendigen Gliederung des Kos-
mos hat in unserer Zeit ein weit höheres Interesse, als die äus-
sere Harmonie und Identität von Leben und Tod, in der alle Eigen-
thümliehkeit des Besonderen zu einem identischen, kosmischen
Brei zusammenschmilzt. Die kosmologischen Welteinheitsideen,
die abstracten Vorsteitangen von einem allgemeinen Ineinander-
. wirken aller Kräfte, welche man Jetzt wieder in Gang zu bringen
sucht, gehören den acherontischen Zeiten von Empedoctes, Plato
an, aus denen wir endlich herauszuwachsen streben müssen , um uns
organischen Ideen zuzuwenden. Die Kategorien von Organismus
i und Organisation, die man in diesen kosmologischen Theorien ge-
braucMt) indem msin z. B. vdn dem Organismus ider Erde spricht)
JM2 Die philosopbisebe (le^elUciiafi nu Btrltn;
siad kdae wahrhaft orgaaischen, vielmehr gfanz anorganisehe Kute^
gmten, die man naßh fialadieA Analogien mit 4)rganischen Nnnum
belegt, und widernatürlich und äusserlieh auf fremde Dinge nber<*
trägt; daher denn die philosophische Conseqoenzen«, die üian ms
ihnen 2iebt, entweder zu Obetfläehlicbkeiten oder m imm^ grdiSM-
ser^ Irrthümern führen, wie wirso etwas z.B»iB Steffens'. Anthro-
pologie, in der die Begriffsbestinunuugen des Sf entgehen in ^geologi-
fi^hen Kategorien gesucjbt werden« oder heiSobubert «eben, <ter ^uil
den Kat^orien der Astronomie uad Ph)f$ik den SdUaf . iKid tden
fiomnamb^Iisiniis zu ^fassen denkt«
In Betreff der Anw^iftdiiog lo^schnr Uftheile üaif die fnatüi-
.philoi»Q{fhischen Kategorien ist ;au«si^en, dass ein isoteh aügenrnner
dialektischer .MedMrismu&, wie die BesiiehiOfigen des >AUgmneiiien
zum Besonderen und Euisibelnen^ in d^ .N«tutprezei«s^n freiliirti
ebensogut vorkommt, wie in dem Mechanismus der Geistesoperalionea;
dass aber dieser Mechantsmus das CÜgenthllmlieha^ Individueife der
Nntttrbe^timmu^en weiler rniclit '^erauishebt. Mann ikann nudi den
logischen Bestimmungen v^ Allgemeinheit in der Ifotitr Crattui^n
und Arten festsetzen, rvireil.^cb der allgemdne Mechanismus sol<^r
Beziehungen in der Natnr wie in den Geistesthätigkeftai finctet.
Die so erhaltenen Gattungen und .Arten sind aber keine natiltltobe,
sondern künstliche UntefsAiede. Die Alten untersüihieden Bfianzen^
•gattungen nach dem Ge^oh der Blumen, wedur^th z. B. die
veilcbenartig rieeheaden Slumen aUe in die Gattung Viola kamen:
Vsdor49ta^ inatronati^, ^Iwcoja 4lc. Diese B&mzen isdnd nbar in
äirer OrgaHtsatioa:gän^h verschieden ;^.F^i^ mo^Ofio/t« list^dne
Cmctf^ra^ V» lemQJ9> eine nardsseHdhttiitBhe iPflamse, :beide von
den wahren Vdlchen ;ganz ebwemhend; .solche ^Gattungen ^^d alao
ganz künstlich, obgleich Wgisch richtig nach :einer igegebenen
Kategorie gebildet; 'unlieb ist es mit den UnneisehiBn -Klassen, 'Wio
«udi nur die Verstandesbestimmiingen der SaUenverhältüisse iSU
.Gkunde liegen. Hierbei koAunt freilich die Nothwendi|^it ans
den <Kat«(gerieQ; aber es ist auch eine künstlicbe.Nothwendi^keit,
^64init den ütatto-ideen nichts »i $hun bat. Man nutis also niniit
logriiSichie vGa,ttung>ea, ^Kl^issen.^ «/Ond^rtn nartürliic^h« '>Ga1^
Innigen, Kl«s sien nach Natururthdien «nd ^alorsefalüssen ibitden,
die 'V'irn den logiSialien («och Venstandesfcestimnumgen (gebilddtai}
verschieden aiild. So kann ferner (der itibstraoteiBefriiid^Emsli-
zur Pliiiosopfaie der organischen Nttar, von C. H. Schultz. 23
mfissigkeit in der Logik wie in der Nalor vorlianden sein; aber
daran ist in der cöneret^i NaturkeBntms wenig gelegen, indem es
bei dieser auf die eigontbtfciidiche ooncrele Wirklichkeit der Zweck*
Riüssi^eit der Organisalion besÜHifnter PAmaea oder Thiere an«
kommt. Diese ist also philosophisch aMck erst nach Natnrbestim-
«ungen aufzufassen.
Die wahre Natiurphilos(^hte ist also, die Natur nicht in logi-
schen Kategorien, sondert in ihrer eigenen Natursprache aufau*
fassen, in den Charakteren der Bestiminungen, die sich aus der
Natur selbst immerfort wiederentwiekeln. Die Nothwendigkeit die--
ser Bestim»ungen kommt nicht a«s' den iogiscken Kategorien, son«
tieni aas den eigenen Enlwickohingsgesetzen und aus dem orga**
nisdton ^sammenhang der Glieds in der Natur. Die Nothwen-»
^gkeit der natürlicben naturphilosophischen Begriffe ist also keine
logisehe (die immer abstract und ktnstlicb ist), sondern eine Na-
Iwnoihwendigkeit. Die philosophische Auffassung dieser natur-
nothwencHgeii NatarbestimmaAgen ist es,was i«b die Naturkate-
gorien, sum Unlersehied von den logischen Kategorien, die nur
im Gebiete der Geistesphilosophie Geltung haben, nennen möchte*
•Was Hegel das (Myective in der Naturphilosophie nennt, ist immer
nur der logische Gedanke, insofern er aus dem subjectiven Geist
entwickelt ist, das Objective darin ist nur Sobject-Object; ab-
stracto ObjectivMät; es ist nicht concreto Naturobjectivität; daher
bleibt die Behandlung der Naturphilosophie mit logischen Kate-
gorien immer künstlich, ein Linneisches System der Naturphilosophie.
Darin können dann sehr widernatürlidie und unnatürliche Dinge
vorkommen, indem natürlich Verbundenes getrennt, und natürlich
Geschiedenes verbunden wird. Die Naturkategoden bilden sich aus
tier Entwickdung des organischen Zusammenhanges der Natur-
1(örper, und Alles kommt dabei dm'auf an, diesen organischen Zu-
sammenhang iiaturgemäss aufzufassen, indem man ihn auf seinen
Ursprung in der Zeugung und Entwid^elung bezieht. Diess ist nun
aber eben der schwierige Punkt, an dem die empirischen Natur-
wissenschaften noch ebensosehr wie die Naturphilosophie leiden,
und wodurch ^dle Erreichung eines wahrhaft natürlichen System«
der Natiureiche erschwert wird, was in den Reichen der organi-
«cben Natnr am Fühlbarsten Wird. Man sfrebt 2?war jetzt überaM
nach natürlfchi'n Syi9temen, aber sie liegen noch mehr in dunklen
24 D'^ philosopliwcbe 6esellä4;liiifi xu Berlin {
Ahnungen, als in klaren Begriffen vor uns, weil man sieh voa
den antiken, zum Theil ganz scholastischen Kategorien der kür^W
lichen Systematik nicht los machen kann, in denen das empirische
Material einmal gefasst ist. Man rennt mit der alten logiscfaea
CQr\ße{faßn^ 9|les Natürliche um. So steckt dann das natürliche
System, z. B. das Kptyledonarsystem in der Botanik, voller künst-r
licher Elemente, die bloss mit etwas Ns^^rlicbem durchmengt sind.
Die alten Griechen und Römer hatten eine durchaus künstlichOt
nach logischen und anorganischen Kategorien gebildete Systraaaiik
der Natur; sie fühlten nicht das Bedürfniss Dnd hfttten nicht die
geringste Almung einer naturgemibssen (naturyernünjä^en} Orga-«-
nisation ihrer Naturkenntnisse, und was an naturgemässen Unter^
scheidungen bei ihnen vorkommt, wie z. B; die Unterscheidung
der Mollusken und blutlosen Thiere bei Aristoteles, das liegt yiel*
mehr als diinkles Räthsel da, und ist aus einzelnen äusseren Merk-
malen mehr zuTällig hingestellt, als noth wendig erkannt; an eine
natürliche Eintheilung nach Naturbestimmungen war nicht m den-e
kai. Aristoteles wftr ohnehin gewohnt. Alles nach Yerstandesbe^
Stimmungjen (Kategorien} zu betrs^chten, und diese Weise ist von
Dioskorides 'und Piinius nachgeahmt. Die moderne natürliche Sy--
stematik hat sich mehr durch praktisches Gefühl, Instinkt und Takt,
als aus philosophischer Einsicht entwickelt; das Philoisophiscfae,
nämlich die Anwendung der logischen Kategorien, hat die Ent-f
Wickelung dieses praktischen Gefühls mehr aufgehalten als geför-«
dert, und zwar durch den Widerspruch der logischen Kategorien
mit dem Ziisammenhang des Naturinhaltes, Die logische, katego-^
rische Systematisirung widerspricht besonders der natürlichen Ver-»
wandtschaft, die in den künstlichen, logischen Systemen ganz auf^
geopfert werden muss, während sie den Grundpfeiler des natürw-
liehen Systems bildet. In den natürlichen Systemen selbst ist der
Begriff der natürlichen Verwandtschaft im Sinne der alten logische«
Kateororien (Eintheilungen) ganz irrig aufgefas^t worden, oder
viehnebr es is^ ein soldier Begriff" £fO gut als gar nicht vorhanden,
indem man, was verwandt und nicht verwandt ist, naekr n«ch Takt
und Gutdünken, nach einem praktischen Gefühl, als nach bewussteiji
Grundsät;Ben unterscheidet. Nach der natürli(Aen Verwandtschaft
müssen in einem nutürlichen System die Abtheilungen, diß Klassen,
Familien, Gattungen, Arten gebildet werden,. Wie verschiedener
znr Philosophie der organischen Ufaiur, von C. H. Schultz. 25
Ansicht man aber hierüber ist, beweist der Umstand, dass Büffon
nur natürliche Arten gelten lassen wollte, alle anderen Abtheil-
ungen Tür kün^lich hielt; Tournefort erkannte nur Gattungen;
Adanson nur Familien als natürliche Abtheilungen im Pflanzenreich
an, und was man natürliches Pflanzensystem nennt, ist bis auf die
neueste Zeit eine Darstellung der natürlichen Familien nach Adan«-
son geblieben, wobei alle anderen Abtheilungen künstlich, nach
der Linneiscben Terminologfe gebildet, geblieben sind. Adanson
selbst unterschied die Familien durchaus durch künstliche Mittel.
Er nahm nämlich als Merkmale die Form und Uigenschaften von
allen Theilen der Pflanze. Diejenigen Fflanzen, welche in der
grössten Zahl dieser Merkmale übereinstimmten, sollten zu einer
Familie gehören. Die Merkmale wurden aber nach Verstandesb&p
jBtimmungen gewählt und gezählt, und es ist keine Andeutu&g
über den organischen Zusammenhang der versdiiedenen Merkmale
gegeben, aus dem allein eine natürliche Charakteristik hätte her«-
vorgehen können, und die Festsetzung der Zahl der Merkmale,
.die zur ßild^ng einer Familie gehört, blieb ganz willkürlich. Adanson
bat (tie natürlichen Verwandtschaften durch künstliche Merkmale ge«*-
sucht. lussieu bat die Reihen der Adanson'schen Familien der Pflanzen,
nach Ray's Vorgange, in Klassen nach der Zahl der Kotyledonen»
ebenfalls künstlich, gebracht, und es fehlte durchaus an natürlichen
Regeln für eine natürliche Organisirung aller Abtheilungen des
Pflanzenreichs. Man behilft sich immer mit logischen Regeln, d. h«
man gruppirt nach Verstandesbestimmungen, wo »an von dem
praktischen Takt und dem Gutdünken verlassen ) wird. Dieser
Zustand macht das Studium der Naturwissenschaften, und besonders
der Naturgeschichte, trocken und ermüdend, weil es aller Einsidit
in den organischen Zusammenhang und die vernünftige Gliederung
des Ganzen ermangelt und zu einer gedankenlosen Registrirung
nach logischen Kategorien wird, die auf den organischen Natur«
inhalt nicht passen. Jeder fühlt diesen Widerspruch wenn er auch
unaufgeklärt bleibt, und darin liegt die wissenschaftliche
Gleichgültigkeit gegen das Studium der Naturgeschichte,
das allein ein empirisches, ästhetisches Inteiresse be-
hält, und nur dadurch noch lebendig erhalten wird.
In dem Betrieb der Naturgeschichte auf Schüler liegt unt^
solchen Umständen kein so gutes Bildangsmittel flir den Jugend-
2Q Di« philosopbiselie Gesellscliaft zu Berlin:
liehen Geist, als man sich vorgestellt hat, und als man von einer
philosophisch natürlichen Systematik aUa'dings zu erwarten später
berechtigt sein wird. In einer künstlichen Terminologie und Sy-^
stematik findet sich der Geist niemals frei, weil ihm Ursache und
Wirkung, Grund urd Zusammenhang nicht deutlieh werden, weil
keine vernünftige Flüssigkeit in den Gegenständen ist und die
blosse Formbeschreibung eine erdrüdcende Last für das medianisehe
Gedächtniss wird. Die künstliche Naturgesdiichte ist kein Gegen-
stand, Ml dem man den jugendlichen Geist bilden kdnnte, weil
der Naturgeist darin nicht erfasst, kein vernünftiger Zusammenhang
darfai ist. An unvernünftigen Dingen aber kann man einen ver-
nünftigen Geist nicht bilden. Wenn die Naturgeschichte ein Bit-
dungsmitlel für den Geist werden soll, so muss erst der Grund
«iner vernünftigen iiatürlidien Morphologie und Systematik hinein-
kommen. Der Grund, weitöhalb die Sprachen sidi als ein vorzüg-
liches BiMungsmittel fi^ den Geist bewährt haben, liegt in nichts
«Anderem, als weil vernünftige Gedanken Inder Sprache ausgedrückt
«iitd^ in denen der Geist sich widerfindet und nach deren Eben^
MMem sich sett»st entwickeln kann. Eine formalistische oder scho-
lastisdie Natui^schichte kann nicht zum Muster für die Geistes^
MMung werden. Zwar kann sieh auch an einer ästhetischen Na-
turanschauung efai empfängliches Gemüth erfreuen; aber selbst diese
Freude kann durch einen theoretischen Formalismus im naturge-
schichtlichai UnterricM verdorben werden. Die allgemeine mensoh-
ikÄe Bädung wirft sich von den Sprachstudien auf historische Stu-
dien, wea in den Thaten des menschüehen Geistes Vernunft zu
finden ist, an der man sidi bilden kann. Die Naturwissenschaften
sind in diesem Betracht ganz verlassen; das allgemein wissen-
sehaftliche Interesse daran ist so gering, dass die Naturwissen-
sdiaften für die allgemein menschliche Bildung gar nichl in An-
sGhhg kommen und sich höchstens auf eine ästhetische Liebiiabe'ei
beschränken. Man hat den Grund hiervon ganz mit Unrecht in
der Ausdehnung des empirischen Materials der Naturgeschichte ge^
sucht* Wer dieses Matertol geneuer kennt, wii*dmir zugeben, dass
das linguistäsdhe und historische Material mindestens ebenso gross
und zum Theil schwieriger zugänglich ist, als das naturhistorische
Material, und in der That kann man auch aus anderen Gründen
ersehen, dass die Grösse des eiiipi fischen Materials den Grund der
zur Fhilo8<»|>bie 4er orgAnisQhieii JKflMir , y<mi C. U. Schultz. 27
fiflgemconeB Vemachläfisigung 4er K^tuaratudien nickt enüäk. die-
sear Grund liegft vkdmebr j» der abm^bneokemten JdbalftsiMßh künst^
liehen Gestalt der Wissenschaft, darin, dass keine Vernunft in den
Methoden durcbieuditet ; in der ^itnst}i6beB ^ehandliuig dos Inhalts
nach abgelebten tKategocien, so daas von einem Geiat dar Natur^
Wissenschaften kam» die Reäe sein kann, aind diese vielmehr aks
jein Aggregat em^rischer Massen ohne nalorverjiüfifiB^e.Gliederang
erscheint, iin wahdie keine fveie Einsteht imöglioh 8st, wo mmi -sich
«oslatt -einer £in$iGlit 'viidltneiu' norii den Beums der Unwissenheit
lühjrt und die Grösse der WissenacbA .daaiin jnoht, dass man etq^a
von ^dem »oüganischen Leben fiiiciEts "wissen ikönne. Der Cbrund,
•wesshalb man also tucht aar kein allgeineRies Interea» an den
Ifaturstudien findet^ sondern isognr das kiUresse daran ^verliert
und sksh tdacvcm .abwendet^ liegt .äBein darin, dass läe üsAurwiasen«-
.jsdiaft imch keine vernünftige Ceetait lial^ 4b$s sriel mnb^iSenes
Wunder., :aber wienig geistige Eansidit darin iiegt^ «diis Material
-nu^far ein ikünstlii^eiSi Aggregat naish der (Natm* fremden logischen
4iategoiien isi, die onit dem wahren ^raftttrlidhen Zusammenhang der
:Naturprozease in Widersprach «i^heti. Oieser ISui^nd ist um ao
Hnerkwtkrdiger, «ris man 'die allgememe "verifütlftige Entelec^ie in
der Natur 'sdion <mi AKeittbom «vor A^E^en tcrtte, und -die Betrach-
-tung demselben ctt engten ^Grundlage der' Fhiloßopfhie gewerden
-ist, während j^zt ^dle^ser philosophisdhe Zunder kein geistiges
F^uer oiehr fongen^will. Oie Ursadre hiervon liegt nHem in dem
Widenspnioh der «ntiken nnd modernen Naturensdiauung, darin,
daiss die «rtt^e Natupansehanang, wenn auch eine sfbstracte, doch
»eine Idee der Uatur in der Wditseelerilehre hatte, die tnodeme
Natnransehftuung afber bei dem Eingehen in alle impirischen Be-
-sondei'heilen und Individualitäten der Natur diese allgemeine Idee
Todoren hat oder liat aufgeben müssen , während es an einer con-
isret gegliederten :NÄturidee aller dieser Besonderheiten, nament-
'lich an 'Orgmischen Naturideen, an den wahren organisirten Be-
' griffen "rem orgatiteöhen L^en im ^Gegensatz gegen die todte Natur
fehlt; Bs feMt «a.ftnderen Worten eine nafturgemässe "GRederung
•der 'n*tur{<hflose]^fe(*en Meen in flirer natürlichen Durchbildung
*durjch »alle »Bedonderheiten der Nsrturgesdhichte. Wienn die Natur-
geschichte BildtingiÄnittel weHien solP, so muss * sie erst in ver-^
nünftigen Nalurbestinimungen dargestellt werden. Eine bessere
2S Die philoiophische GeseUscbaft zu Berlin:
Einsichl in das Wesen der natürlichen Verwandtschaft und eine
auf Natmrbestimmungen organisirte Systematik müssen hier voraus-
gehen.
Das Wesen der natürlichen Verwandtschaft kann man nur aus
der Physiologie und organischen Entwickelungsgeschichte erkennen
lernen, aus den Bildungsgesetzen derjenigen Organe, durch deren
Formen und Eigenschaften die Verwandtschaft entsteht. Im prak-
tischen Gefühl beurtheilt man die Verwandtschaften der Pflanzen
und Thiere nach ihren äusseren Formähnlichkeiten. Diess reicht
aber in der Wissenschaft nicht aus, weil sich bei äusserer Form-
ähnlidikeit eine gänzliche Verschiedenheit der inneren Organisation
finden kann, die wahre Verwandtschaft aber auf der Gesammtcnr-
ganisation beruhen muss. Die äusseren Formen der Theile, z. B.
an einer Pflanze: der Blätter, Blumen, sind in ihrer Entwickelung
durch die innere Organisation bestimmt und nur aus der inneren
Organisation in ihrer Entstehung begreiflich, und so müssen wir
mit der Verwandtschaftstheorie viel tiefer steigen und die Ver-
wandtschaft auf den Ursprung der Formen beziehe. Im Allge-
meinen ist das verwandt, was eine gemeinsame Abstammung hat;
die äusseren Formen sind also verwandt, insofern sie aus ähn-
lichen Keimen oder aus ähnlicher innerer Organisation entsprungen
sind. Wie die ganze Pflanze aus dem Saamen, so kann sich über-
haupt eine Mannigfaltigkeit äusserer Formen aus dem Keim der in-
neren Organisation an einzelnen Thalen entvjfckeln. Alfe Theile,
die einen gemeinsamen Ursprung haben, behalten untereinander
in ihrer vollendeten Ausbildung einen organischen Zusammenhang;
dieser organische Zusammenhang der äusseren Formen ist einer
der wichtigsten Punkte in den natürlichen Systemen, der Central-
punkt, worauf die ganze Mannigfaltigkeit der Gestalten wieder be-
zogen und woraus sie ihrer Entstehung gemäss erklärt werden
muss. Die innere Organisation, darf man sagen, ist die Ursache
(das Entwickelungsprinzip) der äusseren Formen, und in diesen
Beziehungen liegt der vernünftige Zusammenhang, den
man in einem wahrhaft natürlichen System suchte aqs
welchem sich die Naturkategorien bilden müssen, und wodurch
ferner das Natursystem selbst zum vernünftigen Begriff und zum
passenden Bildungsmittel flir den Geist werden bann.
lur Philosoph» der organifchen IfaUir, von C. ü SchoHi. 20
Die logischen Kategorien sind an sich fertige starre Formeni
die sich überall in demselben abgeschlossenen Mechanismus be-
wegen, so wie man sie auf die Objecto der Erkenntniss in der
Natur anwendet. Man klassificirt logisch den Inhalt nach Bestim-
mungen der Quantität, Qualität, Modalität, nach Materie, Kraft,,
Energie, Ruhe und Bewegung u. s. w. Man zerlegt auf diese
Weise durch solche Gedankenbestimmungen das Object in hundert
zerfetzte Stücke, denen aber die Hauptsache, nämlich der orga-
nische Zusammenhang der Dinge in sich selbst fehlt. Dieses Ver-
fahren ist eine logische Anatomie, der das objective Lebensprinzip
fehlt. Die logischen Bestimmungen finden sich zwar ab-
stract in den Stücken der Natur wieder; aber die Natur
ist in der logischen Zerstückelung nicht wieder zu fin-
den. Die logisch -kategoriscdbe Naturbetrachtung schliesst sich in
ihren eigenen Kreisen ab; aber die Naturkenntniss schreitet in
neuen Ent Wickelungen immer weiter; die Erkenntniss der Natur
ist kein fertiges Gebäude, sondern eine immer fortwachsende und
sich verjüngende Pflanze. Dem gemäss muss es auch eine fort-
schreitende Generation von Naturkategorien geben, die von den
logischen Formen um so mehr abweichen werden, als die Ent-
wickelung der Natur in's Besondere sich ausbreitet. Einige haben
zwar, wie selbst Hegel, die besonderen Formen der Natyrent-
wickelung für zufallig und untergeordnet, des philosophischen Ge-
dankens unwürdig erklärt. Man glaubt, die Natur falle im Be-'
sonderen in einzelne Zufälligkeiten ohne Gesetz, ohne Regel und
Ordnung auseinander. Hegel spricht immer mit Verachtung von
den Käferarten, Mollusken, Geschmeis, weil diese dem philosophi-
schen Gedanken unangemessen seien. Hierin liegt freilich das
Richtige, dass die Naturbestimmungen der besonderen Gliederung
in der Natur mit den logischen Kategorien im Widerspruch sind.
Aber daraus darf man nicht folgern, dass die logischen Gedanken-
formen hier massgebend nothwendig, die Natur aber zufällig sei;
vielmehr ist daraus zu folgern, dass die logischen Formen zufällig
(^künstlich} in Bezug auf die Natur, die Natur selbst aber in ihrer
eigenen, unerkannten Natumothwendigkeit ist. Die logischen Ka-
tegorien sind dem Naturinhalt .unangemessen, weil Natursystem und
logisches Kategoriensystem wirklich nicht identisch, sondern ver-
schieden sind. Das sogenannte logische Construüren der Natur ist
30 Ke philosophische Gesellschaft in Berlin:
nicht das orgÄAiöcfee Schselbstconsfruiren der Nafur, sondern ver-
hMtt ä'dn 2(1' demselben wie Kufistsystem zmt Natufsystem. Durish
derr WidefSpfUicb des logischen Cbnstniirens mit dem tauf rfer
Natarerschehningen ist die Naturphilosophie bei den Naturforschern
in Hiscr^it ^onnnen, nntf dies» hat letztere m iem entgegen-
gesetzte« Extrem geffthrt, alle Natarphitosophie ab' Hirngespinst
2u yerwerfefr und sich somit gedlankenloss der rohen, wiBfcärliehen
und Äufä^ftigen Empirie in die Arme zu werfen. Ift diesen ent-
gegengesetzten Richtungen ist es von grosser Wichtigkeit, den
reditem Weg zu ünden, auf dem die Philosophie m den Natur-
studien ihre Geltung behält, und die rdbe Empirie ztt vernünftiger
Einsicht veredelt wird. So- dass die Naturgeschichte ein Bildungs-
mittel fihr den fieisl werden kann. Diese Vermiltelung liegt in dbr
richtigen Auffassung dessen, was man natürlicfaes System nemit,
so- wie iif der Entwiekelung der rem uns bezeichneten Naturk^fe«-
gorien. Die Werke: natt^liches System des Pfianzenreichs, Natur
der lebentHgen Pflanze, Anaphytosis sind in diesem Shme gear-
beitet. Die darin durchgeführte Methode ist den geläufigen log-
isch-kfinstBchen antften Betrachtungsweisen ganz entgegen. Man
ist jetzt immer gewohnt, logische Kategorien (wie man sagt: Ideen,
System} in die Natur hineinzulegen; unsere Betrachtungsweise laoft
darauf, hinaus, die Naturideen, den Geist der Natur, aus der Natur
selbst heraustitdesen. Dass Geist, Vernunft, innere ZwedEmüssig-
Iceit in der Natur ist, sieht am Ende freilich nur der philosophische
Gedauk« eifl, der sein Ebenbild in der Natur wiederfindet; die
gcdani^fnfosen, sinnlichen Empiriker werden niemals dazu kommen,
und wenn die speculative Logik auch keinen anderen Einfluss ge-
habt hätte, als diese aus dem gedankenlosen Schlaf oder cfem
bewussttosen Instiirict aufzuwecken, und in Furcht vor dem Ge-
danken 2U haften, so wäre schon in diesem Irritament ein grosRser
Nutzen derselben zu finden.
In den anorganischen Naturwissenschaften, der Mechanik, Phy-
sik behäK der abstracto logische Mechanismus noch eher seine
Anwendung, weil der Mechanismus der Naturbewegungen* in dieser
Sphäre eine allgemeine Uebereinstimmung mit dem logischen Mecha-
nismus behält. Mechanische und physikalische sind gewissermassen
atigemeine, d)scrade Prozesse, wie auch der logische Kategorien-
mechamismus. in der erganiseJien Nafur aber wird dieses ganz
zur Philosophie der organi^ehen Natur, tod C. H. Schultz. 3^
anders, weil die Natur hier in concreter Individualität erscheint,
die als selbstständig in jedem Individuum anerkannt sein will.
Der Inhalt wird hier viel reicher, zusammengesetzter, in's Beson-
dere durchgreifender, als dass er von den allgemein logischen
Kategorien sollte gefasst werden können. Hier tritt das organische^
Lebensprinzip als Grund seiner eigenen individuellen Existenz auf,
was alle seine concreten Bestimmungen in der grössten Mannig-
faltigkeit aus sich selbst entwickelt, und zwar in so eigenthüm-
liehen Gestalten, als sie die menschliche Vernunft kaum zu ahnen,
vielweniger aus sich vorherzubestimmen (zu construiren) vermag.
Den hier wirkenden lebendigen Naturgeist muss die Vernunft
durchaus als von sich verschieden, ja sich gegenüberstehend an-
erkennen. Dass die organische Natur auch von einem Geist be-
seelt ist, ist richtig; dass der menschlkhe und der organische Na-
turgeist eine höhere Einheit in dem Weltgeist haben » ist auch
nicht zu bestreiten; allein in dieser höheren Weltseeleneinheit hört
die Naturforschung als solche auf; und indem man, wie die Alten,
den Inhalt der specieUen Naturforsehung sogleich auf die Welt-
seeleneinheit bezieht, zernichtet man die Eigenthümlicfakeit und
Selbstständigkeit, die Individualität der Natur, die allein dasjenige
ist, was das Wesen der wahren Naturforschung bildet Diese
Zurückführung alles Besonderen auf die höchste Weltseeleneinbeit
ist das Gebiet der Philosophie des Absoluten, in das sich kein
Naturforscher versteigen kann, ohne als solcher sein innerstes
Wesen aufzugeben. In der Phitosophie des Absoluten bogt der
Tod der concreten Naturforschung, vorzüglich der Tod der orga-
nischen Naturforschung, Es mag auch ihre AuferstehuMg darin
liegen, indessen werden die Naturforscher hier wohltbun, wenn
sie in die Wünsche des Kranken einstimmen, der sein jetziges
Leben gegen die ewige Seiligkeit erhalten wissen willf damit dem
Zeitlichen auch sein Recht widerfahre.
fFortsetzung folgt.)
32 tli« philosophische Gesellschaft in Berlin:
Aiihaiig 2U1II Torherselie«idtfn^ i^oii
Bllehelet«
In dem berühmten Verfasser vorstehender BIfitter erkennen
ivir den geistreichen Vermittler zivischen Naturphilosophie und
empirischer Naturkunde; und nichts ist zeitgemässer, ab eine solche
Vermittelung. Er hat den Punkt der Vernachlässigung und Un-«
fruchtbarkeit der Naturwissenschaften für die allgemeine Bildung
sehr schön in ihrer Zersplitterung in's Besondere gesehen und er-
wartet mit Recht die Heilung dieses Schadens von der Naturphilo-'
Sophie. Wir begrüssen mit Freude auf der einen Seite die Zu-
rückweisung der antiken Weltanschauung, welche, indem sie alle
Naturerscheinungen mit Recht in Ein Allleben aufgehen liess, das
Leben fiejm doch mit lauter anorganischen Kategorien erfassen zu
können meinte: auf der andern Seite die Widerlegung des „Dy-
namismus,^ der durch eine mystische Theorie des Organismus nur
anorganische Prinzipien hat abwenden wollen, ohne zu einer po-
sitiven Lehre durchzudringen.
Dass Hegel nun aber die Erde einen Organismus nennt,
scheint mir noch nicht hinlänglich zu beweisen, dass er die wahre
Begriffsbestimmung des Organismus nicht gegeben habe. Pflanze
und Thier unterscheidet er sehr genau von mechanischen und che-
mischen Naturerscheinungen. Die Erde als ein allgemeines Indi-
viduum ist ihm nur der Punkt der Vermittelung zwischen beiden
Gebieten, der das Bestehen ihres Unterschiedes gar nicht aufhalte.
Die Erde ist der allgemeine Sammelplatz der todten Natur, aber
als der Inbegriff der Bedingungen des Lebens ebenso der Ort,
woran das Leben ersteht und worauf es füsst. Der sich stets
von Neuem erfahrende meteorologische Prozess, iie gmeratio aequi^
vocüy die nicht durchaus wird weggeläugnet werden können, zeigt
solche Uebergänge der todten Natur in die lebende, wie es Zwi-
tergestalten zwischen Thier und Pflanze gibt. Das individuelle
Leben bildet dann einen vollkonunenen Gegensatz zur unorgani-
schen Natur, der fest bleibt, wenn sich beide Seiten der Natur
auch im Allleben, das unser Verfasser nicht läugnet, begegnen.
Mit Begierde erwarten wir in .der Fortsetzung die Entwicke-
lung der Naturkategorien, durch die das natürliche System an die
Anhang zum Vorhergehenden, von Michelet. 33
SteUe eines künstlichen Construirens der ßfatttr kosten soll. Hier
hat die Philosophie nur geduldig zu warten und dankbar zu be-
grüssen, was die Naturanschauung, die unser Verfasser in so reichem
Masse besitzt, uns bringen wird. Die Philosophie fasst nur die
gegebenen und bewährte Erfahrung^ in den Gedanken. Wo sie
natürliche Kategorien ^dargeboten sidit, ergreift sie dieselben be-
gierig, wie Aristoteles' und Lamarque's Eintheilung der Thier-
gattungen, die ja der Verfasser .als eine solche bezeichnet. Wir
verkennen auch nicht den Unterschied zwischen Natur und Geist,
so wenig als Torhin den Yon Tod und Leben. Wenn also auch
in der Natur andere Kategorien vorkommen müssen, als im Geiste,
eben weil sie beide sind, was sie sind, so ist doch die Natur so
logisch, als der Geist. Denn die Vernunft (der Logos) stellt sich
in beiden, wenn auch auf eigenthümliche Weise, dar. Das Logische
bildet also das Band, welches diese beiden Zweige des Absoluten
nothwendig zu Einem Ganzen verbindet.
Mtehelet.
Jahrb. für Mpcnlal. Philos. I. 2.
III.
Ifelier i^loseiihlsehes urisseit uimI BTatnr*
wtosen^ lostaehe Katesorlen and ^^Watmr»
(Alit Rücksicht anf den: ,zur Philosophie der organischen Natur** über-
schriebenen Aufsatz des Hm. Prof. Schultz.)
ISrsler Artikel.
Hjs ist, im Gebiete des geistigen Lebens, eine der erfreulich-
sten Erscheinungen unserer Zeit, dass mit dem — stets noch im
Steigen begriiTenen — Interesse für empirisches Naturwissen sich so
häufig dasjenige fttr das speculative, im eigentlichen Sinne philo-
sophische Denken in einem und demselben Individuum innig und
dauernd zu verbinden vermag und keines der beiden am anderen
sich abstumpft, noch vom anderen absorbirt und — zur Verzweif-
lung getrieben wird, wie dergleichen Erfahrungen in den nächst
zurückliegenden Decennien wohl nicht zu den seltenen gehören.
Verstehen wir den a%emeinen, alle Zeiten durchdringenden und
bewältigenden Geist, mit dem Zeichen, das er uns durch die her-
vorstechenden Richtungen der Gegenwart gibt, recht: so liegt jener
Erscheinung die grosse Wahrheit zum Grunde, dass das Fort-
schreiten sämmtlicher Wissenschaften, nach den verschiedensten
Seiten und Stufen ihrer Ausbildung, wesentlich das Sich entwi-
ckeln eines ihnen allen gemeinsamen , in ihnen allen lebendigen und
wirksamen' geistigen Prinzips ist, das sich bewahrheitet, indem
es dasjenige, was in den verschiedensten Entfaltungs- und Ge-
staltungsformen des Wahren sich darstellt, zur Form aller Formen
Die philofophische Ge0eil0ditift eo Berlin: etc. 35
und ZU einem Inhalte, der sich selbst bleibt, erhebt. Die Phi-
losophie, als die Wissenschaft xar i^oxijv^ hat heut zu Tage
schon eine solche Stellung gewonnen, dass sie von den andern
Wissenschaften nicht mehr ignorirt werden darf, noch kann; und
sie selbst, wenn sie sich gegen andere Sphären, z. B. das empi-
rische Naturwissen, gleichgültig verhalten wollte, würde damit
aufs Sicherste bekunden , n i c h t Philosophie der Wahrheit zu sein ; —
wie gewaltig gross auch die Kluft zwischen einem „ächten Philo-
sophen^ und „äditen Empiriker^ dem alltgglichen BewusstseiQ
timnerfain Mch enx^ietnen jnag, eben zinaal wo man nidit ge-
wohnt tet, die Sache selbst von ihrer nienscWdien Repräsea-
lation zu trennen und letztere wiederum, wie sie in ihrer Einzel-^
heit auftritt, von den wirklichen Forderungen ihrer Zeit,
hinter welchen sie oft um so weiter zurückbleibt, je stolzer sie
sich geerdet. Die wahre Philosophie kann, in ihrem Bewusst-
sein von der Einheit beider, des Naturwissens und des philo-
sophischen, den misslungenen Vereinigungsversuchen eben so ruhig,
als den starrsten Verfestigungen des erscheinenden Cregensatzes
beider, zusehen. Die Einheit beider ist nicht Menschenwerk; so
kann dann auch das Hervortreten dieser Einheit durch mensch-
lichen Irrthum nur temporär aufgehalten, nicht aber mit verkehrt
oder gar vdUig unterdrückt werden.
Ein sölcAies Bewusstsein muss sich der Philosoph uns^er Zeit
ebensowohl gegen die Yerkennungen, als auch gegen die An-
erkennungen von anderen Giebieten her zu bewahren suchen.
Letztere sind in der Thaft oft so sehr eigentlich nur die ersteren^
dass, wo man ihnen begegnet, nichts Eiligeres 2tt thHn ist, ds
sie zwrückzttweisen; eri^re kommen .wiederum oft, in ihrer wahren
Bedeutung gefasst, den letzteren so nahe, dass sie sich, (und dieas
noch zu grossem Vortheil für die analytische Ausbildung der Wis-
senschaft) nur ein wenig zurechtgestellt und in den Fluss der
Entwidcelung gdiracht, für das begreifende Wissen des Wahrm
selbst aufs Beste benutzen lassen, und matt hat eher für sie za
daidcen, als sich gegen sie zu vertheidigen. Es hat sdioa mandie
Opposition gegen die Philosophie derselben sowohl durch Zu-
fiArung lffau(*baren Materiales von Aussen her, als auch durch
die Anregung, die sie zu coasequenter und bestiamter auag^rägtea
Formentwickelungen nach einzehien Seiten hin gegeben hat,
3*
gg Die phiiosophisehe Gesellsehfift au Berlin;
bei weitem mehr genützt, als andrerseits tausend beifällige Zu--
stimmungen und apologetische Commentare, oder nur mechanisch
nach der Methode und Terminologie der Schule ausgeführte Dar-
stellungen, — gegen deren Formen, begrifflos manchmal vom
Autor gegeben, wie vom Leser empfangen, ein (gewiss sehr 2U
entschuldigender) Widerwille den bei weitem grösseren Theile des
gebildeten PuUikums noch erfbUt. Eine Aussöhnung zwischen den
strengern Formen, in denen sich die Philosophie als Wissenschaft
bewegt, und denjenigen, die allen Sphären geistiger Thätigkeit ge-
meinsam und daher in der gebildeten Welt die allgemein gang-
baren sind, wird dann erst wirklich beginnen können, wenn
das wissenschaftlich befähigte, gegen die Philosophie aber noch
einseitig befangene Publikum die letztere ihrem Inhalte nach für
dasjenige achten lernt, was von jedem geistigen Besitzthume, von
jeder Thatsache des lebendigen Bewusstseins eigentlich nur der
reinste, innerste Ertrag ist; was die wahren und darum wesentlich
realen Prinzipien für alle g^wussten — also auch für die empi-
risch gewussten — Dinge in sich schliesst; was keine für sich
getrennt zu bleiben bestimmte Sphäre, in diesem Sinne also auch
keine „höhere^ gegen die anderen sein soll, sondern vielmehr
die Sphäre, in der die gesammten Dinge, wie sie die wahren
sind, gewusst werden, und in der die Dinge, wie sie sind, also
auch immerhin für die sinnliche Anschauung bloss sind, erst
wahrhaft gewusst werden. Es wird wohl dann für einen
so eigenthümlichen Inhalt, der, von jeglichem andern unterschie-
den, doch keinen von sich ausscheidet und gegen keinen gleich-
gültig bleibt, die Forderung einer eigenthümlichen Form und
eines sonst nicht gewöhnlichen Ausdruckes, bei aller Verwandt-
schaft und Klangähnlichkeit mit sonst sehr gewohnten Formen und
Ausdrücken, wenigstens nicht unbillig erscheinen dürfen I In
der That sind hier Inhalt und Form so sehr von einander abhängig,
dass sie vielmehr Eins sind. Um so erklärlicher, aber auch für
den Billigdenkenden gerechtfertigter ist der Gebrauch aparter und
singulärer Formen da, wo oftmals der gebildete Laie scheinbar
dieselbe Sache auf ungemein plane und verständliche Weise in
der gewöhnlichen Sprache ausdrückt, wodurch er denn freilich
gegen den Philosophen von Fach sehr in den Vordergrund tritt
über philosophisches Wissen und Niiturwissen, von Temmler. 37
luicl dem grassirenden Philosophenhasse jedesmal frische Nahrung
zuführt!
In der Philosophie Jcommt eigentlich nichts Neues vor; alles
was sonst gewusst wird, hat darin schon eine Stelle. Aber die
Philosophie ist eben so wenig mit allem demjenigen, was sonst irgend«
wie gewusst wird, Ein und Dasselbe; denn ihr gehört, wie schon
gesagt, nur das Wahre von Allem, was gewusst wird, an, oder
sie ist Alles, was gewusst wird, in der Form derWahr-
iieil Die Philosophie ist darum auch nicht die „Summe^ aller
Wissenschaften; sondern was in diesen Wahres ist, gehört als
solches der Philosophie an; sie ist in allem Wissen das wahre
Wissen.
Es ist von der grössten Wichtigkeit, dass man sich das Ver-
hältniss der Philosophie zu anderem Wissen und damit auch zum
Wissen von „anderen Dingen,^ recht klar mache. Das wahre
Wisse pi von den Dingen ist mit dem Wissen von den Dingen,
wie sie wahr sind, identisch: die Wahrheit des Wissens besteht
{a eben in der Identität des Wissens und Seins. Somit kann und
soll man vernünftigerweise auch die Philosophie nicht anders,
als die Wissenschaft der Wahrh|?it aller Dinge fassen. — Das.
Wichtigste aber nächstdem ist, dass man die Wahrheit als Sub-.
ject fasse, als „das Wahre,^ das sich lebendig bewegende
Wahre. Dieses selber, das den Inhalt der Philosophie ausmacht
und ihr die eigene Form gibt, hat die Natur in Allem als das
Allgemeine, nicht j bloss zu sein, sondern sich bewegend zu
verhalten (^nämlich lebendig hervorgehend); und zwar eine
Bewegung zu vollziehen, an der alles was ist Antheil hat, in-
sofern dieses nämlich fortbewegt wird zu demjenigen, was es
wahrhaft ist; wobei immer das Bewegende die Wahrheit ist,
die sich zu sich selbst bewegt.
Auf die Bewegung des Wahren zu' sich selbst, deren immer-
dar sich erneuerndes Resultat das in sich selbst Wahre und seiner
gelbst Gewisse, in allem Wechsel bei sich selbst Bleibende ist,
kommt überall viel an, namentlich da, wo irgend einer Existenz
in der objectiven Welt ihre wissenschaftliche Stelle angewiesen
werden soll. Denn alles das Andere, was durch das in sich selbst
Wahre freilich zur Unwahrheit (oder doch nur relativen Wahr-
heit) herabgesetzt wird, hat an dem in sich selbst Wabren (nicht
3g Die pbilosophifche Geselltchaft zu Berlin:
etwa nur einen äusseren Massstab, sondern) seine wesentliche Be-
dingung und seine innerliche, treiben^, belebende Macht; in eben
dem Masse nSmlich, in welchem es 2ur Unwahrheit herabgesetzt
wird, geht es auch Ober seine eigene Unwahrheit und Relativität
hinaus; es verlässt immer mehr sein eigenes Mosse« H^eln»
als die unwahre Gestalt des Wahren. Mit jedem Verluste
des unmittelbaren Seins erfährt es einen Zuwachs an Wesen-
haftigkeit, und auch die Substantialität des Wesens muss selbst
noch an dem Widerspruche ihrer eigenen Bedingungen zu Grunde
gehen, um zu dem Wahren — seine Selbstvermittelung hiermit
Vollendenden — zu erstehen, das es nun als das aller Bewegung
zu Grunde Liegende erkennt, und, durch die ganze vorherge^-
gangene Entwickelung zur Einheit mit ihm erhoben, als sidi
selbst liea^relfl;. — Die Bewegung des Wahren zu sich
selbst ist in der Philosophie nicht nur, sondern in allem wissen-
schaftlichen Begreifen das formale Prinzip. Wir bezeichnen
jene Bewegung im Allgemeinen mit dem Worte: „Denken,* und
das Wahre als die absolute Macht, welche solche Bewegung aus-
übt, mit dem Worte: „Vernunft.* Die Vernunft hat einen Aus-
druck für jede Bewegung, die sie vornimmt, und diesen Ausdruck,
als ein wirklich von der Vernunft Gedachtes, durch ihre Selbst-
bewegung Bestimmtes, ein Geschehen und eine That der Vernunft
zugleich, nennen wir „Kategorie.* Die Kategorie bezeichnet
nicht nur den jedesmaligen Bewegungsact der denkenden
Vernunft durch den ganzen Verlauf dieser Entwickelung
hindurch, sondern sie ist auch dieser Bewegungsact selbst in der
Sprache eines denkenden Volkes und jedes denkenden Individuums.
Dem Vorurtheil gegen allzuhäufiges Vorkommen der Denkkategorien
der Vernunft liegt gewöhnlich dn Missverständniss über ihre Ent-
stehung und ihr Wesen zum Grunde; an Kategorien muss jede
vernünftige Entwickelung ablaufen, und die Philosophie
verdient so wenig den Vorwurf, dieselben gemacht zu haben
oder einen unnützen Vorrath davon zu besitzen, dass sie viebnehr,
in ihrem Ausdruck leider an die natürlichen Mittheilungsmitte)
der Menschen gebunden, den Reichthum jener noch länge nicht
erschöpft und die Bedeutsamkeit noch lange nicht hinreichend
in der Sprache entfaltet und herausgewendet hat, welche als
die ihrige in der letzteren verborgen liegt. Der neueren Philo-
über philosophiMhet WiMen und ffaturwiMM, tob Temmler. ^
sc^bie gebührt das Lob, hierin vorzugsweise riel und Grosses
geleistet zu haben, und unter den vorhergegangenen lässt sich ihr
in dieser Hinsicht nur die aristotelische zur Seite stellen, welcher
freilich die unvergleichliche Füg- und Bildsaadseit ihrer Sprache,
in der noch dazu der ganze Schatz von Intelligenz eines hoch be-
gabten und geistig gereiften Volkes niedergelegt war, 2U Statten
kam.
Die Kategorien sind die bestimmten Formen, in denen das
von der allgemeinen Vernunft Gedachte als Gedachtes erscheint.
So ist in der ewigen Selbstbewegung der Vernunft ihr eignes
unmittelbares Sein das Erste, woran sie diese Bewegung beginnt,
welche aber darin besteht, dieses Erste als ein ihr in Wahrheit
Unangemessenes aufzuheben; und es ist nur dasselbe, wenn
vnr sagen, es geschehe durch die Vernunft, dass das Sein als Un^
mittelbares sich über sich selbst hinausbewege». Dieser wichtigen
Eigenthümliehkeit der sich bewegenden Vernunft: aufhebend
hervorzubringen, — der „Negativität'* der Vernunft, — be-
gegnen wir in allen ihren Entwickelungen, Die Negativität
der denkenden Vernunft ist der eigentliche Lebens-
grnnd für ihre Entwickelungsmomente; denn indem sie das
an ihrer Wahrheit sich als ^Unwahres Erweisende von Stufe zu
Stufe aufbebt, bewegt sich das sogenannte Unwahre von Stufe zu
Stufe zugleich fort, es gewinnt immer mehr an Consistenz und
Wahrheitsangemessenheit, bis es zur vollen Wahrheit kommt,
welche damit zu sich selbst kommt und an und aus
ihren Negationen sich vollständig selbst begreift. D*as
Negiren in den Entwickelungen des vernünftigen Denkens ist im-
mer wesentlich zugleich Poniren; und was es ponirt, gehört nur
durch die ihm inwobnende negative Macht diesen Entwickelungen
an. Das von der denkenden Vernunft (hinaus) Gesetzte, geht über
sich als (bloss} Gesetztes wiederum hinaus, überwindet aber da-
mit das (von Anderem her) Gesetztsein und wird Zu einem Sidi-
Selbst -Setzenden, Sich -Selbst -Bestimmenden, welches eben die
Vernunft ist. Die Vernunft begreift so das unmittelbare Sein als
ihr eignes; damit bat sie aber auch die Macht über das-
selbe. Das „Sein^ wiederum kommt zu seinem „Begriffp,^
nämlich zu der ihr eignes Sein begreifenden Vernunft.
j|0 hke philofophisdie GeMlbclufi la Berlin:
Ganz 80, wie das bis hierher bloss als Gedachtes betrachtete
j^Sein,^ verhält sich auch das von der Vernunft (ab sich selbst
bestinunender) frei entlassene erfüllte Sein. Dieses ist eben auch
wieder dn unmittelbares, aber in wirkliche äusserliche Existenzen
auseinandergelegtes, als viele seiende, in räumlichem Dasein
verwirklichte Gedanken der göttlichen Vernunft; nicht selbst
vernünftige, ja auf ihrer niederen Stufe noch ohne irgend ein
„Selbst,^ — in denen aber die Vernunft das allein Wirksame, j3e-
wegende und Bestimmende ist. Diese räumlich Seienden, als
Totalität gefasst, sind das, was wir „Natur ^ nennen; es ist dfe
Sphäre der Unmittelbarkeit, welche von der göttlichen Vernunft,
die sich auhh in ilir zu «teli selbst bewegt, mit den in ihr
auftretenden Erscheinungen und Gestaltungen nur über sich hin«-
ausgehoben und in den Fluss einer Entwickelung gebracht wird,
welche erst da endigt (aber auch gipfelt}, wo die Vernunft selbst
in ihr, als in der überwundenen (aber auch entwickelten) zur
(wenn auch, weil in ihr, darum noch äusserlichen) Existenz
kommt: Organismus des Lebendigen.
Hier wird nun von selbst klar, dass alle die Bildungen, Be-
ziehungen und Entwicklungen innerhalb der Natur eben so gut,
wie die innerhalb der Logik, Denkbestimmunen der ewigen
Vernunft, der philosophischen und göttlichen, sind; nur hier in der
Natur freilich in der Weise der Aeusserlichkeit und in concreto
Existenzen auseinanderlegt. Nicht unsere Philosophie ist es, wel-
che die Erscheinungen der Natur in logische Kategorien, als in
ein ihnen Fremdes, von 4er Natur selber gleichsam Perhorrescirtes,
hineinzwängt: sondern die Philosophie, welcher die Natur sdion
ohne all' unser Zuthun angehört, ist vom ewigen Gotte uns Men-
schen längst vorgedacbt, und die Logik, ist selbst die Urlogik
der Natur und Welt, welche wir uns, kümmerlich von Jahr-
hundert zu Jahrhundert, nur zu immer reinerem, wissenschaftlichem
Bewusstsein zu bringen suchen. Es ist daher noch viel zu wenig
gesagt, wenn selbst zugegeben wird, die vernünftige Logik stimme
mit der Natur, in deren Ordnung, Zweck- und Gesetzmässigkeit,
überein; denn was in der Natur Vernünftiges ist, kann nur ein
und dasselbe Vernünftige mit dem überhaupt Vernünftigen
sein, das sich in seiner reinsten und nacktesten Form ohne alle
concrete Erfüllung und sinnliche Umhüllung in der Logik dar-
über philosophisches Wissen und Hatnrwissen, von Temmler. 4^
legt. Dass die Natur sq die verkörperte Logik sei, dagegen bildet
die. scheinbare ZuMigkeit, die Vereinzelung und das Ausser- und
Nebeneinander der Natur, trotz aller jihrer Zweck- und Gesetz-
mässigkeit, keine Instanz; denn eben durch die Weise der
Aeusserlichkeit soll sie ja ihre Mrirklichen Existenzen von bloss
gedachten Wesen unterscheiden; und eben das Gesetzmässige und
Beständige in ihr gehört mit innerer Nothwendigkeit dem Be-
griffe an, dem sie endlich völlig verfällt.
Alle die erscheinenden Uebergänge der Körperwelt, diess un-
absehbare Zueinander, Ineinander und Auseinander, das uns die
Natur darstellt, hat tief und innerlich seinen Grund in der sich
nach Aussen richtenden Selbstbewegung der Vernunft; und nur
weil die Natur die von einer ewigen Vernunft ausser ihr durch
und durch bestimmte ist, walten in ihr Gesetze mit solch' uner-
bittlicher Nothwendigkeit. Ihre Bildungen aber sind, so unbewusst
und unfrei sie in sich immerhin sind, doch die allerfreiesten Ge-
staltungen des in sich vemunftvollsten und im Anschauen seiner
selbst seligsten Bildners. An ihnen, als Productionen , den ewigen
Producenten, und zwar wie dieser damit sich zu sich selbst
und zu ihnen verhält, erkennen, — ist, wie leicht einzusehen,
eine ganz andere Aufgabe, als die Productionen, wie sie sich zu
einander verhalten,' erkennen: jene liegt dem Naturphilösophen,
diese dem Naturkenner, im gewöhnlichen Sinne, vor. Die Natur-
philosophie ist ein der ewigen Vernunft des Schöpfers Nach-
d^ken, ein im Geiste demselben Nachschaffen der Natur; die
Naturkenn tni SS, im gewöhnlichen Sinne, geht auf die Einzelheit
der Erscheinungen ein, verliert sich oft in dieser, oder kommt
höchstens bis zu Verstandesreflexionen über dieselbe. Gleichwohl
sind die zunächst rein sinnlichen Auffassungen im Gebiete der
letzteren (der Naturkenntniss), und ihre sich daran knüpfenden
spärlichen Erwerbungen für den Geist der unentbehrlich
wichtige Anfang für die Ausbildung ersterer. Der die
Natur zuerst mittels der Sinne nur anschauende Geist wird zu
einem über die Natur denkenden; dieser aber, zuerst über die
Natur denkend, reift immer mehr zu einem in und mit ihr denken-
den, der höchsten BKithe, zu der es die Naturkenntniss ^^bringt.
Temmler.
IV.
JDle sesehlehtllehen ITorauMietBuiiKeii tfeii
hebrftlsehen RellgloiisprliiBlpii und Ihr
llebersang in dusselbe«
Mit besonderer Berttckdichtignn^ der neuestsn Verhandfungeit über diesen
Gegenstand.
Dargestellt
voa
Dr. £x. ütA.
Die dogmatische Leidenschaft in der Behandhing der Reli*-
gionsgeschichte, namentlich der biblischen, hatte in den theologiscben
Reibungen, an denen die fortwährende Geltung des Christenthums
als Autorität hing, ihren höchsten Gipfel erreicht, und zwar nicht
nur auf Seiten der die traditionelle Ansicht Behauptenden, sondern
in noch höherem Masse, weil in ursprünglicher Kraft, auf Seiten
der sogenannten Kritiker. Die theologische Leidenachaft in dem
Pesthalten der Tradition hat sic^ in ihren tausendjährigeii Kämpfen
abgearbeitet, und verlöre sie den Boden, den sie noch immer an
dem menschlidien Eigennutz hat, dem die Aufrechthaltung dnes
Privilegiums vor AUem gebt, dann wäre ihr die Wurzel ihres
Lebens in der Gegenwart abgeschnitten. ^ Die Leidenschaft der
Entheiligung der religiösen Geheimnisse ist 9bei noch neu, der
Schlüssel zur Enträthselung des religiösen Widerspruchs carst seit
Kurzem dargeboten, und die Anwendung und Bewahrung desselben
ist mit jener feurigen, ungestümen Einseitigkeü; geschehen, die
eine heftige Spannung mit dem theologischen Gegensatze noth*-
wendig madite. Die Religion ist das Weik des Hensdien, so
heisst es, der Mensch handelt immer nach gewissen Motiven, Grund-
sätzen, Absiebten, die sich mithin auch in seinen religiösen Schöpfungen
Beck, hebräisches Reli^nsprimip. 43
müssen nachweisen lassen, und die Erklärung derselben » namendlch
insoweit sie einen geschichtlichen Hergang darstellen, besteht in
ihrer Zurückflihrung auf diese oft ganz individuellen und particu-
lären Voraussetzungen, denen der Kritiker inachzuspüren hat.
Dieselbe Leidenschaft, mit der sich der Theologe in die vermeint-
lich göttlichen Geheimnisse vertieft, nicht um sie in ihrem inner-
sten Grunde, der den Sterblichen immer verborgen bleiben muss,
zu enträtfaseln, sondern nur um einzelne Aeusserlichkeiten an ihnen,
wie ihren Zweck und Sinn fte- den Menschen, ihren Zusammenhang
und ihre Widerspruchslosigkeit ans Licht zu stellen — « dieselbe , sagen
wir, finden wir auch bei dem Kritiker, allein in einer entgegen-
gesetzten Richtung und mit der Absicht, seinem Gegenstande auf
den Grund zu kommen. Aber diese Leidenschaft wird, eben weil
sie Leidenschaft ist, d. h. auf die unmittelbare Durchsetzung und
Bewährung eines abstracten, nicht genauer bestimmten Gedankens
losgeht, nimmer zum Ziele führen können.
Die Kritik hatte über dem abstracten Menschen den wirklichen,
geschichtlichen Menschen vergessen. Der wirkliche Mensch kann
nur aus seiner geschichtlichen Situation, aus der ganzen geistigen
Atmosphäre, in die er hineingestellt, erkannt werden; nur die Ele-
mente dieser geschichtlichen Welt geben die Motive zum Ver-
ständniss der geistigen, namentikh religiösen Erzeugnisse der
Einzelnen ab. Die Kritik des neuen Testaments hat sich in der
Tübinger Schule zu dies^ Erkenntniss erhoben und dieselbe mit
seltenem Scharfsinn und auf eine schlagend überzeugende Weise
durchgeführt, wie man namentlich aus dem das ganze neutesta-
mentliche Gebiet umfassenden Werke von Schwegler ersehen kann.
Die Voraussetzungen des neuen Testaments, die in der früheren
Kritik nur in ganz abstracter Weise als rdigiös oder zufällig
individuell gefasst wurden, zerfallen auf diesem Standpunkte in
bestimmte geschichtliche Gruppeo, deren Erkenntniss die Erklärung
und Kritik des Einzelnen regniirt.
Auf dem Gebiete der alttestamentlichen Religionswissenschaft
hat sich eine ähnliche geschichtliche Eebandlungsweise erzeugt.
Während es früher als die Aufgabe alttestamentlicher Wissenschaft
betrachtet wurde, denMosaismus als eine besondere Erscheinung der
göttlichen Oekonomie, also als wenigstens relative göttliche Offen-
barung zu erkennen, während auf dem philosophischen Standpunkte
44 Beck, di« gescliiciitl. VorauBieUiiiigeii d. hebr. ReligionsprüiKips
OKidenier Thecdogie diese Angabe sich dahin bestimmte Cs^nz ge-
mäss dem Feuerbadoschen Aussprache, dass die specidative Philo-
sc^hie die zur Vernunft gebrachte Theologie sei), den Mosaismus als
Entwickelungsstufe des religiösen Geistes, d. h. als nothwendiges
Moment des Religionsbegriffes zu begreifen; so ist es die Aufgabe
jetziger Wissenschaft, die alttestamentliche Religion in ihrem ge-
schichtlichen Werden, in ihren geschichtlichen Voraussetzungen,
mithin als volksthümUches Erzeugniss, als menschliches Werk zu
erkennen, und eben damit den Heiligenschein einer göttlichen
Offenbarung, und einer sich selbst machenden jenseitigen logisch-
dialektischen Entwickelung vollends zu zerstören.
Man hat die hebräische Religion immer nur in ihrer höchsten
Entwickelung, in ihrer idealen Reinheit zum Gegenstande der wis-
senschaftlichen« Betrachtung gemacht und gewissermassen still-
schweigend den biblischen Schriftstellern ihre Voraussetzung von
der Ursprünglichkeit derselben zugegeben, und w^nnauch die viel-
fachen Anklänge an den Naturdienst sich selbst in dem Gesetze
nicht verkennen lassen, so hat man sich immer bemüht, die Fremd-
artigkeit dieser Bestimmungen zu behaupten und ihnen einen
vrillkürlichen symbolischen Sinn unterzuschieben. Diese fremdartigen
Bestandtheile haben somit nicht eine vernünftige Auffassung der
hebräischen Religion gefördert, sondern sind vielmehr selbst durch
einen ihnen untergesdiobenen höheren idealen Sinn um ihre wahre
Bedeutung gebracht und so in der That entstellt worden. Man
setzte voraus, dass jener höhere Sinn ihnen entweder immanent
sei und durch allegorische Ausdeutung herauszubringen, oder aber,
dass der Gesetzgeber eine ihnen ursprünglich fremde Beziehung
auf sein religiöses Prinzip gegeben, indem er sie, wegen der An-
hänglichkeit des Volkes an seinem alten aus Aegypten herüber-
genonunenen Aberglauben, in das neue Religions- und Cultsystem
aufnehmen zu müssen glaubte. Was die erstere Ansicht unmittel-
bar in den göttlichen Zweck verlegt, wird in der letzteren der
berechnenden Klugheit des Gesetzgebers zugeschrieben. Aber in
beiden Fällen wird doch die Voraussetzung von der bereits ge-
gebenen Entwickelung des höheren Prinzips in- oder ausserhdb
jener symbolischen Formen zugegeben. Diese Ansicht beruht aber
auf kritischen Voraussetzungen, die schon längst abgethan smd.
Sie muss, wenn nicht die göttliche Eingebung des Gesetzes, doch
uod ihr Uebergang in dasAdbe. 45
immer die Abfassung des Pentateuches durch Moses bdianpten,
denn sobald der ganze Wust Yon Bestimmungen über den Ritus
auf ihn zurückgeführt wird, kann ihre schriftliche Fixirung ihm
auch nicht abgesprochen werden. Es wären in der That alle
Untersuchungen über Abfassangszeit biblischer Schriften überflüssig,
wenn sie nur ein Urtheil über die formeOe Vollendung derselben
gestatten dürften, ohne dass man berechtigt wäre, einen Schluss
aus der in eine spätere Zeit versetzten Abfassang einer Schrift
auf den späteren Ursprung ihres geistigen Gehalts oder der in ihr
niedergelegten eigenthümlidien Anschauung zu ziehen. Dieser
Unterschied zwischen der formellen schriftstellerischen Vollendung
und den Vonstellungen, dem Standpunkte eines Buches, ist als un-
haltbar erkannt; den Inhalt, den wir nur aus Schriften kennen,
deren spätere Abfassung uns zur Gewissheit geworden, sind wir
nicht berechtigt, auf eine frühere Zeit zurückzuschieben. Wird man
also durch sein kritisches Gewissen verhindert, den Pentateuch
z. B. als Werk des Mose anzusehen, so hat man auch kein Recht,
den ganzen Standpunkt des Pentateuchs auf Moses zurückzufuhren;
das allmählige Werden des Pentateuchs schliesst ein allmähliges
Werden des gesetzlichen, jdiovistischen Standpunktes in sich.
Sobald wir nur dieses Ergebniss festhalten, ist uns der Schlüssel
zum Yerständniss der israelitischen Geschichte gegeben. Die dem
höheren Prinzip wid^sprechenden Elemente, die, der officiellen
Lüge der Geschichtschreibung zufolge, dasselbe zur Voraussetzung
hatten, finden vielmehr ihre Erklärung aus einem selbstständigen
niedrigeren Prinzipe, der wahren Voraussetzung jenes höheren;
die kritische Betrachtung widerspridit also, schnurstracks der offi-
ciellen der biblischen Schriftsteller. Sie erkennt in der ganzen
hebräischen G^sdiichtschreibung eine fortwährende, sich immer
steigernde Verunstaltung der wahren Geschichte vom Pei^teuche
an bis zur Chronik, deren Enstellung so vielfache Anklänge an rö-^
misch-kathndische Lüge darbietet und schon längst das wahre Ge-
heimniss einer solchen Historiographie enthüllt haben sollte. Dem
Umstände, dass die Literatur erst nach dem Siege des jehovisti*
sdien Prinzips sich zu entwickeln, anfing und immer in den Händen
der Anhänger jenes Prinzips, als der allein Gebildeten, blieb, haben
wir diese Gestaltung der hebräischen Geschichte zu verdanken.
45 Beck, die geschiditl. Vonrnstelniageii d. helir. Religionsprinsips
Man würde die fremdartigen Elemente, die mit dem hebräi-
$dk&k Cnlttts verwandt sind, sowohl, als das wahre Verhältniss
des Götzendienstes zum Jehovismus leichter erkannt haben, wenn
eine genauere Einsicht in das ganze yorderasiatisdie R^gions-
system nicht vermisst wftre. Von diesem hatte man ab^ nur sehr
fragmentarische Kenntnisse, die nicht geeignet waren, e|n hin-
reichendes Licht über den hebräischen Götzendieiföt zu werfen;
meistens kannte man [nur den Götzendienst aus dem atten Testa-
ment selbst, also als voraussetzliche Abart des Jehovismus. Die
Religionsphilosophie und Kritik neuerer Zeit hat aber ein regeres
Interesse an der Religionsgeschichte hervorgerufen; die Entzifferung
einer Menge phönizischer Inschriften hat reichere Httlfsmittel zur
Kenntniss der vorderasiatischen Religion dargeboten, als mit denen
man sich bisher begnügen musste.
Aus einen religfonspbilosophischen Interesse ist das Werk von
Vatke hervorgegangen. Die aus der Religionsgescfaiohte entlehnten
Momente dienen hier zur Bestätigung der philosophischen Ansicht
von der Nothwendigkeit eines allmähligen Werdens des religiösen
Selbstbewusstseins. Vergl. p. S89. Wollte man sicti vorstellen,
dass das Prinzip der alttestamentlichen Religion schon Jm sdomo-
nischen Zeitalter, ja noch früher, nach allen Seiten entwickelt gewesen
wäre, und im äusseren Gegensatze zum Götzendienste sich erhalten
und höchstens nach eini^lnen Seiten fortgebildet hätte, und wollte
man auf der anderen Seite den Götzendienst ebenso in reinem Für-
fiicfasein auffassen, so würde man die wirkliche Geschichte und den
lebendigen Kampf der Geister zu einem abstracten Sdiattenbilde
machen, die Analogie der späterhin von den Hebräern vollbrachten
Idealisirung verkennen und den Gang der Geschichte nicht begreifen,
der das hebräische Prinzip solchem Confliete preis gab und die
wesentlichen Elemente der asiatischen Naturreligion zu den Hebräern
Innströmen Sess.
lieber Yatke's Ansicht vom Ursprünge des höheren idealen
Prinzips iet hebrUscben Cultur werden wir erst später zu sprechen
kommen, hier war es niur unsere Absicht, ihn als Vertreter einer
feschichtüeh-philosophjschen Ansicht von der hebräischen ReUgion
namhafti zu machen. Audi Br. Bauer steht einer gesdiichtlichen
Anseht nicht fern. Er gibt die Begrünteig vieler geisetzlicken
Bestinnnungen in dem Naturdienste zu, und weist ihren Zusammen-
und ihr U^bergang in daiselbe. 47
bang mit ^mselhen nach. Das kvhmle ttnd zngleMi grilniDiciiate
Werk auf diesem Gebiete ist das von Movers über die phönicische
Religion, worin der ganze Inhalt jener Relifion in ihren vielfachen
Bestifämungen, soweit es die vorhandenen Quellen gestatten, erörtert
wird. Diese Untersuchungen werden die nothwendige Grundlage
jeder besonnenen Kritik der hebräischen Religionsgeschichte abgeben,
imd es werden namentlich in dieser Abhandlung ihre wesentlichen
Ergebnisse, unter allgemeinere Gesichtspunkte gebracht, als Grund-
lage der über die hebräische Religion aufzustellenden Ansicht be-
nutzt werden. Niemals ist wohl der geschichtliche Zusammenhang
^er bebraischen Religion mit den anderen vorderasiatischen Culten
60 sbhlagend nachgewiesen als hier. Wie nach einer solchen Vor^
arbeit eine Schrift, wie die von Daumer, hat entstehen können,
vrürde räthselhaft sein, wenn nicht ein einmal gefasster Lieblings-
gedanke oder Vorurtheil selbst die einfachste Wahrheit auf alle
Weise sich vom Leibe halten müsste. Die Schrift von Daum er s
ist nichts als eine Andtdoten- und Curiosensamminng, ohne irgend
«in zusammenhaltendes Prinzip^ als eben das Interesse, ein einmal
gefasstes Vorurtheil von der Entstehung des hebräischen Cultus
aus dem Moloch- und Eseldienste, die einen gcmz entgegengesetzten
Sinn haben sollen, ä taut prix zu erhärten. Die Ausföhrungen
über den semitischen Naturdienst sind aus Movers entlehnt, die
Hauptsache aber, die Entdeckung einer Menge atnerikanischer und
polynesischer Anklänge an den Mosaismus, verdankt der Leser dem
fleissigen Studium des Herrn Daumer selbst. Das Ganze entbehrt
einer wissensdiafUichen Fonn; durch die Vorstellungsassociation
kommt der Verfasser von Einem zum Anderen; etymologische
AefattUchkeiten geben ihm zu den abenteueriH)hsten Combinationen
Anlass, ohne dass er nur im Entferntesten die linguistische Gelehr-
samkeit, den philologischen Takt, die kritische Besonnenheit besitzt,
die zu derartigen Zusammenstellungen erheischt wird. Nichts in
der Welt kann der Willkür des Verfassers ein Band anlegen,, weder
^Seschichte, noch Geographie, noch Grammatik. Er kennt nur zwei
Leidenschaften, von denen ersieh ganz und gar überwältigen lässt,
für den Moledidienst nämlich und für den Eselcultns. Wo er von
dem einen spriobt, hat er den anderen gänzlich vergessen.
Wir. wollen in unserer Untersuchung von den geschichtlkhen
Voraussetzungen der hebräischen Religion, deren Detail wir aus
4g Beck, die geschidill. Voraiuselsiiiig«» d. hebr. Religionaprinzips
Movers entnehmen, ausgehen, um demnächst das hebräische Prinzip
in seinem Hervorgange aus d^iselbcn in's Auge zu fassen.
Die geschichdichen Voraussetzungen der hebräischen Religion
sind in der allgemeinen semiUschen zu suchen; allerdings können
wir dieselbe nur aus den besonderen Verzweigungen, deren eben
die hebräische eine ist; .allein der gemeinsame Hintergrund lässt
sicji immer aus den besonderen Erscheinungen herausfinden, deren
wesentliche Einheit bei allem sonstigen Unterschied sich nicht y^-
kennen lässt. Es ist schon Vieles gewonnen, wenn die hebräische
Religion unter diesen allgemeinen Gesichts^nkt gd)raoht wird,
was mit Nothwendigkeit aus der nicht abzuläugnenden natürlichen
Verwandtschaft folgt. Ein sich auch auf das Gebiet des Natürlichen
erstreckender Gegensatz, wie er allerdings in don- Phantome eines
Volkes Gottes hindurchscheint, widerspricht zu sehr don Augen-
scheine, als dass Jemand in unserer Zeit den Huth haben s(rflte,
ihn zu behaupten. Airein auch die natürliche Verwandtschaft in
Sprache, Sitten etc. zugegeben, wird man doch nimmer den theo-
logischen Standpunkt dahin bringen, die religiöse zu mierkennen;
nicht nur wird er die biblische Religion von der allgemeinen Re-
ligionsgeschichte, sondern auch von des erwählten Volkes eigener
Natur und Geschichte losreissen, er wird die geistige Seite des
Lebens von der natürlichen schroff abtrennen als abstracte gött-
liche Gnadengabe. Es ist aber jetzt zur allgemeinen Anerkennung
gebracht, dass es eben die Religion ist, worin die Völker das
Bewusstsein ihres eigenen Wesens ausgesprochen und die Mächte
gestaltet haben, von denen sie in ihrem weltlichen Leben getrie-
ben wurden. Die Religion ist das ausgesprochene Geheimniss die-
ses Lebens, der Heiligenschein, worin es seine Verklärung und
seine Weihe gefunden. Und wie sollte sich denn hier ein Gegen-
satz finden, der keinen Boden in der Natur hätte?. Es ist unge-
schichtlich, sagt Hovers, wenn man bei Völkern, die neben und
unter einander wohnen, dieselbe Sprache reden, nach ihrer Ab-
stammung in einem genealogischen Verhältnisse stehen und eine
gemeinschaftliche Stammsage aufbewahren, eine totale Differenz
des religiösen Glaubens und der Gottesverehrung annehmen wollte.
Dieser Schluss auf eine religiöse Einheit lässt sich aber nicht
bloss aus der natürlichen Verwandtschaft herleiten, sondern wird
auf unbefangene Weise in der Bibel selbst vorausgesetzt, wenn
und ihr Uebergaag in dasselbe. 49
Eletnente des Naiurcultus ohiie irgend eine poleniische Beziehung
erwöhnt werden, z. B. heilige Bäume (Gen« 13, 18. 24, 33.}, oder
heilige Gebirge (Gen. 22, 2.), Quellen (21, 27.), Steine (Bätylien
18, iS): wir können selbst die höchste Entwicklungsstufe des
religiösen Geistes bei den Hebräern, als der natürliche Boden ganz
verlassen war, auf das allgemeine Prinzip des Semitismus ^ als
seine Quelle, zurückführen^ und zwar nicht bloss durch Aufzeigung
einer Menge Bestimmungen des Cultus und der prophetisch -visio-'
nären Symbolik, die unmöglich entstanden sein konnten, nachdem^
das Prinzip bereits zu der höheren Idealität, in der wir es hier
vorfinden, entwickelt war. Allein der Unterschied darf desshalb
nicht übersehen werden: während es die Aufgabe anderer semiti«
'sehen Völker wurde, dief Naturreligion auszubilden und sie einen!
Volkä zu übergeben, das dieselbe zu einer wahrhaft menschlichem
Welt verarbeiten sollte, schlugen die Hebräer den , entgegenge**
setzten Weg ein, der auch von Haus aus in* der gelmdiisam^ Vor-
aussetzung, als dunkler Trieb zur ideellen Auffassung,\orgezeichnel
war. VergL Vatke p. 260, 889^ Das ursprüngliche Prinzip des
Semitismus schliesst diesen Dualismus in sicL
Und wekhes ist nun der Stamm des semitischen Volkes^ deinf
die Aufgabe geworden, die natürücbe Seite des gemeinsameft Prin-'
zips in ihrer ganzen Schroffheit bervorzubilden? Es ist derselbe,^
der auch der weltliche, culturgeschichtliche Vertreter der Semitenf
im Alterthume war, also der phönicische. Wenn also hier von
semitischer Religion die Rede ist$ ist immer die piränicische ge-
meint, als die, welche die Nalurseite des Simitismus zu ihrer höch-
sten Entwickehmg. gebracht hat. Die natürlichen Elemente, die sieb
im alten Testament zerstreut vorfinden, nriissen, hier ihre wahre'
Stelle als Momente eines grösseren Kreises finden. Die Ausbildung
der natürlichen Seite der semitischen Religion^ die uns" die phöni-
cische Mythologie darstellt, ist auch in der Zeit der geistigen,
idealen Entwickelung des Hebräismus vorangegangen^ die Dualität
des gemeinsamen Prinzips ist nicht in der Weise zu verstehen ,> als
wenn die beiden Seiten sieh gleichzeitig und unabhängig von ein--
ander entwickelt hätten, vielmehr ist erst durch die Ausbikiung'
der NaturreKgion das Bewusstsein der idealen Seite aUnräWich?
entstMiden und erscheint . dessbalb iittiner als Gegensatz des natür-
lichen Bewüsstseins.
Mirb. für speculnt. Pbilos. I ^. d
50 Beck, die geschichil. VorauMetsniigeD d. hebr. Religioiupriiicips
Die phünicische Religion Bbet isl wegen iler vielfachen Be-
ziehungen der Phönicier zu andern Völkern mit einer Menge ausser*
semitischer Elemente versetzt;* zuerst von Aegypten bar, woselbst
ein halbes Jahrtausend hindurch semitisdie VolksstöBUBe syidli niederge-
lassen halten, was sogar zu der Behauptung Veranlassung gegeben
hat (Movers p. 39), die der älteren Ansioht schnurstracks wi-
derspricht/ dass überall, wo e» sich darum handelt, phönieische
Elemente in der ägyptischen Religion nachzuweisen, der Satz fest-
zuhalten sei, dass da, wo der ägyptische Natur- und Gestirndienst auf
eine solche Weise mit der Religion der Phönicier zusammentrifit,
dass eine Entlehnung von der einen oder anderen Seite angenom-
men werden muss, die Verwandtschaft vom Einflüsse der semiti-
schen Rdigion durch die Phönicier herrühren müsse, und nicht
umgekehrt. Die vi^n ägyptischen Elemente, die man in früherer
Zeit als auf willkürliche Wei^e von Moses in die Gesetzgebung
aufgenommen ansah, Süllen demnach im Grunde von semitischem
Ursprünge sein und ebendarum ihre natürliche Stelle im Gesetze
haben. Bei allem dem bat doch auch die semitische Religion ihrer-
seits nicht nur von der ägyptischen, sondern auch von den ost-
asiatischen Religionen vielfache Elemente aufgenommen,^ was aller-
dings nu^ möglich wat unler der Voraussetzung einer sdion von
vorn herein gegebenen Verwandtschaft, die hier in dem, wenn
auch sehr verschieden modificirten, doch allen gemeinsamen sideri-
schen Gharaker zu suchen ist. Ware nicht der Gestimcult unter den
Phöniciern einheimisch, so würden sie nie darauf gekommen sem,
die von Ostasien herstammenden Feuergötter anzubeten, was immer
nur so geschehen konnte, dass sie äre eigenen Götter mit den
fremden Attributen versahen und sich damit die Identität der-
selben mit den auswärtigen Göttern zum Bewusstsein brachten.
Diese Verml^hung urc^rüngUcb unatAängiger, religiöser Vorstel-
lungsweisen ist sehr frühzeitig vor sich gegangen. Schon in def Ge-
nesis finden wir Data, aus denen auf einen sich auch auf das re-
ligiöse Gebiet erstreckenden Verkehr schliessea lässt (Gen. 14, 2j.
Das Hauptereigniss, von 6em aller fernere Einflsss datirt, ist aber
das Auftreten des assyrischen Reiches auf dem Schauplatze der
Geschichte. Jetzt ist von dem sogenannten Himmelsheer die Rede
(2. Kön. 23, 5. 17, 10. 21, 24.)) uiid die Gestirne werden als
itiM ttir Uebergang in dasselbe. 5J
naWhd, AlbM 'ftU Repflf»ent«nt«A allgemeiner Natui^MätMe 6^gät\*
sfafrtd deü CuRte.
Dl« phJMic^he Religriofii »t iv'esentlieh Naturdiehi^ In m
Weise iMmlich, Ams ^ie die allgemeinen Potenzen des Natuiiebertii
hf den bimmlischeti Weseii, den Gdstirhen, verkörpert, mithin dies;6
ä]^ Natufgöttef arrbeftet. Der Inhalt, um dessenwillen die Oedtirnö
vergmtei'f werdeti, ii$t somit ein selbstständiger, una1)hähgig tori
Ihnen gegebenef , der oft auf aiiemlich THIlkürliche und zuMf^e
Weise mit ihnen verknütpft wird. Dieselben Himmelskört^er könn^
auf diese Weise in ganz verschiedenen, ja enfgegen^e^tzten Be^
zfehnhgert vörehrt werden, insofern sie als Sterilbilder versöhiedeAfe*
Natiinriächte gelten. Die NatÄrmächte aber sind eS, denen dei*
CuKus ^iit, nnd der Charakter desselben ist ganz durch das Weseh
jener Mächte bestimmt, jene Mächte sind eb^ nur di^iiselbe Tb^'
ligkeit, die der Cultus darstellt. Durch den Einflnssi dts asisrf^i^
^chen, babylonischen und fnedopärsfschen Aeichös^ in denen allen
das nämliche Religionssystem herrschte,^} trat eine Aenderdn^
in dieser Beziehung ein. Die Gei^ttfne wurden jetzt Gegenstaiff
eineiö ielbirtstSndigen Cullös wegen der von ihnen unzertrennlicheif
Eigefilschaff deä Lichtes urtd d^s Peu^r^, M wurden als hehre,
befhgd Wesen ängescfaanf, itii gänzlichen Gegensatze zu den denr
Menschen äo befreundetefif ttni sein eigenes Leben in desi^n we-«
sentlichsfetf Beziehungen darstellenden Naturgöttem. Allein diese
wutidc^ (fesshfilb keineswegs verläugnet, sondern der fremde Cul-
tQs und Ste frem'den Attribute, die ni^mab die Idtotitäf des gdtt^
liehen Wesens aufheben durften, nur neben die alten gesteift,
^e auch ihrerseits die Perser und Babykmiir die Altribüt^ der
*) ^Seit dem Anfttettü der kujfeif 2ff VordAraden, f«g«fl'di6 Btilte det B,
Jahrhunderto, war über den grdMten' Theil Asteng yon den Grunzen In-*
dien» und Baktras bis an die Küaten des mittellftndiscihen Meeres wesent*»
lieh eine und dieselbe Religion Überali ab Staatsveligion eingefi^rl und
in allmählich immer grösseren Kreisen verbreitet; dekin wie die Aufbin«
«nderfolge der asiatisdieB Wekreiehe der Assyrer« Cbtfldäer «iid Medo«
perser im Grande nur ein DynastieDwechBel war^ bei dem dasRegierlings-'
System und die Politik Auf die Ecken d^r assyrischen Monarchie über-'
ging, so blieb auch das Religionssystem bcfi den Chatldäerh' und Persern,
ton MbdificJUtioneil abge^h^n , w^iHli^ dass^lbi6, wek$te^ schon di^
Assyrer geltend gemacht hatten." (Movers, p. 71.}
4*
52 Beck, die gesdiichtl. Voranssetoniigen d. hebr. Religionsprinzipf
phönicischen Gatter auf die ihrigen übertrugen und sich somit auch
ihren Cult aneigneten. Die verschiedensten Culte sind so in ein-
ander übergegangen und die complicirtesten Gottesbegriffe, die
sich denken lassen, entstanden. Doch darf es nicht übersehen
werden, dass die phönicischen Götter eben als Naturgötter dieHög-*
lichkeitin sich enthalten, auch die andere, dem menschlichen Leben
fremde oder gar feindselige Seite, die in den auf sich selbst be-
ruhenden; ihren eigenen überirdischen Gesetzen gehorchenden
Licht- und Fenerwesen des Himmels angeschaut wurde, an sich
hervortreten 2u lassen, besonders insofern sie selbst als sidorische
Potenzen betrachtet wurden. Der nächste Stützpunkt für die Theo-
kratie wird wohl die Identität der Gestirne gewesen sein, und
dann wird noch die in dem Begriff der Naturgöttcr liegende und
aus demselben heraus sich entwickebide Dualität und Entgegen-
setzung hinzugekommen sein« Diese innere Möglichkeit mossle
zur Wirklichkeit werden, sobald die Geschichte die betreffenden
Religionskreise in äussere Berührung mit einander gebracht hatte.
So konnte di > phönicische Religion eine so hohe Ausbildung und
reiche Mannigfaltigkeit erreichen, als wir in der That in ihr vor-
finden; sie konnte erst dadurch ihrem natürlichen Prinzip seinen
vollen Gehalt geben, dass sie es mit fremden Anschauungen ver-
setzte und dieselben wiederum mit diesem Prinzip durchdrang.
Aber in demselben Masse, als sie ihre Viiiuosität in der Verar-
beitung der ihrem Wesen entsprechenden Elemente auswärtiger Re-
ligionen entfaltete, entwickelte sich das ideale, übersinnliche Prin-
zip in Israel, das von nun an alle Kräfte seines Geistes auf die
Gestaltung und Sicherstellung dieses Prinzips verwendete, während
der Naturdienst immer mehr den Charakter eines Fremdartigen,
Antinationalen bekam, als an dessen Ausbildung der hebraisshe Geist
nicht betheiligt war. Die Dualität des semitischen Prinzips trat erst
dann hervor, als die verschiedenen stanmiangehörigen Volksgeisler
ihre eigenthümliche Productivitat zu entwickeln begannen und eben
damit in Kampf gegen einander traten, ein Kampf, der eben seine
geschichtliche Bedeutung innerhalb des einen Volkes hatte, dem
die Hervorbildung des idealen Prinzips zur Aufgabe geworden
war, als Kampf zwischen dem niederen, in den Naturdienst ver-
sunkenen Volksleben und dem prophetisch-^ priesterlichen Geiste,
nd ihr Uebergfing in dasselbe. 53
der sein Orgfan sowohl in erwählten, kastenmässig abgeschlossenes
Kreisen, als in vereinzelten erleuchteten Männern hatte.
Das höhere Prinzip aber, welches von diesen Männern vertreten
wurde, konnte sidi nur mit steter Beziehung auf das geschichtlich
vorausgegangene Princip entwickeln^ das, wie wir eben sahen,
auch innerhalb des hebräischen Volkes selbst einen Boden fand;
sein Ursprung lässt sich nur unter der Voraussetzung jents Prinzips
erklären, als dessen eigenes ideale Supplement. Dem widersprich!
allerdings eine genugsam bekannte romantische Geschichtsansichl,
welche die Entwickelung der Menschheit als Abfall von einem
höheren Princip betrachtet, und der unter Anderen A. W. von
Schlegel Worte geliehen hat: „Je mehr ich in der alten Welt-
geschichte forsche, um so mehr ttt)erzeuge ich mich, dass die
gesitteten Völker von einer reineren Verehrung des höheren Wesens
ausgegangen sind, dass die magische Gewalt der Natur über die
Einbildungskraft des damaligen Menschengeschlechts erst später die
Volksgötterei hervorrief und endlich in dem Volksglauben die gei-r
stigen Religonsbegriffe ganz verdunkelte, während die Weisen allein
das uralte tieheimniss im Heiligthum bewahrten.^ Auch Hovers
scheint dieser Ansicht beizupflichten. Allein seine ganze Darslel^
lung jenes ursprünglichen, vermeintlich höheren Standpunktes fällt
sehr karg und dürftig aus, im Vergleiche mit der reichen Mannig^
faltigkeit und Vielseitigkeit des Naturdienste;s. Wenn Movers aus
dem Umstände, dass der oberste Gott der Semiten, El, auch Eljon =
Bei Saturnus geheissen habe, den Scfaluss zieht, dass dieser El
mit dem Gen. 14, >18. f. genannten eins sei und folglich nach v. 22*
a. a. 0. derselbe als Jehövas so wird das nicht zugegeben werden
können. Bekanntlich hat die Stelle in der Genesis zu den abentheuer«
liebsten Fabeln Veranlassung gegeben, und selbst in der einfachen
Form der biblischen Sage kanii die Absicht nicht verkannt werden,
den gemeinsamen obersten Gott der Semiten dem hebräischen
Volke in seinem Ahnherrn ausschliesslich zu vindiciren und somit
die stammverwandten Völker als Abtrünnige erscheinen zu lassen,
eine Absicht, die auch Gen. 9, 36. hindurchscheint. Das Einzige,
wa& sich über diesen El, als gemeinsamen Gott der Semiten, fest-r
stellen lässt, ist, dass er die allgemeinste uiid unbestimmteste Forni
des Naturlebens gewesen, ohne noch auf ausschliessliche Weise an
irgend ^ine bestinun|;e Erscbeinong oder Aeu^serung desselben
54 Beck, die geschkhil. Voraussetzungen d. bel^p'. Religiontpriiuipf
gebunden zu sein. Ißx ^hört aber um nic!|ts waiig^r, wps aHch
Movers nicht verkennt, gana find gar der Naturansfrhauung 9fi, die
eben noch eine unentwickelt^, unbestimmte ist. Nur dadiirch, dass
jener oberste Gott den allgemeinen Begriff der N^t^rgottbeit in
sich fasisfte, yford e^ möglich, dass er nachher mit allen den b^
stimmten N^turgotthejten zusainiftei^Ben konnte, die jn ißf Tbat
pur sein «eigenes Geheimniss an depi T«g br^)lJ^>^- Die gi»ze
liachfolge^de reiche Naturansch^uung fst ein fpftlfi^feTi^or Cqvmenifff
m jenen einfachen Voraussetzungen.
Van verwechselt die Unbestimmtheit 4er Naturanschduung mit
der übor (l^r^elbep erhabene^ ideiden Anscl^iouiig, man verkennt
den durchgreifenden Unterschied des schopi in der ))iMisch^ 6age
a. a. 0. ab der allgemeinen Macht der Natur CV^JW D*tt« ttSp)
bezeichneten £1 Eljon von dem seinen wesentlichen Gegenstand \n
der menschlichen Welt findenden Jefaova.
Von einer Geschichte jener Urform der Naturreligioii kpnn
nicht die Rede sein; als unbestimmt, unentwickelt ist &e eben
geschichtslos , ihre Geschichte ist eben ihre Bestmimung, also etwas
anderes, als sie selbst, nämlich die ausgebildete Naturreligion. P^^i*
unbestimmte Erscultus, dem wir allerdings ein en^irisches Dasein
nicht absprechen dürfen, ist nichts als die unendliche Vereiofacbung
der späteren reichen Naturanscbauung, und zwar d>eii der Natur«
anschauung, nicht der geistigen. Es muss immer festgehalteu werden,
dass jener Cult sich ganz innerhalh dieser Schränken befand und
nur durch die geschichtliche Durchbrechung derselben es. zur Ent-*
faltung eine^ nur potmlia d^eweaeneu, höherea Princ^ bringen
kannte, indem die Naturauschauung die wahre, cancrete Einfacheit
gewann, deren nur unbestiswiter Widei>achein in äurer Voiws*
Setzung enthalten war.
So wird man allerdings sagen können, daaa die ursprüngUeke
Einfachheit erst im Monotheismus, zu ihrer Wahrheit gekommen und
somit diesem verwandter als dem Naturculte gewe^n ist, wenn
man nur nicht vergisst, dass jene Einfachheit sich noch immer
innerhalb der Naturanschauung befand, deren ganzer Reichthum
entwickelt werden musste, bevor dieser Boden verlassen und die
Bestimmtheit dos Göttlichen in geistiger Weise gefasst werden
konnte. Die wahre und wirkliche Einfachheit als concreto Einheit
lind ihr Uebergang in dasselbe. 55
<fes Mannigfaltigen konnte erst in der geistigen Anschauung erreicht
werden, welche somit das Räthsel der Naturreligion gelöst hat.
Wegen dieser Unbestimmtheit seines Wesens ist jener angeblich
geistige Gott gänzlich aus dem geschichtlichen Leben der Religion
verdräi^ und hat nur seinen Platz in der mythologischen Tradition
oder in den Mysterien der Gewaibten bewahrt. Er ist in keine
lebendige Beztebung zu dier übiigen Gdtterwelt gesetzt. Diess ist
aber ier Fall mit der Naturgottheit in ihrer nächsten Bestimmung
»Is Bei, welcher als der Vater der anderen Gölter vorgestellt wird,
mithin in der Vorstellung von denselben untrennbar ist. Er setzt
aber als der V^iter die Söhne voraus, a}s Alter ('jln*'«) «üe Jungen,
als Vitasi (aqx^» ^(ov öaif^ovitav Mt. 12, 24) den Hofstaat.
Seine Vorstelluug ist die d^ natjürlicben Daseins, wenn auch nur
in dessen allgemetuslen Formen und Aeusserungen , z. B. die des
Lichtes, des Feuers (aus der wahrscheinlich die Bezeichnungen
X^yn ^yn dl 26, 15 u^d :y^yj ^yp, herzuleiten sind), aber ganz
besonders die der Zeit (worauf auch der Ausdruck der Alte von
Tagen, Dan, 7, 9 anzuspielen scheint), und er wird als Zeitgott,
d. h. metaphysisch als das ewige, uranfängUche , sich stets gleich-
bleibende Wesen ny^N, ibn (l^tl) genannt, wenn auch hier die
mythische Vorstellung von einer 'Offenbarung als König in der
Urzeit hereinspielt. Der Name n^n kommt bei den Griechen wieder
als Kronos vor. Und w%en dieser Identität des Bei mit Saturnus
bestätigt sich die Nachricht der Frofanschriftsteller von dem jüdi-
schen Saturncultus, der ja auch in der berühmten Stelle Arnos 5, 26
ausdrücklich erwähnt wird. Kijun und Keiron ist der Name des
Saturn als Trägers der Welt und entspricht genau dem SymMe
einer Säule, unter welchem er vorgestellt wird. Das Amos'sche
Satumbild wird die Figur einer solchen Säule gehabt haben. Diese
Symbolik hat sich übrigens fan Jehovaculte erhalten, (in den Tempel-
säulen} sowie auch die attischen Prädikate Saturns später auf Jehova
als den. Heiligen und Geweihten übertragen wurden, Dass dieser
Gott mit dem Pl^ineten Saturn zusammengebracht wurde, hängt mit
astrologischen Vorstellungen zusammen, die kaum aus dem semiti-*
sehen ReUgionskreise erklärt werden können — es würde vielmehr
in demselben, als wesentlichem Naturdienste, ein so unscheinbarer
Hauet nicht zu der grossen Bedeutung, den obersten Gott selbst
56 Beck, die geschieht 1. Vörmssetanngen d. hebr. Religionsprinzipi
dareustellen, gfekomman sein — ; diiss aber diese Verimüpfung sehr
frühzeitig ^vor sich gegangen, erhellt aus der seit undenklichen
Zeiten iiber das ganze Vorderasien verbreiteten Heiligung des
^aturntages, der bekanntlich in der SU^el von der göttlichen Feier
nach dßr Schöpfung hergeleitet wird. Wir haben aber schon oh^i dar-
auf bingedetitet, dass die Vermischung setiiitischer oder osti^iatisdier
Jleligionselemente von den frühesten Zeiten datire, und dass eben
der Plane! Saturn auf diese Weise in den semitischen Beligionskreis
aufgenompnen worden ist, dafür spricht anch der umstand, dass
Saturn in der babylonischen und persiscl^en Religion als oberster
Gott der. ganzen Welt galt, deren einzelne Länder den anderen
Gjl^ttem als Lehen — gieinz in der Weise des persischen an Satrapen
ausgestUckten Reiches — zufielen. Auch diese Vorstellung finden
wir im A. T. wieder, indem Jehoya der Sonne und dem Monde
und dem ganzen Hiqnmelsheere, jedwedem sein besonderes Land
angewiesen, Deut. 4, 19, und wie nach persischer .Vorstellungsweise
die Erde an die zwölf Zeichen des Thierkreises verlheüt war, so
nach den israelitischen ßegriflPen nach der Zahl der zwölf Stämme,
Deuf. 32, 8.
Es erhellt aus diesen , aus deih Saturndienste in die hebräische.
Religion aufgenommenen, Elementen , dass pnan mit weit grösserem
Rechte ^ol-Saturnus al^ den unbestimmten El , als den gemeinsamen
Gott der Semiten hezefchnen darf. Hovers will aber das nur von
dem i^och nicht mit einem bestimmten Natu^objecte identificirten
El gelten lassen, während er docb nicht im Stande ist, bestimmte
Züge an diesem Gptte herax^szuhehen, die sich in der späteren
Entw'ickeliing der hebräischen Religion erhallen haben. Allerdings
mag der EI ^nch der gemeinsame, ursprüngliphe Gott der Semiten
gewesen sein, es ist aber damit nicht; yiel gesagt, da selbst die
slupende Gelehrsamkeit eines Hoyers gar nichts Bestimmtes^ Ge-
schichtliches an demselben oder seinem CuUe nfipih^fl h^\ machen
können; die Qemeinsanfkeit lässt sich in der That um viel weiter
verfolgen bis zu einem Gottesbilde, dessen zum Theil auf semiti-
schem Boden gewachsene, theils aus osf asiatischen Religionskrefseq
entnommene jf,ngß auch nicl^t in der späteren Entwickelung der
hebräischen Religiosidee verwischt sind. Bei, an den die Idee des
Planeten Saturn, als der welterhaltenden Macht (wofür derselbe in
(ien ostasiatischen Religionen galt) angelehnt wurde, kann also als
und ihr Udl>erfang in dasselbe. j57
der allgemeine Gotrder Semiten gelten, und er hat nicht nur in
seiner hier besprochenen ursprünglichen, einrachen Gestalt, sondern
noch mehr durch seine fernere Entwickelung in einer Reihe von
Naturgüttem seine Bedeutung in der späteren hebräischen Religion
behauptet. Indem wir aber diese Entwickelung betrachten und in
solcher Weise die Gemeinsamkeit auch auf abgeleitete, secundäre
GötlergestaU«»n ausdehnen müssen, darf der Unterschied nicht über«
sehen werden, der darin besteht, dass Bei alle Bestimmungen der
abgeleiteten Götter in sich vereinigt, während diese nicht seine
allgemeinen Bestimmungen in sich aufgenommen haben, woraus
sich also ergibt, dass nur Bei als der atle Bestimmungen der Natur-
gottheit, von den abstractesten bis zu den concretesten, in sich ver-
einigende, als der gemeinsame oberste Gott der Semiten gelten, und
Aiss man, nur von seinem Begriffe ausgehend, alle an die Natur-r
religion erinnernde Momente des hebräischen Cultus erklären könne.
Der oberste Gott der Semiten hat also eine andere Bedeutung
nach dem jedesmaligen Verhältniss, worin er zu den abgeleiteten
Göttern gesetzt wird. Wir, die wir uns die Erkenntniss der
geschichtlichen Entwickelung des religiösen Bewusstseins zur Auf-
gabe gesetzt haben, müssen natürlich das Moment des Unterschiedes
der einzelnen Götter gegen einander festhalten; das religiöse Be^
wusstsein aber, das seinen Gegenstand in irgend einem Gotte findet,
kann denselben unmöglich von dem Wesen trennen, das ihm als
der allgemeine Inbegriff alles Göttlichen gilt, es muss mithin die
besonderen Gottheiten als identisch mit dem allgemeinen, höchsten
Gotte betrachten, oder es hat in denselben nur diesen zum Gegen-
stande. Insofern der höchste Gott von den abgeleiteten getrennt
«wird, hört er eben damit auf Gott zu sein, und sein Verschwinden
aus dem religiösen Bewusstsein als solchem muss ihn in sein Gegen-r
tbail verkehren, so dass er als ein Teufel und mythisch als ein in
seiner wohlverwahrten Burg im siebenten Himmel wohnender Gauner
und Räuber vorgestellt wird (Movers p. 321), So lange aber das
nicht geschehen, wird er noch unbefangen mit den immer reicher
und mannigfaltiger ausgebildeten Gestalten der Naturreligion iden-
tificirt, und zwar zuerst mit Baal (^73, wogegen ^3 Jer. 50, %
-Jes. 46, 1.3 als seiner nächsten Bestimmung, und dieser ist die
allgemeine, geschichtliche, immer gebliebene Naturgottheft der
«emitischen Völker, als deren Herr und Besitzer er auch schon
1^ Die gcschielitl Vprausselxtingen des faebrüUclMn Xldisionsprüieipi
durch seinen Sfamen beseiclmei wird. Baal bar die wirkliche iet^ea«
fdige Natur zu seinen labalte, Di<)ht die abstra<^en melaphysisicheii
Schemen, wie der Belus. A^ die allgemeine Macht der Natur, als
4er iDhegriff der Naturkräfle ist Baal allgemeiner Name, wenn auch
nicht (bloss appeUaüvische Bezeichnung der Gottheit in ihren ver-
schiedenen Beziehungen; da die Gottheit wesentlich nur eine, mit
sich identische ist, wird der Name allerdings als nomm proprium
Ml betrachten se|n, erhält aber einß noch näh^riei B^tunmung durch
Beifügiivg anderer Namen ^ die uns £e besonderen Seiten der
nUgemeinen N;iturgottheit vor Augen stellen. Der eine Baal wird
dergestalt zu einer Mannigfaltigkeit einzelner Naturgötter (0*^^:^3)1
deren wesentlidie ]Sinheit für die religiöse Anschauung immer fest
stand. Der allgemeine Begriff der Naturgottheit ist der der erzeu-
genden, hervorbrlipgenden Kraft, imd das bestimmte Naturob^t,
in dem diese Kraft verkörpert ist, ist die Sonne, die ebenfalls in
der babylonischen Religion, wenn apch miUeJi^ anderer Motive,
eine Hauptrolle spielt. Wie wir eben sahen, dass der alte Bei,
gleichsam der id^g^eschiedene Gei$% der Naturgottheit, die metaphy-
sische Abstraction derselben, sein natürliches SMbstrat in dem
unscheinbaren Planeten Saturn hattß, so finden frir hier den Baal,
ate den lebeiidKräftigen, inh^ltvpUan Gott, an einen entsprechenden
{ümmekkörper geknäpft. Dar Unterschied zwischen Salunras und
Sol wird uns den zwischen 3(4 pid Baal stattfindenden veransdiau-
liehen können, wenn auch di^ religiöse BewN^^tsein sich de^elben
nicht vergeg^dwär^igte.
Der Umstand, dass in Bei» j^s dem ursprünglichen €ki^e^ eine
einfachere F^urm der Gottes«aschiainng gegeben ist, als in der ent-
wickelten GestnU der Naturgottheit, kann nicht als Beweis für den
Satz gelten, das» die semitische EeUgion nicht von Hanse aus
Naturreligion gewesen , wie diess Movers will. Er sagt : würe die
phönicische Religion, vrie überhangt die der Semiten von Haus aus
Naturdienst gewesen ^ wie sie uns und zwar mit einem vorwiegenden
solarischen Elemente erscheint, so müsste notbivendig die erste und
höchste Gottheit den ganzen, vollen Begriff der Naturgottheit getragen
habra, sie müsste Sol -Beins und nicht BeUSatnrnns sein. Wie?
Weil die erste und höchste (d. h. uri^rUngUche} Gottheit nicht den
ganze«, vollen (d. h. den entwickelten} Begriff der Naturgottheit
trug, filso weil es überhaupl eine Entwickeliing/cine Geschichte
und ihr U«bergaiig in dasselbr. gO
fmdl des ki die NftturaascbaiiiiDg versenkten B^ü^Ufigiseins gegeben
Mj de8shaB>soU die semitische Reügion überhaupt (p. 3)9} und
ursprünglich nicht Naturreligioo gewesen sein? als ob sie nicht
üherhaupt Naturreiigion wiire, wenn der Fortschritt von den
äjrmereip, einfacheren, zi| den reicheren, ausgehiUeteren.Ansdiatt-
ungen sich stets innerhalb der Schranken des natürlichen Daseins
)>ewegte^ als ob sie niiAt ursprünglich Naturreiigion gewesen,
wenn ihre primitive Anschauung nicht qualitativ über der spiiteren
Naiuranschauung erhaben , sondern nur eine Vereinfipchung derselben
war? Und geht wohl das, was die Hovers'sche Gelehrsamkeit als
ur^rünglichen Inhalt des Betebegriffes nachgewiesen hat, in ii^end
eii^r Beziehung über die Natur und die Welt hinaus? Ist etwa
die Zeit Ci^n}f ist etwa die allgemeine erhaltende Macht di'r
Welt, in eifern natürlichen Abbilde symb^isirt, ein Geistiges?
Das wird Movers nicht behaupten kennen. Man wird ihm Recht
geben können, wenn er sagt, dass der alte Bei (Belitan) nicht als
^ine spätere Absiractian des entwickelten Begriffes des Naturgotles
Sm1-^P99I angesehen werden dürfe, allein der Zusammenhaag mit
dem späteren Naturgotte ist damit ni^ abgewiesen; Bei gehijdrt
noch immer der Naturrd^ion an, er mag als die etn&cbe Voraus^
Setzung, oder als die Abstr^ction der inhaltsvolleren Naturgottheiten
genomnten werden. Wenn man ihn auch wie Movers ein ätheri-
sches Wesen heisst, man kommt damit nicht über die Naturan-
schauung hinaus. Wenn Movers ferner biemerkt, dass die Idee von
Bei, als einem über der vergänglichen Welt erhabenen unvergäng-
lichen Wesen, tiefe Worzeln im religiösen Bewusstsien gefasst haben
nuissle, da er sonst zum höchsten -Naturgott umgeschlag^ sein
würde, so widerlegt er sich selbig auf die schlagendste Weise,
wenn er noch hinzufügt; das ist allerdings geschehen, deralte
Bei, ist zi^m jüngeren, zym SoUBel, zum Naturgott geworden;
dadurch wurde aber die Idee desselben nicht verdrä^g^ sondern
der alte Naturgott erhielt siich in seinem Range neben und über
dem jüngeren Stammgott. Allerdings erhielt diese „Idße^ sich noch
immerfort, aber insofern Bei nicht als Naturgottheit, nicht als Bai^
gedacht wurde, hatte er alle Bedeutung Tür das religiöse Leben
und im Cultus verloren, er erhielt sich nur in dor mythologischen
Tradition, bis er zuletzt aus einem indifferenten zu einem gar
bösen Wesen wurde, wie wir oben sahen. Bei hatte von Hause
00 Beck, die fetchichtl. Vorausietzungen d. hebr. Religionsprinzipf
«US die Bestimmung, den „ganzen, vollen^ Begriff der Naturgottheit
SU tragen, und sobald er in der geschichtlichen Entwickelung des
religi^en Bewusstseins dahin 'gekommen war, musste sein früher
einfaches Wesen In seiner Abstraction von diesem reichen Inhalte
zu einem hohlen Gespenst werden, weil es eben nichts enthielt,
als was zur bestimmten Gestalt in den späteren Metamorphosen ge*
langt war. Was den Scharfsinn eines so ausgezeichneten Forschers
wie Movers in diesem Fall immer trübt, ist das Hereinscheinen
des idealen Jehovabegriffs in den abstracten, unbestimmten Bels-
begriff, dessen er sich nicht erwehren hann. Er unterscheidet
nidit zwischen einem abstracten natürlichen Wesen, das er selbst
doch nur ätherisch nennt, und dem concret geistigen, er geht da-
bei von der empirischen Betrachtung des geschichtlichen Kampfes
zwischen' Jehova«* und Naturdienst aus, und erschleicht mittelst
dieses Gegensatzes eine Identität zwischen Jehovismus und der
Voraussetzung des Naturcultes. Diese Identität ist aber illnso^
riscfa, es war allerdings die endliche Bestimmung der unentwickelten
Naturanschauung, zur Idealität erhoben zu werden, aber die vor^
klii&ge Bestimmung war eben, die Entwickelung auf ihrem eigenen,
UFspriInglichen Boden, um sich durch dieselbe gänzlich aufzuheben
imd einer geistigen Anschauung Bahn zu brechen, die sich natür-*
'lieh nur im schroffsten Gegensatze zum Naturdienste entwickeln
konnte. Während also die einfachste Form der Naturreligion mit
Recht als die ursprüngliche und gemeinsame Anschauung aller Se«-
railen betrachtet wird, kann diess nicht mehr von der entwickelten,
ausgebildeten Naturreligion gelten, die wir erst, nachdem sich be-
reits das höhere Prinzip aus ihr hervorgetrieben hatte, also nur im
Kampfe mit ihrem Gegensatze, kennen | dieser verhinderte aber nicht,
dass auch diese Stufen der Naturreligion viele Elemente auf den
Jehovimus vererbten, die nicht unschwer wiedererkannt werden.
Die ideale Anschauug hat in denselben ihren Ursprung verrathen,
und sie konnte er in der That gar nicht entstanden sein und auf das
Volk irgend einen Einfluss gewonnen haben, wenn sie sich nicht
atis den Elementen der geistigen Welt dieses Volkes selbst gebildet
hatte. Wenn wir auch im alten Testament den Baal imrner im
Gegensatze zu Jehova finden, so hat der letztere sich doch nicht
vieler ifus dem Gegensätze hergenommenen Bestimmungen erwehren
iHid ihr Uebergang In dasfefbe. f |
können, deren Herübernahme uns der israeliliscfae CttKus ver-
rathen hat.
Baal ist also das lebendige Prinzip der mannigfaltigen Götter-
welt der Naturanschauung, ist nie von derselben geschieden oder
in den Hintergrund getreten, wie sein Vater der alte Bei, die
göttlichen Erscheinungen gelten nur ids göttlich, insofem sie Baal
sind. Er ist aber auch nur das allgemeine Prinzip, das sidi eben-
sowohl von den besonderen Gestaltungen unterschiedet, als es sich
mit ihnen identisch setzt. Sein Begriff ist der der Naturkrafl im
Allgemeinen; die einzelnen Momente desselben sind die besonderen
Bestimmungen und Aeusserungen jener Kraft, deren jedwede wie-
derum das Prinzip einer individuellen Gestaltung des göttlichen
Wesens oder einer Modification des Baal wurde. Gewöhnlich wird
dann diese Modification mit einem besonderen Namen bezeichnel
(dem nomen proprium des betreffenden Gottes z. B. nbQ.}, zu-
weilen wird aber auch nur der allgemeine Gottesname Baal ge-
nannt, so dass es nur aus dem Zusammenhange der Rede ent-
nommen werden kann, welcher Baal gemegit sei. Es muss eben-
sowohl die Identität der besonderen Göttergestalten in dem 'ge-
meinsamen Prinzip, als die Differenzirung der letzteren immer fest-
gehalten werden, wenn nicht die schon an sich trübe und verworrene
Welt der Naturanschauung noch trüber und verworrener werden
soll.
Zunächst erscheint der allgemeine Begriff der zeugenden und
belebenden Naturkraft als ein in den Gegensatz hineingestellter,
mithin als ein besonderer; der Sonnengott Baal, als die ausdrücklieh
und mit Beziehung auf den Gegensatz gesetzte positive Natur-
gottheit 5 ist solcherweise der Adonis, dessen Name auch nur eine
Bezeichnung des allgemeinen Begriffes Herr ist, Adonis ist vor-
zugsweise Baal, als die unmittelbarste und nächste Besonder ung des
Begriffes der Naturgottheit. Das Eigenthümliche dieser Besonde-
rung der Naturgottheit und des Gegensatzes, durch den sie bedingt
wird, vermögen wir aus dem Cultus zu erkennen, dessen einzelne
Züge theilweise nur eine Wiederholung der im gemeinen Lebeft
herrschenden Sitte sind. Das Adonisfest war theils ein Herbst-
und Neujahrsfest, theils ein Frühlingsfest. Wesentlich war es ein
Trauerfest, und zwar von derselben Dauer und mit denselben Gere-*
H^ Beck, die gesctiidMl V4r»fläM»iiiinf^ d. %vhY. Reii^iotwprmzi}»
monien, als die ptutme Trauer am VersKirbene. Gen. SO, tO. (1. Sam.
31, 13.} Es nahm seinen Anfang, wenn das rothgerarbte Wa^er
der syrischen Fbisse die Ertödtiing ies Adonis verrielhen und sein
angeblicher Leichnam von Weibern aufgefunden war, um datin mit
allen gebrituchlichen Trauerceremonien, WebUagen, Zerfldscheii det
BrUste bestattel zu werden (Bzeeh. 8, 14. f. Jer. 16, 6., was eben
im Gesetze als Götzendienst verboten war," Lev. 19, 17. 28. 21 , 5.
Deut. 14, 1., sich tber doch immer erhielt}. Nach dem siebenten
Tage gab die angebliche Auferstehung des Gottes yeranlassun((*
zu eineji mit allerlei Ausgelassenheiten gefeierten Cultus. Dail
Fest dauerte vom 28. Septeinber bis zum 1. October, und schliess^
mithin eine doppelte Beziehung in sich, nämlich auf die absterbende
Kraft der die Frächte (unter denen die schönsten, wie der Granat^
«p'^' 'pTCT^ als Symbol des Gottes selbst gelten} zur Reife bringen-^
den Sonne, die als VOn der kalten Jahreszcfft getödtet vorgestellt
wird, dann die ganz verschiedenartige Beiziehung ailf das neua
Jahr (vom October anfangend}, dessen Einlritt in der Auferstehung
des Gottes versinnbädlicht wird* Der Sonnengott ist in dem ersten
Falle nach seiner zeugenden, fruchtbringenden Krafl, im zweiten
mehr in ostasiatiscfa-» astrologischer Weise bloss nach seiner Be-
deutung fttr den Kalender anfgelasst. Den eigentlichen Sinn di^
Adonismythus aber lernen wir erst aus dem Frühlingsfeste, das
vielleicht das ursprüngliche war, kennen. Kein Auferstehungsfest
wurde hier gefeiert, sondern' nur über den von dem Eber getödte-
ten schönen Jüngling getrauert. Man betrauerte in ihm denUebef-
gang der milden, befruchtenten MaSsomie in die durch den Eber
symbolisirte Gluth der Junisonne, mait gab endlich der Adonistrauer
eine Beziehung auf die Hinfälligkeit und das schnelle Verblühen
des menschlichen, jugendlichen Lebens.*} Auch in der ägyptischea
*} Diese Seite des Adoniscnltus tritt übrigens in der Haostfauer als selbst-
ständiger Cult auf, der besonders auf Cypern und in Aegypten herrschte
und sich auf den Tod eines angeblich ztt früh dahingerafften einzigen
Sohnes eines Königs bezog. Die hier gebriittchUchen Klagerufe waren
dieseUien, die auch bei gewöhnlicdien Trauerceremonien gehört wurden
(Jer. 22, 18). Dass diese Mythe auch bei den Hebräern Wurzel ge-
fasst hatte, ersieht man aus häufig vorkommenden' Anspiehingen; z. B.
die Trauer über den Eingebornen Arnos. 6 « 10. Ter. 6*, 26 (seinen« reflec-
tirt'^jehovistischen StHndpunkte gemäss leitet der Verfasser der Chronik
iHid ihr Uebeifffnc in 4iM«ift«. (^
Betigion finden wir dem Adonismytbus verwandte ZUge. fHnt,
Memnon als Morgensonne wird von dem Mittagsdamon, d. h. der
Gluth der miltäglicben Sonne, getödtet Meuinon ist also eine nodi
individaellere Fassung der Sonne als Adoais, der Mittagsdänioii:
eine engere Fassung des Sonnendämons, die an Mittag hocii^
stehende Sonne gilt also^als dämonisch, und wird als solche ver-
flucht. Auch von dieser «Sitte hat sich eine Spuv in der Sage des
Pentateuches erhalten. Wenn nämlich Lev. 24^. 10 fg, von einem
Israeliten, der ein Sohn einer Aeihiopinrin gewesen, erzählt wird,,
dass er Jehova fluchte und desshalb gesteinigt; wurde, so kann das
nur aus der späteren ¥erwechsetang ganz verschiedenartiger Be-«
griffe erklärt werden. Zur Zeit der Auswanderung aus Aegypten
war die Scheidung zwischen Jdiova und den Naturgöttern noch
nicht eingetreten, und Züge des Natiarcultus^ die auf dem späteren
Standpunkt sinnlos waren, mochten damals ganz in dier Ordnung
sein.
Neben dieser Trauer ging aber auch ein lasciver, ausgelasse-
ner Cultus, der sich ebenfalls in der Mythologie durch ent-
sprechende Erzeugnisse reflectirte. Demgemäss sollte A^donis in
Blutschande in der Umarmui^ eines Königes mit seiner Tochter
gezeugt sein. Gewiss ist die Erzählung Gen. 19, 30 fg., von Lotg
mit seinen Töchtern getriebener Blutschande, nur eine nach d(*r
Weise der Hebräer gemachte verständig -prosaische Travestirung
einer solchen nur in das Gebiet der Naturreligton hingehörigeii
Mythe.
Adonts ist also die positive Seite des Sonnenbaa), aber eben
als solche in den Gegensatz hineingestellt, das Positive, das nicht
ohne den Gedanken des Negativen ist. Ja, dieses Negative spielt
so^r in dem Cultus die HmiptroUe, die Stärke, womit dasselbe
geRihlt wird, soll uns eben den Werth des Positiven veranschau-
lichen. Im Frühlingsfeste tritt das Negative als ein an der zeugenden
Naturhrafl wesentlich Haftendes bestimmtest hervor , indem es eben
an der Sonne selbst, die zuerst als die erzeugende Macht vorge-
stellt wird, erseheint, lehrend im Herbste das negative Moment
35, 25 diese Sitte von der Klage über den Tod losias her), aadi (fie
ägyptische Trauer Jer. 50, 10. Die Mythe von Jephta's einziger Tochter
MdU der Klage über ihre Opferung Riebt. 11, 40 gehört «Hch hier her.
04 . Beck, di« getchiditl. VorMaietcmifciii d. hcbr. ReUgtonspriniipf
selbstständig heraiiflgehoben, oder wenigstens nicht an ein bestimmtes
Natorobject geknüpft wird. Der in dieser mythologischen Sphäre
in den Begriff der Gottiieit selbst gesetzte Dualismus geht in der
mythischen, wie wir späterhin sehen werden, auf ein feiniliches
Bruderpaar in den verschiedensten Gestalten, als Esau und Jacob
etc. ttber. ^
Wir haben hier noch einen besonderen Zug der Adonisidythe
zu erläutern, der namentlich in der jüdischen Religionsanschauung
immer seine Bedeutung behauptet hat« Wir meinen die dem Eber
oder Wildschwein übemAesene Stelle, die aus der Natur dieses
Thieres zu erklären ist. Die tddteude Gluth der senkrechten Sonnen-
strahlen wird in dem wüth<»nden, innerlich erhitzten Thiere zur
Anschauung gebracht, welches auch zur Versinnbildlichung des
giftigen Gluthwindes der Wüste gebracht wird. Nachdem aber
diese vernichtende, versengende Macht ihre besondere Repräsen-
tation in Mars bekommen hatte (s. w. u.}, wurde das Schwein, als
ein diesem dämonischen Wesen geweihtes Thier, Gegenstand einer
religiösen ßcheu. Es wurde beim Cultus der infernalen Gottheiten
in Opfermahlzeiten nebst Blindmäusen genossen, Jer. 65, 4. 66, 3. 17.
Nur aus dieser religiösen Scheu vor dem Schweine ist die
Abneigung der Juden gegen den Genuss desselben zu erklären, sie
glauben in dem Genüsse desselben den infernalischen Mächten,
denen es geweiht ist, zu opfern (Lev. 11, 7. Deut. 14, 8}. Dieser
Abscheu ist unter der Voraussetzung des späteren idealen Princips
durchaus nicht zu motiviren, sondern nur als ein Fest der Naiur-«
religion. Den Mächten derselben und den Naturobjecten , die ihnen
geweiht waren, wurde dann hier nicht ihre Bedeutung für die
religiöse Anschauung genommen, sie wurden nur in ihr Gegentheil
verkehrt und als Grauel gestempelt. Sie bdiaupteten also demnach
ihren Einfluss auf das religiöse Bewusstsein, waren mithin noch
immer wesentlidi in ihm enthalten. In dem Christentbume ist es
ebenso mit den geistigen Mächten des Heidenthumes^ mit den
Fürsten und Gewalthabern , ,jdie in der Luft herrschen ,^ gf^gangen,
sie sind in ihr Gegentheil, d. h. in den Teufel verkehrt; derselbe
ist aber als solcher immer wesentlicher Inhalt der christlichen Reli-
gion geblieben. Und wie die Schweinescheu ein Zeugniss abgibt,
dass das Judenthum niemals mit der Naturanschauung. hat voll-
kommen fertig werden können, so legt auch das Christentliuni
und ihr Uebergang in dasselbe. ß^
durch seine Teufetefurchl Zeugniss davon ab , cbuss es das Heiden-'
thum nicht zu überwinden vermochle»
Der Adonis war zwur die näefaste, ommtlelbarste Bestimmung
der Natnrgottheit, aber doch nicht imt dersdben in ihrer Allge-
meinheit identisch, er war eben dadmpch nur 0me besondere 6e-^
stritung der Naturgotthei^t , weil er die 'positive Seite derselben
und ihre Beziehung auf den Gegensatz darstellte, der allerdings
als an einen gemeinsamen Himmelskörper geknifft, doch auch als
mit ihr identisch betrachtet wurde« Die Naturgottheit wurde nur
als positive zeiigende Macht fimtgebabeni^ insofern sie sich im
immerwährenden Uebergang zum Gegentfaeil befindet, und die Be-
ziehung auf diese Metamorphose ^kielt in dem Cultus sogar die
Hauptrolle. Den^emäss wird schon in ^r Adonisvorstellung das
selbstständige Hervortreten de» negativeu Momaites der Naturgott-
heft vorbereitet, das eii^ so grosse Bedeutung in der semitischen
Religion gewonnen hat, dass man es als den aussciyiesslicben Inhalt
derselben ansehen konnte. Es hat ai dnem solchen Missverständniss.
vetnämlfclf der Umstand Anlass gegeben, dass die verzehrende,
zerstörende Seite der Naturmacht, insofern sie Oegenstand des
Cultus ist, mit dem allgemein -»göttlichen Namen belegt wird, eb^n
desshalb, weil im Elemente des Cultus die dnzelne Seite nothwendig
als die ganze Gottheit gelten musste. Ein« Cultus, der auf dem
Bewusstsetn der Schranken seines Geg^standes beruhte, wäre
ein Unding.
Die negative Seite der Naturmacht, zu einer seQ>ststikfdigen
Gottesgestalt hervorgebildet, führt den sich ebenfalls auf die theo^
kratisclien Vorstellungen beziehenden Namen Moloch und ist nicht
länger an die Sonne als siderrsche Potenz, die nimmer als aus-
schliessliche Erscheinung eines zerstörenden Prinzips geken konnte,
gebunden, sondern hat ihr besonderes Sternbild in dem Mars,
dessen feuerrothe Farbe ihn zu einem passenden Symbol des Feuer-'
gottes machen musste. Der Molochcultus ist bei den Israeliten sehr
alt; schon auf der Wanderung in der Wüste sollen sie sich ihm
ergeben haben, nach Arnos 5, 36., und auch sonst fehlt es un#
nicht an Nachrichten über das Vorhandeaseiu desselben. Num. 2Ö, 4#
Mich. 6, 7. 2. Sam. 21, 8. fg. 2. Kön. 23, 10. Rieht. 11, 24- —
Movers will zwei Epochen des Molochcultus unterscheiden^
indem er doch beide vom ostasiatischen Einflüsse herleitet. Doch
Jahrb. fbr tpeculat. Pbiloi. I. a. g
lUt Beck, die geschichtL YorauiUseUungen d. Iiebr. Religionsprinzips
hat dieser Unterschied nicht viel auf sich, da beide Molochs ab
kinderfressende Feuergötler genannt werden. Es mag sein, dass
jener alte Cultus zu einem neuen Leben gerufen worden ist, als.
die Völker, bei denen der Feuerdienst eine Hauptrolle spielte, auf
dem geschichtlichei^ Schauplatze erschienen, allein ein wesentlich
neues Element haben sie nicht in jenen alten Cult hineingebracht.
Allerdings sucht Movers dem in der assyrischen Periode herr-
schenden Feuerdienst dadurch ein eigenthümliches, von dem älteren
unterschiedenes Element zu vindiciren, dass er ihn als Umbildung
des bereits entwickelten Adonisdienstes betrachtet, während der
ältere Molochcult unmittelbar aus dem einfachen Saturn« oder
Bel'sdienst hervorgegangen sein soll. Es lässt sich gewiss eine
solche Priorität des Molochcultus vor dem AdoniscuUe nicht als
durchaus unmöglich abläugnen; das wüste, unbestimmte Wesen des
ewigen Zeitgottes konnte allerdings einen entsprechenden Cultus
in der Vernichtung des individuellen Lebens finden, wie sie uns
in den Kinderopfern dargestellt wird , allein jene Priorität vor dem
eigentlichen AdoniscuUe schliessst noch keineswegs die Priorität vor
einem auf das positive erhaltende Princip des alten Gottes sich be-
ziehenden Culte ein. Vielmehr kann das Negative immer nur als
an einem Positiven haftend, sein Leben fristen, ein ausschliesslich
negativer Gott und ein auschliesslicher Cultus desselben ist ein
Unding. ?o findet die Movers'sche Ansicht über eine Veränderung
des Molochcultus ihre berichtigende Bestimmung in dem allgemeinen
Fortschritt des Cultus, worin auch eine Modification des Moloch-
dienstes mit eingeschlossen ist.
Der Moloch ist also die in dem natürlichen Elemente selbst
gegebene Negativität des natürlichen Daseins, sein Cultus das
aktuelle Setzen dieser Negation von Seiten der Menschen. Es erhellt
daraus, warum eben diese Form des Naturdienstes so viele ihrer
Bestimmungen auf den Jehovismus vererbt hat, wenn auch derselbe
im Princip über ihr erhaben ist.' Die geistige Anschauung der
Hebräer hat sich aus der Naturanschauung entwickelt und musste
sich nothwendig zunächst an die Form der Naturanschauung
anschliessen, deren Gegenstand das negative Moment innerhalb der
Natur selbst war, das erst auf dem geistigen Boden zu seiner
wahrhaften Bedeutung gelangte. Die geistige Anschauung stand nicht
niil einem Schlage vollkouimen fertig da, sie blieb noch lange ver-
'and ihr Uebergaiig in dasselbe. ß'J
setzt mit den Elementen ihrer natürlichen Quelle. — Das natürliche
Element, das innerhalb der Natur selbst die Negation des einzelnen^
natürlichen Daseins ist, ist das Feuer. Das Feuer spielt btskanntlich
im mosaischen Culte' eine g^rosse Rolle; man denke nur an das
ewige Feuer am Altare, Lev. 6, 6., an die Unterscheidung zwischen
heiligem und fremdem Feuer(Num. 3, 4. 30, 61.}, die Theophanien
Jehovas in Feuerfiammen, die Feuersaule vor dem israelitischen
Zuge in der Wüste, die Geläufigkeit der Vorstellung vom Feuer^
als Symbole Jehovas Deut. 4, 34. 9, 3., die Bezeichnung des Opfern
mit einem an den Feuercullus erinnernden Namen (niriN)- D'e
Ansicht, dass das Feuer eine reine, heiligende Kraft sei, findet
sich aüsdrficrklich in Nura. 31, 23. ausgesprochen. Daher der von
Feueropfern gebrauchte Ausdruck ^'^'^yTi (Jer. 32, 25. etc.), dessen
Bedeutung besonders Movers erschöpfend entwickelt hat. Das
Durchgehen durchs Feuer, d. h. die Verbrennung wurde als
eine Ablösung der unreinen Schlacken des Körpers, als eine LSute«
rung des natürlichen Lebens betrachtet, wodurch es mit Gott ver-^
einigt wurde. Merkwürdig, dass dieser Ausdruck auch bei der
Heiligung der Erstgeburt vorkofhmt, (Ezech. 13, 12.) was nur aus
dem Umstände befriedigend erklärt werden kann, dass dieselbe
ursprünglich geopfert wurde, was später zur Bestimmung des Pne-
sterdlenstes (die gar nicht so weit von der Bestimmung, selbst ge-
opfert zu werden, absteht) gemildert wird. Ezech. 20, 26.
Vi^ir sind also hier auf die Vorstellung von einer besonderen
Priesterkaste gekommen, die sowohl im Moloch *, als im Jehova«»,
culte eine so grosse Rolle spielt, besonders war nun die Erstge-
burt zur Bildung einer solchen Kaste bestimmt, wie wir bereits aus
dem Jehovaculte ersehen, wo sie allerdings ihre Rolle an den Stamm
der Leviten abtreten musste. Num. 3, 12. 13, .41. Diese Priester
hatten besondere Städte mit Grundeigenthum , ganz wie die Le-
viten im alten Testament. Als äusseres Zeichen ihrer Heiligung
trugen sie Bart und Haar gestutzt, was sowohl als sonstige Ver-
stümmelung Lev. 19, 27. 21, 5. verboten wurde. Auch die Be-
schneidung kommt hier vor, wodurch das Zeugungsglied der
Gottheit geweiht wurde; diese Sitte wurde, wie so viele andere
Momente des Cultus, wiederum in der Mythe reflectirt. Von dem
mythischen (irdischen) Saturn erzählt Sanchunialhon, dass er sich
und die Seinigen beschnitten habe, was nichts anderes bedeuten kmii^
5*
(}^ Beck, die geüclucltll. A'uraussetzungen d. hebr4 Religionsprinzips
als dass die Beschneidung ein wesentliches Reinignngs^ und Hei-
ligungsmitfel war, wodurch man sich dem hehren Feuergotte (es
ist nämlich hier nur von Saturn in seiner Identität mit Moloch di^
Uade} näherte. Die Beschneidung wird auch ausdrücklich bei
Jeremia (9, 26. 26 S. Movers p. 302) mit der Haarschur als Hei-
ligUQgsmittel parallelisirt. Da sie so gan^ dem Begriff des Moloch ent-
spricht, hat sie wahrscheinlich auch in dessen Cult ihren Ursprung
u^d wird wohl von Phönizien her nach Aegypten gelangt sein,
Nvo sie sich sehr fange erhielt. Allerdings hatten die Aegypteip
ein dem Moloch verwandtes Wesen, Typhon, aus dessen Culte
wiederum einzehie Züge in den asiatischen Moloch- und Jehovacult
übergegangene sein mögen. Der Typhon ist die alles versengende
Sonnenhitze, der tödtende Gluthwind der Wüste, sein Sternbild
ist das nämliche wie Molochs, nämlich Mars, der von den Griechen
nvQoetg genannt und als das wilde, unbändige Feuer angesehen
wird. Ausser Schweineopfern wurden dem Typhon auch Eselsopfer
gebracht, was sich auch gewissermassen im israelitischen Culte
erhaltev hat, indem die Erstgeburt des Esels dem Gesetze zufolge
(Ex. 13, 13. 34.) losgekauft werden sollte, was nur unter der
Voraussetzung zu erklären ist, dass sie ursprünglich geopfert wurde.
Der Grund, wesshalb aber der Esel dem Mars -Typhon -Moloch
geheiligt war, findet Movers gewiss mit Recht in der rothen, dem
Feuerplaneten entsprechenden Farbe, was auch durch andere Dat9
bestätigt wird. Es wurden nämlich auch rothe Kühe dem Typhon
geopfert, was wiederum in einer besonderen Weise im Gesetze
vorkommt, indem es nämlich Num. 19, 2. fg. vorgeschrieben wird,
dass eine rothe Ktfh zur Asche verbrannt werde, die eine
reinigende Kraft für den haben sollte, der von dem Priester damit
gesprengt wurde, eine verunreinigende dagegen Tür den Piester
selbst, offenbar, weil derselbe hier in ein Verhältniss zu einem
dämonischen, infernalen Wesen trat. Eine Beziehung auf den
in der Wüste hausenden Typhon -Moloch hat auch der Sündenbock,
der (nach Lev. 16) ihm in die Wüste als Opfer zugeschickt wurde.
Dieser Gott wird Azazel, d. h. der wegziehende Starke, genannt,
d. h. Mars oder Typhon, der, wenn die Hitze gegen den Ausgang
des Sommers nachlässt, sich in die Wüste zurückziehend vorge-
stellt wird, (das Typhonsf est wurde aber im October gefeiert, ver-
gleiche hiermit Lev. 16, 29, wo die Fortjagung des Sündenbockes
und ihr THtcr^nQ^ in d^seli)«. (}9
in dem siebenten Monat vorgeschrieben wird.) .deines heidnischen
Ursprunges entkleidet und zu einem dem Jehova dienstbaren
Wesen Verwandelt, ist dieser böse Gott der Engel des Verderbens,
der die Erstgeburt der Egypter erwürgt, Ex. 12, 23., Schwefel
und Feuer über Sodom regnen lässt, Gen. 19, 24., und das Land
zur Zeit der Volkszählung Dayids (2. Sam. 24, 16.) mit Pest heim^
sucht.
Das in dem Culte den Moloch darstellende Symbol ist eine
nach der Gestalt einer Feuerflamme gebildete Steinsäule, die also
ihrem Sinne nach von der den Saturn als Welterhalt^r vorstellen*
den verschieden ist. Wenn diese ursprünglicho, ostasiatische Sym-
bolik von der Thiersymbolik verdrängt wurde, so ist diess nur aus
dem Einflüsse ,der phönicischen, mit der ägyptischen so vielfadi
verwandten, Naturanschauung zu erklären, die sich den Gegenstand
des Cultus gern mit thierischen Attributen vorstellte. Wenn Moloch
mit einem Stierkopfe dargestellt wurde, so hat man wohl nicht den
Grund einer solchen Symbolik mit Movers in der Stärke des Thieres zu
suchen, sondern vielmehr aus einer Verwechselung mit derAdonis«*
Symbolik zu erklären, wozu der Stier eben desshalb verwendet
wurde, weil er als Symbol der fruchtbaren, zeugenden Naturkraft
galt. Die Stiersymbolik hat nur wegen ihrer allgemeinen Bedeu-
tung im Naturcultus auf Moloch übertragen werden können, da
sie sich durchaus nicht an dessen besonder« Vorstellung anlehnt.
Mi', der allgemeinen Natursymbolik ist aber auch die aligemeine
Beifeutung der Naturgottheit auf den Moloch übertragen, er hat
solcherweise gänzlich seine hehre, grause Erhabenheit eingebüsst,
wird durch Unzucht verehrt, und bei gewissen ihm auch sonst
heiligen Thieren wird ihre Beziehung auf ihn nur in ihrer geilen
Natur gesucht, lieber den Esel vgl. z. B. Ez. 16, 26. 23, 30.
D)umer hat in seinem Werke über Feuer-* und Holochdienst
der Heiräer die Entdeckung eines besonderen Eselcultus gemacht,
die er durch die vielfachsten Thatsachen bestätigt findet. Dieser
Cultus sM einen dem Molochismus ganz entgegengesetzten Sinn
gehabt, a\if Naturvergötterung beruht , nnd in ausschweifenden Cere-
monien bestanden haben. Herr Daumer kann die Vorzüge solcher
Ceremoniei vor den barbarischen Gräueln des Naturdienstes nicht
genug hervorheben, während Movers, der katholische Priester,
die Preisgebung der Jungfrauen im Mylittenculte um vieles scheuss-
70 Beck, die geschichtl. Voraussetzungen d. bebr. Religionspriozips
lieher als die Molochsgräuel findet. Dless wird immer Geschmack-
sache bleiben, hier kommt es nur darauf an, ob Movers oder
Dffumer den Eselseulhis richtig erklärt hat. Wenn nun der-Letztere
seine Behauptung, dass der ursprüngliche Sinir des EseUeultus
Vergötterung der Zeugungskraft der Natur sei , . auf den Umstand
gestützt findet, dass der £sel dem Dionysos heilig war, so hat
Movers sehr gründlich nachgewiesen, dass der ursprüngliche CuUus
des Dionysos oder Dusares in Menschenopfern bestanden habe,
und dass er nur durch dieselbe Metamorphose wie der Moloch
zum üppigen, la^civen Naturgötte geworden sei. Und erst durch
diese Aenderung des Gottes ist es geschehen, dass eine andere
Seite bei dem ihm geweihten Thier im Cultus eine Bedeutung
gewonnen hat.
Es soll übrigens der Grundidee des Daumer*schen Werkes
von der Ursprünglihkeit und vorherrschenden Bedeutung des Mo--
lochdienstes bei den Jud£^n nicht eine gewisse Wahrheit abge*
/sprechen werden, wie wir bereits oben angedeutet haben. Aller*-
dings iiSit der ursprüngliche Cult nicht Molochdienst, sondern Sa*-
lurncultus, aber es soll nicht geläugnet werden, dass in der fer-
neren Entwickelung der Naturreligion eben der Molochismus seine
grösste Bedeutung für die geistige Religionsanschauung der Hebräer
gewonnen hat, wie wir denn auch vielfache Elemente desselbm
in den späteren Jehovacult aufgenommen gefunden haben. Per
Molochcult ist die Geistigkeit innerhalb der Naturanbetung seilst,
er enthält die Idealität, wozu man sich innnerhalb der Natuiau*-
schauung erheben konnte; der Feuergott ist die gegen alles ein-
zelne natürliche Dasein sich ausschliesslich verhaltende hehre All*-
gemeinheit des Naturwesens, ^ber diese Allgemeinheit kam auf
ihrem natürlichen Boden keinen festen Halt gewinnen, und eben*
dessbalb fällt sie wiederum mit dem natürlichen Leben und dessen
besonderen Erscheinungen zusammen, der Moloch wird nit dem
Adonis verwechselt und auf dieselbe Weise verehrt. Eb^n durch
diesen Umschlag verräth der Molochcult, dass er von seinem na«-
türlichen Gegensatz nicht wesentlich verschieden ist und, auf einer
ganz anderen gtufe, als der Jehovismus steht. Nur von dem gei-
stigen StfEindpunkte aus hat der Jehovismus die Erhabenheit über
die Natur gewonnen, die vom Molochismus innerhalt der Natur
selbst vergebens erstrebt wurde.
und ihr üeberjaitg in dasselbe. ' li
Wir haben biiäier die Naturgottheit nur von einer Seite be-
trachtet, nämlich als mftnnliche; sie ist aber in der That ebenso-
sehr weiblich, beide Seiten sind zur Integrirung des vollen Be-
griffes der Naturkraft gleich nothwendig. In der Gottheit aber,
als der realen Allgemeinheit der in dem endlichen Dasein geschie-
denen und auseinandergehenden Potenzen, kommen beide Seiten
zuerst als unzertrennliche Einheit vor, was mythologisch in den
androgynischen Attributen der Gottheit und im Cultus durch die
Vermummung der Geschlechter in dem Kleiderwechsel vorgestellt
wird. Es lässt sich überhaupt eine Stufenfolge in der Geschlechts-
differenzirung der Gottheit verfolgen, indem die androgynischen At-
tributte sich zu zwei nebeneinandergestellten Göttern verschiedenen
, Geschlechtes, zu einem Paare gestalten, dessen einer Theil nur
eine Wiederholung des anderen ist, und nur zu einer scheinbaren
Selbstständigkeit neben ihm kommt. Die dritte Stufe ist die, wo
der Unterschied des Geschlechtes zu seiner vollen Bedeutung in
dem göttlichen Wesen gekommen ist und eine wirkliche Dualität in
demselben gesetzt hat, deren beide Seiten jede für sich Gegen-
stand eines besonderen Cultus sind. Allein eben in dieser scharfen
Sonderung bricht die Einheit wiederum hervor; jede Gottheit soll
nämlich absolut sein, keine wesentliche Seite der göttlichen Kraft
darf ihr fehlen, das weibliche muss also zugleich männlich sein,
und so finden wir denn auch in dem Cultus der getrennten männ-
lichen und weiblichen Seite der Gottheit jenen Wechsel der Rolle
der Geschlechter im Anzüge und Betragen wieder, der bereits
oben angedeutet wurde. Ebenso folgt es von selbst, dass, wenn
die Rolle der Götter wechselt, diess auch mit den ihnen ent-
sprechenden Göttinnen der Fall ist. Die Naturgöttin wird ebenso,
wie ihr männliches Abbild, zuerst als die ganz allgemeine Natur-
kraft aufgefasst, als solche führt sie verschiedene Namen, wie: die
grosse Mutter (Amygdaie ^1*13 DN)> Anwia (r\^r\ U^ Mutter des
Lebens, AtergoHs C{<Iiy*llni<), der Schlund, aus dem Alles entstan-
den ist. In dieser unbestimmten Weise tritt sie aber ebensosehr
wie Saturn in den Hintergrund, ein Gegenstand des Cultus ist sie
nur als bestimmte Naturkraft, mithin als Abbild einer der beiden
männlichen Hauptgottheiten, Adonis und Moloch. Sie büsst aber
durch diese Besonderung ebensowenig ihre göttliche Allgemeinheit
'J^2 Beck, die geschicfail. Voraussetzungen d. hebr Religionsprinzips
ein, als diese ihre männlichen Abbilder, sie bewahrt vielmehr ihre
Einheit mit der ewigen Mutter des Le})ens. Ihr Name ißt derselbe,
wie der der männlichen Gottheit Baal oder Baaltis, wodurch ihre
göttliche Würde im Allgemeinen bezeichnet wird; dann wird sie
aber auch als ein besonderes, dem Adonis entsprechendes Wesen
Mylitta (Gebärerin, oder die That des Gebarens^ und im ^en
Testament Aschera genannt, was nach Movers scharfsinniger
Vermuthung durch Hissverständniss zur assyrischen Göttin ^hei
griechischen Schriftstellern} geworden ist.
Ueber das Wesen dieser Göttin hat zuerst Movers die be-*
friedigende Aufklärung gegeben. Man hat gewöhnlich eine «in*
zelne Seite oder besondere Erscheinungsform der. Göttin iur ihr
Wesen angesehen, während sie den vollen Begriff der zeugenden,
hervorbringenden' Kraft in sich schliesst. , Nur unter dieser Vor-*
aussetzung ist auch die Bedeutung, die ihr Cult im alten Testa-
ment unläugbar hat, wo er Gegenstand der gewaltsamsten Polemik
ist, zu erklären. Der Ascheracult muss ganz dieselbe Stelluag
wie der ^aalcult behauptet haben, und ist als die eigentliche Voll*
endung der Naturreligion und die grösste Entfernung von der
idealen Gottesanschauung Gegenstand eines. noch heftigeren Zornes
von Seiten der jehovistischen Schriftsteller, als der Cultus des
Des Name bezeichnet, wie Movers nachgewiesen hat, nur das
Idol der Gottheit, von dem es auf sie selbst übertragen ist. Es
ist im alten Testament oft von dem Ausrotten, Umhauen dieser
Idole die Rede, mit denen die Göttin selbst identificirt wird. Dieses
Idol war von^Holz und hatte die Gestalt einer aufgerichteten Säule,
der die jni&9!Q oder Idole des Baal beigesellt wurden. Es konnte
auch ein lebendiger, grüner Baum als Idol der Göttin gelten. Es
war also die in dem Baume sich bethätigende Naturjkraft, die in
der Aschera vergöttert wurde. Wie wir früher gesehen hajben,
dass Thiei-e als den Göttern geweiht galten, so hier die Bäume:
und wie eben solche Thiere, in denen die Kraft und Fruditbarkeit
der Natur sich vorzugsweise bethätigt, geheiligt wurden, ebenso
war auch die Art der Bäume von Bedeutung für die Natur^n-
schauung; die Cy pressen Libanons wurden aus religiösem Fanatis-
mus von den Assyrern umgehauen, Jes. 37, 34., was selbst der
Prophet Habakuk 3, 17. als ein Verbrechen ansah; die Cypressen
und ihr U ebergang in dasselbe. >J3
freuen sieb über den Fall von Babel, Jes. 14, 8., eben weil die
babylonisch ^assyrische Religion dem Naturcultns entgegengesetzt
ivar (Movers). Aber neben den Bäumen gelten auch Phallusbilder
als Symbole der Nirturgottheit und zw^r aus demselben Grunde.
2. Kön. 15, 13. Ez. 14, 23. 16, 17. % Kön. 17, SO. Man ver-
gleiche hierzu Movers p. 595 fg.
Es war dem Wesen dieser ßöltin, die sowohl androgynisch,
als vonAdonis befruchtet vorbestellt wurde, entsprechend, dass sief
durch Unzucht verehrt wurde; die Verwechselung der Göttin mit
dem entsprechenden Gotte führt zu einem RoUenwechsel der Ge-
schlechter im Gnltus und zur unnatürlichen Unzucbl der Kedeschim,
-deren Treiben seinen mythologischen Reflex in dem Namen der Göttin
Acderäs gefunden hat. Der Cultus stellte nur das Wesen der
Göttin dar, die sowohl dielSeschlecbtsdifferenzals deren Aurhebung
vi^ar. Die Indifferenz der Männlichkeit und Weiblichkeit fand ihren
Ausdruck in der unnatürlichen Unzucht, die Differenz in der
fleischlichen Vermischung der Geschlechter. So sehen wir, dass
die Vorstellung der Naturgöttin zur Vollendung des Natnrcultus
notkwendig war.
Die geistige Anschauung der Hebräer konnte das weibliche
Prinzip oder die Geschlechtsdifierenz als etwas JNatüiüches nicht
in die Gottheit verlegen, sondern höchstens in dem Gegensatze
von Gott und Welt dargestellt finden. Aber doch kann sie nicht
der profanen Welt im Allgemeinen die Bedeutung eines Weiblichen
gegenüber dem Jehova als dem Manne beilegen, sie kann einem
so innigen Verhältniss nichft eine so weite Ausdehnung geben. Der
Gegenstand der göttlichen Liebe ist nicht die Natur, die vor dem
Offenbaren des Herrn erzittert, auch nicht das ganze Menschen-
geschlecht, sondern das auserwähUe Volk, das als Gottes Weib,
als die Mutter gilt, mit der er die einzelnen Mitglieder desselben
gezeugt hat. Jer. 50, 1. Ez.23, 4. Hes. 3, 4. fg. Es ist diese
Ansckauung nur aus der Naturreligion zu erklären.
Wie die Vorstellung der Naturgöttin Aschera den Begriff der
Natnrgottheit erst vollendete, so hat die Molochsidee in der ent-
sprechenden weiblichen Gottheit ihre Vollendung erreicht. Das
weibliche Abbild des Moloch ist dieMelechet, in der ostasifttischen
Astrelxftgie als Himmelskönigin oder Mondgöltin vorgestellt, die
nach Jerem. 7, 18. 44» 17. fg. von israelitis(Aeii Weibern durch
"74 Beck, die gcschicbtl. VorausieizuRgen d. Iiebr. Rchgioäsprinzips
Weihrauch und Libationen verehrt wurde* Ais Hdechel komml
sie nur neben Moloch vor, oder ist vielmehr nur seine blosse
Wiederholung, mit denselben Attributen (dem Stierkopfe} ausge*
stattet und in demselben natürlichen Elemente (dem Feuer} syni-
bolisirt. Selbstständiger tritt sie als Astarte ~auf, als welche sie
sehr mit Unrecht mit Aschera verwechselt wird. Sie trifft zwar
am Ende mit Aschera zusammen, geht, aber von einer ganz an-*
deren Voraussetzung aus. Astarte kommt neben den Baalim, d. h«
hier den Molochsidolen vor, 1. Sam. 7, 4. 12, 10. Der Plural
Astaroth ist wie Ascherim von den verschiedenen Gestalten und
Modificationen zu verstehen, in denen sie nach dem jedesmaligen
religiösen Geschmack und der Anschauungsweise eines Ortes darge-
stellt wurde« Vorzugsweise gilt sie als sidonische^ Göttin, wurde
aber auch in den phönicischen Colonien, z. B. Carthago, als Schutz-
göttin verehrt. Ihr Cult ist dem der Aschera ganz entgegenge-
setzt, sie galt selbst als jungfräulich; und ihr heiliges Feuer ward
von jungfräulichen Priesterinnen unterhalten. Auch in dem Mo-
lochcult spielte die geschlechtliche Reinheit eine Rolle, was wir
aus der Castration und Beschneidung ersehen. Astarte ist also die
Nämliche Göttin, wie die Artemis und Tanais, mit denen sie wohl
auch einen gemeinsamen ostasiatischen Ursprung hat. Wie diese
Göttinnen verhält sie sich nicht nur negativ gegen die Bethätigung
des natürlichen Lebens im Geschlechstriebe, sondern gegen das
endliche Leben im Allgemeinen, das in ihrem Feuercultus geopfert
wird. Als grausame Feuergöttin wird sie die Kriegs- und eben-
damit ganz besondere Nationalgottheit der sie verehrenden Völker,
und mit den Attributen einer solchen (dem Speere} dargestellt.
Die ganze Vorstellung der Mondgöttin oderHimmelsköniginlässt sich
auf die Voraussetzung der hehren , erhabeneh , das individuelle Natur-
leben ausschliessenden Allgemeinheit zurückführen, wie wir diess be-
reits bei dem Moloch, ihrem naQßÖQo^ entwickelt haben. Ihr
Schicksal ist aber das nämliche, als Molochs, dass sie dem Natur-
leben, dessen einfache Abslraction sie ist, unterliegt und in die
ihr entgegengesetzte Gottheit übergeht. Wie Aschera wird sie mit
Adonis und Linus verkuppelt, androgynisch dargestdlt und durch
Unzucht verehrt. Es ist desshalb erklärlich, wie sie für eine
Göttin mit Aschera hat angesehen werden können; worauf dHHr
bei der Bestimmung der einzelnen Naturgottheiteh Alles ankommt,
und ihr Uebergang in dasselbe. 75
diessistder Ausgangspunkt der Anschauong; im Resultate fallen
sie alle zusammen, weil sie im Grunde, im Prinzip eins sind und
nur in der Erscheinung einen verschiedenen Ausgangspunkt haben,
den es eben festzuhalten gilt, wenn man ihre Eigenthümlichkeii
verstehen will.
Wir haben bei Erwähnung des Molochcultes auf dessen Ein^-
fluss auf die spätere Anschauung des geistigen Gottes Jehova auf^-
mei^am gemacht. Insofern, die Göttin denselben Inhalt hat, wird
das von Moloch Gesagte auch von ihr gelten. Es muss aber hier,
wo wir die Entwickelung der Naturgottheit in ihrer weiblichen
Gestalt bis zu ihrer Vollendung verfolgt haben, noch eine allge-
meine Bemerkung von der Aufnahme des durch die Göttin ver-
tretenen Inhaltes in die geistige Gottesanschauung ihre Stelle finden.
Auf den Inhalt der Gottheit, der ein durdiaus wesentlicher, wenn
auch in unwahrer Gestalt war, konnte das religiöse Bewusstsein
nicht verzichten. In seiner Entwickelung zur geistigen Anschauung
sucht es die Mannigfaltigkeit -in Eins zusammenzufassen und die
Selbstständigkeit der einzelnen getrennten Momente in eine innere
Euiheit als ihre energische Voraussetzung aufzuheben. Die Stelle
der neben dem Gotte gestellten Göttin wird in der geistigen An-
schauung durch die Eigenschaften Gottes vertreten, die nur an
ihm ein Dasein haben hönnen, mithin an sich unselbstständig sind.
Die Kraft, die Weisheit, der Verstand sind nicht fursichseiende
Wesen, sondern nur Attribute Jehovas. Allein es ist in diesen
Attributen der Inhalt der einzelnen Seiten der Naturgottheit nur
auf gewaltsame Weise für Jehova erobert, sie sind nicht seinem
Wesen immanent und aus demselben hergeleitet, fristen somit noch
immer eine gewisse Selbstständigkeit, indem sie immer herbeige-
rufen werden, um der au sich leeren Jehovavorstellung einen In-
halt zu geben. Es hat das hebräische Bewusstsein es nur dahin
bringen können, die geistige Allgemeinheit abstract zu fassen und*
den realen Inhalt aus der endlichen Welt herzunehmen und auf
äusserliche Weise neben jene abstracte Allgemeinheit zu stellen.
Wenn der Hebräer Jehova lobpreist, kann er diess nur thun, indem
er die allgemeinen Weltkräfte preiset, die sonst als Gottheiten
galten, und sie dem Jehova als dessen Eigcnthum vindicirt, was
nur eine indirecte Vergötterung dieser Mächte ist, da Jehova eben
nichts ist ohne dieselben.
70 Beck, die geschiehtl. Voraassützuiigen d. hebr. Religionsprinzips
Wir haben bisher die Grundanschauungen der semitisehen Na^^
turrellgion erörtert und den Sinn der einzelnen Gottheiten als
einen metaphysischen erkannt, insiofem sie nichts sind, als die all-^
gemeinen Mächte des natürlichen Daseins, als besondere Wesen
angeschaut. Diese Götter, wenn auch dem Scheine nach lebendige,
persönliche Wesen, sind doch über die Unruhe, die Bewegung-,
den Kampf des Lebens erhaben, wie metaphysische Begriffe in
einfidcber Identität mit sich beharrend, also geschichstlos. Die ge-
schichtslosen, abstracten Gottheiten, die nur die Ruhe und Identität
des metaphysischen Begriffes, hier also der allgemeinen Naturmacht
darstellen, nennen wir mythologisch, zum Unterschiede von den
mythischen Gottheiten, d. h. den Erscheinungen des Göttlichen in
seiner Verendlidiung, in seiner Diesseitigkeit, mithin als mensch-*
liches Wesen den Kampf und die Arbeit des menschlichen Lebens
ertragend. Allerdings enäiält auch die menschliche Erscheinung
nichts, als was schon im Begriffe der einfachen Naturgottheit liegt,
sie ist insofern eine Wiederholung des schon in der mythologi-
schen Welt gegebenen, da die Mächte des menschlichen Lebens
auf dem Boden dieser Religionsanschauung zu keiner selbstständigen
Bedeutung gelangen können, allein die Veränderung des Schau-
platzes, die Versetzung des Göttlichen in die endliche Welt muss
nothwendig eine Menge Bestimmungen an den Tag bringen, die
in jener absbracten Welt keinen ginn haben würden. Es geschieht
eben auch durch diese mythischen Anschauungen, dassdie semitische
Naturreligion ihre Bedeutung sowohl für den Hellenismus, a}s das
Christenthum behauptet hat. Die mythische Gottheit tritt in einen
gewissen menschlichen Kreis ein, in eine Beziehung zu einem
wirklichen Volke, wird somit in noch engerem Sinne National-
'gottheit als die mythologischen Götter, verdrängt sogar dieselben,
indem sie ihren Inhalt in lebendiger, anschaulicher Form darstellt.
Der Adpnis- und Molochcult wird nicht ohne den Gedanken der
geschichtlichen Erscheinung dieser Götter begangen. Das religiöse
Bewusstsein kommt gar nicht auf den Gedanken eines Unterschiedeis,
es hat in jeder besonderen Gestalt das ganze göttliche Wesen.
Die mythologischen Gottheiten sind niemals ohne den Gedanken
der mythischen gewesen, wesshalb wir schon in der mythologischen
Sphäre so viele Züge finden, die ihre eigentliche Stelle. auf dem
Boden der geschichtlichen Erscheinung des Göttlichen haben and
und ilir Uebcrgang in dasselbe. n^
nur hier ihre wahre Erklärung finden. Diese Yermischiiiig det mytho-
logischen und mythischen Elemente kann uns abeir belehren, dass
wir in den mythischen Gottheiten des Öiients durchaus^ nicht an
geschichtliche Menschen zu denken haben, diQ eine dankbare Nach-
welt zur Belohnung für ihre erwiesenen Dienste in den Himmel
erhoben hätte.
Die mythische Manifestation: der s^mittsohea Naturgottheit ia
ihren verschiedenen Gestalten hat schon Movera im Herakles ge-^
funden, der als Localgott gewisser phönicischan Städto den Namen
Melkarth, also denselben,, wie die mythologischen Götter führt. Die
verschiedenen Abstufungen der Naturgottheit finden sich in der
Heraklesidee wieder, es gilt also in dem jedesmaligen Herakles
die entsprechende mythologische Gestalt wieder zu erkennen. He-
rakles ist der Bel-Satumus und wird als solcher der ewige König
(a^li< ^^"0)^ ^^ «wige Vater (15 ^^sk), die Zeit selbst (Aldemius
Q'»*lVn3 genannt. Er gilt auch als Erhalter der Welt (Chon) und
fuhrt als solcher den Namen- Akmon CtiSSl^r!} philosophus, weil
die Weisheit für das welterhaltende Prinzip, angesehen wurde;* Spr. 9.,
er wird alsWelterhalter im Kampf mit den die Wellordnung stören-
den Ungeheuern vorgestellt, und eben durch diesen Kampf, durch
diesen Eintritt in die endliche Welt untterscheidet er sich v(m dem
abstracten, mythologischen Saturn. Aber eben die Idee des Saturn
als eines welterhaltenden Wesens musste auf dem mythischen Ge-
biete zur Vorstellung von den Kämpfen fuhren, die den haupt-
sächlichsten Inhalt der Herakliden bildet. Herakles kämpft aber
nicht nur gegen die zerstörenden Elemente der Natur, sondern als
offenbarer Gott kämpft er gegen die verborgenen und siegt in
diesem Kampfe, wenn auch nach schwerer Anstrengung ^diese
Mythe wird ganz auf dieselbe Weise und mit denselben Umständen
in dem alten Testament Gen. 32, 24, 29. Mos. 12, 4. 5., und bei
Profanschriftstellern erzählt}, und bekommt durch diesen Sieg den
Ehrentitel Jerubbaal oder Israel, dem der Nanie Herakles entspricht
(nach Mervers Ar-cal: das Feuer obsiegt j es kommt neben Herak-
les auch die sehr passende Form Arikaleus vor). Er siegt nur über
Gott, weil er selbst Gott ist, seine Kraft aus sich selbst hat, er ist
als solcher awoffv^^^ woneben auch die Vorstellung von ihm als
7g Beck., die geschichtl. Vormissetziinfreti d. hebr. Religionspriftzi^«
Sohn des höchsten Gottes vorkommt, er ist die Erscheinung, C^SBi
des Gottes, im Gegensatze zu dem verborgenen* Wesen.
Als die mythische Erscheinung des Adonis theilt Herakles den
Dualismus mit ihm. Der innere Gegensatz im Begriff des Adonis
wird mythisch als feindliches Bruderpaar angeschaut, deren Einer
dem Anderen nachstellt. In dem tyrischen Heraklestempel wurde
diese Dualität durch die zwei Säulen versinnbildlicht. Als
Israel, Hypsuranius wird er als der Himmelsträger Qorh9p3
betrachtet, Gen. 28, 12., sein Bruder üsov, der wilde Jäger (Gen.
25, 27. 27, 3.), galt als Feuergott. Er vnirde desshalb als toih
DIINj q>oiPt^ vorgestellt, hatte sein Sternbild im Sirius (vgl.
GenV26, 25. 27, 11) oder Mars, von den Juden Sammael ge-
nannt und mit Esau identificirt.
So wird Herakles ganz auf dieselbe Weise, wie Baal, durch
den in seinem Wesen als Naturgotte liegenden Dualismus, zum
Feuergotte Moloch, und als solcher verehrt. Wir haben oben ge-
sehen, dass Moloch sowohl aus def Saturns- als Baals Vorstellung
hervorgegangen ist. In der ersten Weise wurde er durch Rei-
nigung, durch Enthaltsamkeit, sogar durch Kasteiungen und Lu-
strationen verehrt, wie auch mit dem Herakles der Fall ist, der mit
den Attributen des Saturn-Moloch dargestellt wird. In der zweiten
Weise, als dem Baal -Moloch entsprechend, wird Herakles durch
Opferung von dämonischen Thieren und durch Menschenopfer ver-
ehrt, nachdem er entweder als böses Wesen, im Gegensätze zu
Herakles -Adonis, oder als das durch das Feuer versinnbildlichte
hehre, erhabene Naturwesen galt; aber Sinnbild des Herakles ist
auch hier eine Säule, welche die auflodernde Flamme darstellen
soll, also einen anderen Sinn hat, als die Säule als Sinnbild des
Saturn -Herakles, wo sie die erhaltende Macht bezeichnet.
Wir haben schon früher erwähnt, dass der Feuercultus seine
Ausbildung bei den Semiten ostasialischen Elementen verdankt.
Der persische Cult des Mithra und Ahriman wurde in den Hera-
klcscult aufgenommen, d. h. Herakles wurde eben auf dieselbe Weise
verehrt, wie jene Götter; die Veränderung des Cults hob nicht die
Identität seines Gegenstandes vor dem Bewtisstsein auf. Als dä-
monisches , verderbendes Wesen (d. h. als Ahriman} wurde Herak-
les-Moloch (Jehova) in dunkeln Tempelkammern vor allerlei Ge-
und ihr Uebergang in dasselbe. >J^
wtirm von den siebenzig Aeltesten Israels verehrt, Ez. 8, 12. 16.;
der Cult des Herakles -Ormuzd bestand in Wässer- und Feuer-
lustrationen (Jes. 65, 4. 66, 3. 17. etc.}, während die Reinigfung
durch unreine Dinge, durch Saublut u. dergl. f(Jes.65, 4.} an den
Ahrimanscult erinnert. Wir können bei Erwähnung dieser be-
sonderen Riten nicht umhin, die Aufmerksamkeit auf das verschie-
dene Prinzip der semitischen und der assyrisch -persischen Re-
ligion wiederum hinzulenken. Das Feuer- und Lichtelement nimmt
eine ganz selbstständige Stellung ein in der ostasiatischen An-
schauung; die Himmelskörper sind als Träger dieses Elements
Gegenstand der Verehrung (vgl Hiob 31, 26. 27. Dl. 4, 19., und
die Aeusserung von Julian bei Movers p. 157}, während Feuer
und Gestirne bei den Semiten nur als Momente, als einzelne Seiten
des allgemeinen Naturwesens galten und demgemäss einen der
ursprünglichen Anschauung ganz fremden Sinn bekommen und
Gegenstand eines durchaus verschiedenartigen, Cultus werden kön-
nen, wie wir. bereits Gelegenheil zu erörtern gehabt haben.
Als mythische Erscheinung der Naturgottheit muss Herakles
ebenfalls zu einem weiblichen Wesen metamorphosirt werden. Er
wird als solches im weiblichen Anzüge dargestellt, und sein Cult
von männlichen und weiblichen Hierodulen in vertauschtem Anzüge
verrichtet; behufs dieses Zweckes wurden Kleider in den Tempel-
kammern aufbewahrt (2. Kön. 22, 14. wird von einem Aufseher
dieser Kleider gesprochen}; woraus man ersieht, dass der Cultus
lief Wurzeln im Volke gefassl hatte. Das Verbot des Gesetzes
gegen den Kleiderwechsel bezieht sich auf diese Sitte. Dl. 22, 5.
Die Männer trugen ein leichtes, durchsichtiges Gewand , die Weiber
das Schwert als Attribut des Herakles (naia "»^g}. Dass diese
VV * i
Hummerei in der Unzucht ihre Vollendung fand, ist bereits früher
erwähnt worden.
Dieser Herakles, der der mythologischen Gottheit in andro-
gynischer Gestalt entspricht, wird im Oriente Sandan genannt und
ist mit Ninus und Ninyas identisch, die mit der nämlichen sexuali-
schen Ambiguität und mit derselben Doppeltheit des Sinnes als
grausame und wollüstige Wesen vorgestellt werden. Mit den-
selben theill auch Herakles die Unterscheidung des weiblichen
Wesens von sich, die in der Semiramis als selbstständige Gestalt
gO Beck, die geschiclitl. Voraussetzungen d. hcbr. Religionsprinzips
ihm gegenübergestellt wird. Semiramis scbliesst wiedeiuin den-
selben doppelten Sinn der Naturgottheit in sich, als woHü$tigei$
und grausames Wesen, und wird mit entsprechenden Attribnten dar-
gestellt, sie erscheint auch mit der nämlichen geschlechtlichen
Zweideutigkeit, wie ihr männlicher Ttä^fed^og^ indem sie dietiolle"
mit ihm wechselt und in männlichem Anzüge denselben als Weibe
Sieb gegenüberstellt.
Hier ist noch das Fest dieser mannweiblichen Gottheit (die
Sakäen} zu erwähnen, das bei Movers ausführlich beschrieben
wird« Es wurde in Hütten unter allerlei Ausgelassenheiten ge-
feiert und hat sich noch unter den Juden als fiiSCrt yn (ßx. 12,
37} erhalten; besonders nach dem Exile, als die Juden in nähere
Berührung mit auswärtigen Völkern gekommen waren, bietet das-
jüdische Hüttenfest eine grosse Aebnlichkeit mit den Sakäen dar
(Neh. 48, 15. fg.} Uebrigens findet sich eine .ausführliche Schil-
derung dieses Festes bei Ezechiel 23, 40. fg. Bekanntlich hat
dieses Fest heidnischen Schriftstellern zu der Naehricht Veran-
lassung gegeben, dass die Juden Bacchus verehrten,, und dass
derselbe^ yon ihnen Jao genannt, ihre Hauptgottheit war. AUer-^
dings wird das Hüttenfest vorzugsweise Jehovasfest genannt, allein
der Name des Dionysos Jao hat, wie Movers nachgewiesen, nichts
mit Jehova zu thun. Derselbe entspricht vieknehr einer sonstigen
Bezeichnung dieses Gottes bei den Semiten, nämlich dem Nam^i
Euimos B'^OT von irfn leben, von den ^T\*^ nur eine andere Form
• - ▼
ist. Der Gebrauch dieses Namens bei deti Juden ist id)rigen5 gar
nicht nachzuweisen.
So haben wir denn die wesentlichen Momente der semitischen
NatiHrreKgion -hervorgehoben und auf ihre Bedeutung für die heb-
räische Beligion hingewiesen. Wir haben nicht nur erwiesen, dass
diese Naturreligion von Haus aus auch unter den Hebräern herr-
schend war, was die^ biblischen Schriftsteller bezeugen, sondern
vielmehr ihren Zusammenhang mit der höheren Anschauung, die
späterhin dazu beitrug, die Israeliten gänzlich von den übrigen
Völkern der Erde abzusondern. Der Einfiuss der Naturreligion
lässt sich am unmittelbarsten aus den Prädikaten Jehovas, die ur-
sprünglich deft Naturgottheiten angehörten, sowie auch aus dem
Cultus erkennen. Auch Momente des Heraklescultus haben wir im
und ihr Uebergang in dasselbe. Qf
Judenthum wiedergefanden, und wie die Idee dieses mythischen
Gottes nur in den von Jehova unterschiedenen und wiederum mit
ihm identischen Engel entgegentritt (niJl^ IN^JloDj so kommt auch
die wesentliche Bestimmung des Herakles als Krieger, Held u. s.w.
als Prädikat des Jehova vor.
Der Nachweis der Bedeutung der einzelnen Momente der Na-
turanschauung für die ideale Gottesanschauung der Hebräer ge-
winnt erst seine volle Bedeutung durch die Aufzeigung der Einheit
und des Unterschiedes beider Religionsprinzipien und des Ueber-
ganges des einen in das andere. Die Bedeutung des Einzelnen
wird erst durch die Beziehung auf das allgemeine Prinzip völlig
klar. Es wäre nicht möglich, dass die nämlichen Einzelheiten sich
in beiden Religionsanschauungen wiederfinden könnten^ wenn nicht
irgend eine Einheit der Prinzipien da wäre, und andererseits weist
die veränderte Beziehung dieses Einzelnen auf einen prinzipiellen
Umschwung hin. Derselbe wird aber erst allmählig vor sich ge-
gangen sein können, es wird, wie schon Vatke eingesehen hat
(z. B. Bibl Theol. p. 248), das religiöse Bewusstsein lange den-
selben Gegenstand gehabt haben, während doch gleichzeitig ver-
schiedene Vorstellungen von dem Wesen dieses Gegenstandes neben
einander geherrscht haben, die durch vielfache Abstufungen in
einander übergingen. Nur die äussersten Endpunkte werden somit
einen wirklichen Gegensatz zu einander gebildet haben, während
die ganze Reihe den Schein der Einheit behauptete. Erst die ge-
schichtliche Entwickelung hat diesen Schein zerstört und das höhere
Prinzip in schrofiFen Gegensatz zum niederen gestellt; das letztere
wird demnach zum förmlichen Götzendienst, während das erstere
sich zu stets reinerer Idealität entwickelt, und der Kampf diöser
Gegensätze, die ihre Vertreter in der Masse und den derselben
gegenüberstehenden Propheten haben, bildet den wesentlichen In-
halt der israelitischen Geschichte. Aber an sich war schon das
höhere Prinzip in der Naturanschauung, als in seinem empirischen'
Ausgangspunkt, enthalten (Vatke p. 249}, und die Vorstellung der
Heiligkeit, worin zunächst die Idealität des göttlichen Wesens zum
Bewusstsein gebracht wurde, ist unmittelbar aus der Naturanschau-
ung hervorgegangen.
Das Letzlere zu beweisen hat Planck in seiner Schrift über
die Genesis des Judenlhums (1843) versucht. Er findet den Aus-
Jahrb. für t.'|>cculal. Piiilos. I. 2. g
g2 Beck, die geschieht!. YorauisctKungeu d. hebr. Religionsprinzipi
gangspunkt der idealen Anschauung in dem Feuercultus, worin
das natürliche, endliche Leben als der Negation anheimfallend dar-
gestellt wird, was der Sinn vieler in dem Judenthum beibehalte-^
nen Sitten, z. B* der Beschneidung ist. Aus der Anschauung des
Göttlichen als eines wesentlich Negativen hat sich die geistige •
Anschauung von der HeiUgkeit Gottes entwickelt. Die Heiligkeit
ist die geistige Uebertragung des verzehrenden Naturelementes
(vgl p. 7, 16, 20 u. m. St} Moses musste, um der Nation die
gehörige Haltung, ihren Unterdrückern gegenüber, zu geben, den
in ihrem religiösen Bewusstsein liegenden Keim des Gegensatzes
zum Naturdienste hervorziehen; er erhob das negative Moment,
das in der Naturanschauung nur mittelst des Gegensatzes seine
Berechtigung hatte, zur selbstständigen Bedeutung und entwickelte
OS zu seiner letzten Consequenz, wodurch es die Gränze des Na-
türlichen überschritt. Das verzehrende Feuer wurde in der Hei-
ligkeit ein geistiges Prädikat Jehovas. Eben durch diese Consequenz
trat eine völlige Umkehrung der Anschauung ein; für den Heiligen
war eben der Tod, worin das Endliche und Nichtige des Lebens
zum Vorschein kommt, etwas Unreines, während dem Feuergotte
eben durch den Tod der Opfer Verehrung erwiesen wurde. „So
war nun also die göttliche Heihgkeit nicht mehr blosse Negation,
sondern sie war auch Negation der Negation, d. h. Negation des-
sen, was innerhalb des Endlichen selbst wieder im engeren Sinne
sich als Endlichkeit bezeichnen lässt, sei es nun in sinnlicher oder
geistiger Beziehung.** (p. S2.) An die Stelle der einfache^ Naturan-
schauimg ist somit die Reflexion getreten. — Wir glauben aber schwer-
lich, dass der Uebergang der Feueranschauung in die geisige Vorstel-
lung der Heiligkeit sich auf diese Weise denken lasse. Nicht der Tod
als verzehrende, auflösende Macht galt als unrein, sondern der
Todte, der Vei-wesung Anheimfallende, der Leichnam. In dem
Feuerdienste wird aber der Leib mit dem Leben selbst verzehrt,
und es bleibt nur das Feuer selbst, als das Element, worin das
Opfer übergeht. Eben diess aber muss die göttliche Eigenschaft des
Feuers vernichten, dass es nichts in sich ist, sondern als natür-
liches Element trotz seiner verzehrenden Kraft immer nur an
einem anderen Endlichen haftet , nur durch die Verzehrung desselben
sein Leben fristet, mithin nichts Selbstständiges und Göttliches sein
kann. Die Consequenz der göUlichen Negativität kann also nur auf
und ihr Uebergang in dasselbe. gg
geistigem Boden erreicht werden ^ wo sie sich ganz vom Natür-
lichen abtrennt, dasselbe für sich bestehen lässt, in dem Bewusst-
sein ihrer eigenen Erhabenheit über alles Endliche. Dass die Hei-
ligkeit doch nicht einen ausschliesslichen Gegenstand in der gei-
stigen Welt des Menschen, sondern eben so sehr in dem natürlichen
Dasein hat (was aus den Reinigungsgesetzen hervorgeht}, verräth
ihren natürlichen Ursprung. Auch hat Planck in diesen Bestim-
mungen den Einfluss der früheren Naturanschauung erkannt (p. 78}.
Allein die concrete Einheit von Geist und Sinnlichkeit dürfen wir
keineswegs im Mosaismus suchen > der nur aus seiner geschicht-
lichen Voraussetzung, welcher er sonst in Allem entgegen ist, ein-
zelne Elemente herübergenommnn hat, weil ^eine eigene Abstract-
beit niu* auf die$e Weise einen Inhalt gewinnen konnte. Der Mo-
saismus ist nur die negative Uebarwindung der Naturanschauung,
das Bewusstsein von der Nichtigkeit dar Naturgötter; den Begrifif
der positiven, concreten Geistigkeit hat er nicht erreicht, wenn
nicht allerdings auf unvollkommene, widersprechende Weise als
Bundesgott des bestimmten Volkes.
Die Bedeutung dieser Vorstellung für die Entwickelung des
israelitischen Bewusstseins hat Planck in seiner Abhandlung über
den Ursprung des Mosaismus (Theol Jahrb. 1845. Heft 3 und 4)
darzustellen versucht. Wie in seiner früheren Schrift, so erörtert
er auch hier, dass das Volk seiner Nationalität nur in der Religion
die gehörige Haltung geben konnte; es musste sich seinen reli-
giösen Gegensatz zu seinen weltlichen Feinden zum Bewusstsein
bringen. Der vvichtigste Haltpunkt des religiösen Bewusstseins
war in dieser Beziehung die Ausführung des Volkes aus Aegypten.
Durch dieselbe wusste es sich als das auserwählte Volk Gottes;
das sonst negative göttliche Wesen wurde hiermit in ein positives
Verhältniss zu diesem bestimmten Volke gesetzt (p. 491}. Das
Sein Gottes für die Menschheit wird zu einem Sein für dieses Volk
(p. 491)^ Der Grund dieses Verhältnisses wird aber nicht im An-r
sich Gottes gesucht, sondern die Thatsache wird nur als solche
hingenommen. Die Beziehung Gottes zum Volke hat ihren Ur-
giprung nur in einern rein Geschichtlichen, nicht im Geiste des Volkes
als solchem. „Es ist nui- ein Factum, das die ganze israelitische
Geschichte uns entgegenhält, das, dass^in Volk durch seine Ge-
schichte zu einer geistigen Höhe emporgehoben worden ist, wel-
6*
34 Beck, die geschieht!. Voraussetzungen d. hebr. Religionsprinzips
eher es aus sich selbst nie fähig war; so ist es der Haltungslosig-
keit, dem inneren Zwiespalte zwischen seiner Aufgabe und dem,
was es an- sich selbst war, anheimgefallen.^ p. 658. Nur durch
ein solches rein geschichtliches, von dem Leben der Nation gänz-
lich abgetrenntes Prinzip hat die israelitische Religion eine solche
Starrheit gewonnen , dass sie sich als Mumie hat erhalten können,
lange nachdem alle Bedingungen ihrer Wirklichkeit verschwunden
waren. Allein diese Thatsache der Offenbarung hat doch ihren
letzten Grund in dem ewigen Wesen des Selbstbewusstseins, sie
ist also nicht reine Thatsache, sondern ebensosehr die ewige That-
sache des Selbstbewusstseins, das in der äussersten Entfremdung
von sich ebensosehr bei sich angelangt ist, d. h. in seinem Gotte
sowohl verneint, als seiner unmittelbaren nationalen Bestimmung
nach bejaht ist. Obgleich das Judenthum also der Geschichte an-
gehört und sein Ursprung durch einen äusseren Anlass bedingt war,
so ist es ebensosehr in dem ewigen Wesen des Geistes begründet,
als eine allgemeine, nothwendige Form desselben (\g\. p. 708 und
719).
In dieser Darstellung ist alles Wesentliche, was zur Erklärung
und Bestimmung des Judenthumes von Belang ist, hervorgehoben,
und im Allgemeinen müssen wir derselben beipflichten. Nur kön-
nen wir es nicht ganz gut heissen, wenn Planck in seiner ersten
Schrift ausschliesslich auf den Feuerdienst als die geschichtliche
Voraussetzung des Judenthimis zurückgeht, da sich in dem letz-
teren auch Spuren anderweitiger Gebiete der Naturanschauung
nachweisen lassen, wie diess im Obigen geschehen ist. Auch ist es
daselbst gellend gemacht worden, dass der Feuerdienst, als die
Vollendung des vorderasiatischen NaturcuHus, die nächste , unmittel-
barste Voraussetzung der hebräischen Religion ist und die meisten
Anknüpfungspunkte an dieselbe darbietet, was aber keinesweges
die Einwirkung anderer Sphären der Naturanschauung ausschliesst,
mit denen der Feuerdienst im vorderasiatischen Culte im engsten
Zusammenhange stand. Planck will besonders der El- oder Bel-
vorstellung ganz die Bedeutung absprechen, die ihm Movers bei-
legt; er behauptet, sie sei eine spätere Abslraction, der die Vor-
stellung zu Grunde liege, was dass, dem Wesen nach das Erste
sein sollte, auch ein zeitlicher besonderer Zustand sei. Allerdings
wird ein Gott so abstracten Wesens, wie der Bei, nachdem die
und ihr Uebergang in dasielbe 35
Naturgötter ihre bestimmte Gestalt gewonnen hatten, nicht Gegen-
stand des Cultus gewesen sein; wenn er aber Bestimmungen ent-^
hält, die sich nicht in den abgeleiteten Göttern wiederfinden, so
muss er doch als eine besondere Gottheit gelten, die einmal auf
unbestimmte Weise den ganzen Inhalt der späteren Götter in sich
geschlossen habe und damals auch Gegenstand des Cultus gewesen
sei. Erst die Entwickelung seines allgemeinen Inhaltes zu beson-
deren Gestalten hat ihn auf jene Abstractionen zurückgeführt, die
von nun an sein eigenthümliches Wesen bilden. Dass sich aber
dieselben in der Vorstellung des Jehova und auf dem Gebiete der
Naturanschauung in dem mythischen Gotte -Herakles wiederfinden,
^ haben wir schon oben gesehen.
Die hebräische Religion ist also , wie aus dem Vorhergehenden
sattsam erhellt, nichts ohne ihren Gegensatz in dem Naturdienste,
sie ist die immerwährende negative Beziehung auf denselben. Die
ideale Gottesanschauung ist hier ur ndie Anschauung der Nichtig-
keit der Naturgötter; der hehre, heilige Gott ist die der Natur-
gottheit, selbst inwohnende Negativität, die aber ihren Gegen-
stand ewig aus sich hervorgehen lassen muss, um an ihm selbst
zu sein.' Gleichwie das Feuer in seiner Vernichtung des Endlichen
doch an demselben haftet, um sein eigenes Dasein zu fristen,
ebenso bedarf der heilige Gott der Naturgötter, als auf welche er
selbst nur die negative Beziehung ist, und deren Bewusstsein von
seinem eigenen Selbstbewu^stsein unzertrennlich ist; dieses letztere
bat ja eben seinen wesentlichen . Halt in dem Bewusstsein der
Nichtigkeit des Gegensatzes. Diese Dialektik ist von dem Bewusst-
sein des inneren Widerspruches durchdrungen und kommt somit
nimmer zu einem Ruhepunkt, was nur unter der Voraussetzung
eines selbstständigen Inhaltes, eines sich auf sich selbst beziehen-
den Prinzips möglich war. Der Inhalt der hebräischen Gottesidee
ist aber unmittelbar aus der Naturanschauung aufgenommen und
nur in eine andere Stellung versetzt, als Prädikat, als Besitz einer
sich auf diese Anschauung negativ beziehenden Macht, aus deren
Prinzip er aber nicht auf immanente Weise hergeleitet wird. Und
das eben ist der Grund jener nimmer ruhenden Negation, dass der
wesentliche Inhalt der Gottesidee schon in der Naturanschauung
enthalten und derselben entrissen ist und nur durch immer
wiederholte Besitzergreifung von Jehova behauptet werden kann.
g0 Beck, die geschieht. Voraasietzungen d. hebr. Religionsprinzips
ebne dass sein Wesen eine so concrete Bestimmung* gewonnen hat, dass
aus demselben jener Inhalt hergeleitet werden und eine von der Na-
turanschauung unabhängige Stellung erhalten konnte. In dem Cultus
spielt diese negative Beziehung auf den Naturdienst dieselbe Rolle,
und es kommt am Ende auf eins und dasselbe hinaus, ob dem
Naturobjecte (dem Thiere u. s. wj eine positive oder negative
Bedeutung für das religiöse Bewusstsein gegeben wird, wenn es
doch immer demselben kein Adiaphoron ist, was wir bereits oben
geltend machten.
Was ist aber der Grund dieser negativen Beziehung, die doch
keinen besonderen positiven Gehalt zu ihrer Voraussetzung hat?
Einerseits muss freilich zugegeben werden, dass die Negativität
der Naturanschauung selbst immanent sei und dieselbe über sich
hinaustreibe; andererseits aber muss es als etwas Besonderes ange-
sehen werden, dass eben der israelitische Geist, diese Negativität
in ihrer ganzen Härte durchzuführen, sich zur Aufgabe setzte und
ihren inneren Widerspruch an seinem eigenen Zwiespalte darstellen
sollte. ^ Und hier müssen wir. nun mit Planck auf das nationale
Motiv hinweisen, das auch zu einer religiösen Absonderung führen
musste. Die Negation der Naturanschauung ist in dem inneren
Widerspruch derselben an sich gegeben, die bewusste Vollziehung
derselben musste das Volk in einen schroffen Gegensatz zu den
stammverwandten Völkern hineinstellen, um so mehr, da das neue
Bewusstsein eben nichts enthielt, als die Negation der Naturreligion;
dieses negative Bewusstsein musste aufs Bestimmteste dieses Volk
von allen anderen als ein ganz besonderes abgränzen. Allein hier
zeigt sich eben das Widerspruchsvolle der behaupteten Stellung.
Es ist die Religion , di^ dieses Volk den übrigen entgegenstellt; sie
hat aber keinen concreten Inhalt, sondern ist nur die negative Be-
ziehung auf die religiöse Anschauung der anderen Völker und hat
eben den Zweck, einen allgemeinen, nationalen Gegensatz zu be-
gründen und zu befestigen , um erst dadurch die gehörige Stärke und
Haltung zu gewinnen; der nationale Gegensatz zwischen diesem
Volke und den anderen semitischen ist, vom natürlichen Gesichts-
punkte angesehen, wichtig, und hat seine hauptsächlichste Stütze in
dem religiösen, und so ist er denselben Schranken preissgegeben,
wie jener; der religiöse Abfall hal; immer nationale Bedeutung, wie
es auch umgekehrt der Fall ist. Dor nationale Gegensatz ist ein
usd ihr Üeber^ang in daiielbe. g7
um der Religion willen gewollter, die aber diese Stütze für ihre
eigene Haltlosigkeit gebraucht , der religiöse Gegensatz ist seinerseits
auch ein gewollter, um die weltliche Absonderung von anderen
Völkern aufrecht zu halten. So lange dieses negative Prinzip sich
noch nicht im Volksbewusstsein festgesetzt hatte, war die Ge-
schichte dieses Volkes nur die Geschichte seines fortwährenden
Abfalles zu anderen Göttern und zu anderen Völkern, die Ge-
schichte der vollendetsten nationalen und religiösen Haltungslosig-
keit. Hatte es sich aber einmal festgesetzt, was allerdings geschehen
und fast als Wunder zu betrachten ist, so niusste dieses Volk die
vollendetste Abgeschlossenheit und nationale Zähigkeit vor allen
«öderen Völkern der Welt zur Schau tragen, und sich zu behaupten
wissen unter Verhältnissen und Bedingungen, die für jede andere
Nationalität vernichtend waren. So zerfällt die Geschichte dieses
Volkes in zwei einander schlechthin widersprechende Epochen. ♦)
Wenn aber auch der geheime Sinn jener starren Festhaltung
der negativen Beziehung auf die Naturanschauung eigentlich
nur die Behauptung der nationalen Entgegensetzung dieses Volkes
zu den anderen Völkern, und somit der Gottesbegriff an sich leer
und inhaltlos ist, so darf es doch nicht übersehen werden, dass
die ausdrücklich gesetzte positive Beziehung auf dieses Volk ihm
eine gewisse concreto Bestimmung gibt. Das Bewusstsein des
Volkes von der religiösen Entgegensetzung und das Wissen Gottes,
dass nur dieses Volk seine negative Beziehung auf die Naturgötter
gefasst habe, macht das jüdische Volk zum ganz besonderen Ge-
genstand seines Gottes, zu einem wesentlichen Zweck desselben,
und der Gott gewinnt solcherweise an seinem Volke einen positiven
Gehalt zur Behauptung seiner Besonderheit und Entgegensetzung
gegen andere Götter. Als Nationalgott steht Jehova über den
heidnischen Göttern, weil er ris solcher seinen Gehalt an der gei-
stigen Welt der Menschheit, wenn rfuch in beschränkter, natür-
licher Besümmung, hat; das Natürliche ist hier nichts Selbststän-
diges, sondern hat nur seine Bedeutung im Geistigen, dessen
Schranke und individuelle Bestinamtheit es ist. Die einfache Be-
ziehung zwischen dem Volke und seinem Gott gelangt erst zu
ihrer vollen Bedeutung durch die nähere Bestimmung des beid4ir-
•) Vgl Planck Theol. Jahrb. 1845, p. 676 fg.
gg Beck, die geschiofatl. Yoraussetzimgeii d. hebr. Religionsprinzips
zeitigen Inhaltes, der an sich derselbe ist. Der ideale Ausdruck
des Volksgeistes, als eines von den einzelnen Individuen zu Ver-
wirklichenden, ist der allgemeine Wille oder das Gesetz, das wegen
des eigenthümlichen Verhältnisses zwischen dem Volke und seinem
Gott, als Gottes Gesetz erscheint und mithin mit demselben Rechte
als Bestimmung des göttlichen und menschlichen Willens gelten kann.
Allerdings wird zu wiederholten Malen in der angeführten
Abhandlung von Planck geltend gemacht, dass die höchste geistige
Wahrheit keinesweges ein Erzeugniss dieses Volkes, sondern viel-
mehr auf äusserliche geschichtliche Weise ihm offenbar geworden
sei, uitd dass eben der Widerspruch zwischen dem wirklichen
Standpunkte und der geoffenbarten Wahrheit der Grund jener
eigenthümlichen Zerrissenheit sei, wodurch dieses Volk sich vor
allen anderen auszeichnete — allein „es 'ist doch nur das innerste
Wesen des Geistes und seiner Entwickelung, worin diese Aeusser-
lichkeit ihren Grund hat^ (f, 697). Und hier wird es eben die
Stelle sein, über die Bedeutung des geschichtlichen Ausgangspunktes
und der Geschichte überhaupt für dieses Volk zu sprechen. Es
muss zugegeben werden, dass' die höhere, dem Naturdienste ent-
gegengesetzte, ideale Anschauung schon lange in einzelnen Kreisen,
in gewissen ausgezeichneten Individuen zu vollem Selbstbewusst«
sein gelangt war, als die Masse noch in der dumpfen Naturanschauung
befangen war, dass ferner der Kampf dieser beiden Elemente den
wesentlichen Inhalt der vorexilischen 'Geschichte ausmachte. Diese
auserwählten Träger des höheren Prinzips haben im national -reli-
giösen Interesse, dessen Wesen oben entwickelt wurde, den be-
wussten Zweck verfolgt, ihrem Prinzip im Volke Eingang zu ver-
schaffen, und sie haben diess nur so thun können, dass sie es als
ursprüngliches , diesem Stamme von Gott selbst an vertrautes Eigen-
thum, als national, als urväterlich darstellten, und solcherweise
haben sie von ihrem Reflexionsstandpunkte aus die ganze Volks-
geschichte construirt. Dieselbe hat nun als eine durch und durch
von einem bewussten Prinzip getragene, in einer bestimmten Ten-
denz verarbeitete, eine so feste Haltung, eine solche innere Ver-
ständigkeit und so klaren Zusammenhang gewonnen, dass sie sich
durchaus von den mythischen und mythologischen Erzählungen der
stammverwandten Völker ujjterscheidet und, einmal von dem Volke
angenommen, unvertilgbar in seinem Bewusstsein dastehen musste.
und ihr ITebecgang in dasselbe. g9
Die heidnischen Mythen sind hier zu Tendenzgeschichten umgebildet
und auf den Boden der gemeinen Wirklichkeit versetzt (yg\. Gen.
19, 32. 32, 27 und sonst}; sie haben den Schein eines geschicht-
lichen Vprganges, der ihnen durchaus in ihrer sonstigen orien-
talischen Form abgeht. Dais heidnische Element, das von Anbeginn
an im Volke einheimisch war, wird zu einem fremden gemacht,
das den ursprünglichen Dienst des wahren Gottes verdrängt habe;
der Widerspruch des Volkes gegen die höhere ideale Anschauung wird
als Afall von derselben gestempelt , die schon den Erzvätern durch
göttliche Offenbarung mitgetheilt war. Und so hat nicht eine wirk-
liche, sondern eine gemachte, vorgestellte Geschichte, die aber
einen Halt, einen Zusammenhang, eine Bestimmtheit hatte, die
einer wirklichen Geschichte fehlen musste, diesem Volke seine
beispiellose Starrheit und Zähigkeit gegeben; der falsche Spiegel
der Vergangenheit bat es immerfort in der Täuschung über Gegen-
wart und Zukunft erhalten.
Die Frage des jrahrliiiiiderto«
VVenn wir die ganze vergangene Geschichte nur aus der
Gegenwart verstehen, weil in letzterer die Prinzipien, welche dem
Anfang zu Grunde gelegen haben, mit dem Laufe der Zeiten nur
immer deutlicher entwickelt worden sind, so können wir es uns
Äuch wiederum nicht ersparen, bis zu den verborgenen Quellen
des Menschengeschlechts aufzusteigen, um die Frage der Gegen-^
wart zu lösen: Was wollen wir? Wohin streben wir? An wel-
chem Wendepunkt steht die Weltgeschichte? Was flicht die aufs
Ungeheuerste auseinandergerissenen Gegensätze wieder in Eine
Harmonie zusammen?
Schlagen wir die Blätter unserer heiligen Traditionen auf,
wenden wir uns an die Ueberlieferungen der Profan -Scriberiten,
fragen wir endlich unsere Y^nunft, sie lehren uns ^ämmtlich, dass
die Barbarei und Rohheit nicht der ursprüngliche Zustand
des Menschengeschlechts gewesen sein könne. Denn das
Böse, das Uebel überhaupt ist nicht im Prinzip; es liegt nur in
den Folgen und weiteren Anwendungen des Prinzips auf die ganze
Breite der Erscheinungen, ^ darin, dass die besonderen Seiten
desselben sich eine verkehrte Stellung zu einander geben; diess
setzt aber schon immer eine gewisse Entwickelung des Prinzips voraus.
Andererseits ist jedoch auch die höchste Blüthe der Civilisation,
der wir, als letztem Resultate der Weltgeschichte, entgegenstreben,
nicht schon am Anfang da gewesen. Denn dann wäre ja die ganze
Bewegung der Geschichte nutzlos. Friedrich von Schlege]
und Sehe Hing, welche einst die Hypotliese eines vollkommenen
Die phÜofophiiche Gesellschaft zm Berliu: etc. {||
Urvolkes aufstellten, konnten daher den Eintiitt der geschichtlichen
Zeit nur als etwas ganz Willkürliches fassen.
Was ist denn nun aber der Zustand der ursprünglichen Mensch-
heit gewesen? Das Prinzip, worauf die Entwickelung des Men-
schengeistes in ihren verschiedenen Stadien beruht, ist das Ver-
hältniss des allgemeinen Geistes zum einzelnen. Im Prinzipe sind
beide unmittelbar Eins, nicht feindlich gegen einander gekehrt; da-
mit muss also die Geschichte nothwendig beginnen. Wenn ich aber
sagte „unmittelbar,^ so ist diese Unmittelbarkeit immer eine geistige,
keine natürliche. Es ist also kein Zerfliessen des Individuums in
den allgemeinen Willen, ohne Selbstständigkeit und Freiheit des-
selben, gemeint. Es ist der Wille des Individuums selbst, den
allgemeinen Willen zu thun und sich ihm unterzuordnen, weil es
in der Sitte lebte und noch nicht anders wusste, als diesem durch
das Gesammtleben Festgesetzten zu folgen. Das Böse mag nur
erst als Vorstellung, wohl nicht als That vorhanden gewesen sein,
weil das Individuum, bei der ruhigem, ergiebigem Natur, auch
keinen Anlass zur Selbstsucht und zum unrechtmässigen Mehrhaben
fand. Die Freiheit war im Alllebeu noch nicht erprobt , und daher
auch nur eine mögliche.
Wir wollen hier ganz ununtersucht lassen, wie lange dieser
Zustand unschuldiger Kindheit gedauert habe, ob er nur der kurze
Eingang bis zum ersten Sichfühlen der Individualität, oder ein
ganzes goldenes Zeitalter gewesen sei; ferner, ob denn das Böse
anfänglich ganz und gar nicht, oder doch schon immer, wenngleich,
nur als eine vereinzelte abnorme Erscheinung, vorgekommen sei,
da man am Ende auch nicht einmal die Vorstellung des Bösen ohne
dessen äusserUches Dasein haben kann, und ohne Beides die Frei-
heit, die doch dem Geiste so wenig, als dem Körper die Schwere
fehlen darf, nicht wirklich ist. So viel bleibt gewiss: noch in der
historischen Zeit erscheinen die Völker anfangs ohne starkes Her-
vortreten der Individualität, ohne viel Zurechnungsrähigkeit des
Einzelnen, und mit grossem Uebergewicht des allgemeinen Volks-
geistes, der alle seine Verhältnisse, wie von selbst oder natur-*
wüchsig sich gestalten Hess.
Der Entwickelungsgäng der Geschichte zeigt uns nun
dieses allmählige Freiwerden des individuellen Geistes, sein Sich-
losreissen von den sittlichen Banden des Volkslebens, wodurch er
g2 I^ie philosophiBche Gesellschaft zu Berlin:
zum willkürlichen Subjecte wird, das auch dem Inhalt der Sitte
zuwider sich aus sich selbst seinen Trieben gemäss bestimmt
Diesen Fortgang der Geschichte nennt Stuhr daher mit Recht das
immer weitere Umsichgreifen des Sündenfails. In Griechenland
hörten die Athener zuerst auf , sittliche Menschen zu sein; sie wur-
den durch So k rat es /der zuerst die Entscheidung aus dem Innern
zum Prinzip machte, moralische Menschen. Und wenn er auch
noch die Einheit mit dem allgemeinen Willen als das aus dem
Innern stammende Gute ausspricht, so haben die Sophisten doch
die formelle Subjectivität, d. h. den rein zufälligen Inhalt des
einzelnen Willens, sein Wohl, sein Interesse, seine Selbstsucht als
solche zum letzten Prinzipe gemacht.
In Rom erreicht dieser Egoismus des Einzelnen seine höchste
Vollendung: in der äussern Sphäre seines Daseins als Rechtssubject,
als Person; in den Räumen des Gedankens, als das Ideal des
stoischen Weisen, der jede äussere Autorität verschmäht. Alle
Laster treten im Gefolge dieses Egoismus als der welthistorische
und somit normale Zustand der damaligen Menschheit auf. Die
Sittenverderbniss unter den Kaisern bedarf keiner Schilderung, da
die Zeitgenossen, wie Juvenal und Tacitus, sie an den Schand-
pfahl der Geschichte geheftet haben. Das Herz der Welt ist, wie
Hegel sagt, gebrochen; denn des Individuums Hartherzigkeit hat
den vollständigsten Sieg über dasselbe davon getragen. Der Welt
kann aber ihr Herz und Geist, die Gottheit, nicht fehlen;
sie sucht sich diesen Gott in dem Glanzpunkt der Zeit, im
Individuum, das den Thron der Welt einnimmt. Nicht der Inhalt
dieses Individuums, nicht das göttliche Thun der Cäsaren isi es,
was sie dieser Ehre würdig macht, sondern ihre formelle Sub-
jectivität.
Die Weltgeschichte steht auf dem Angel ihres ganzen Um-
schwungs. Ihr wahres Ziel ist die Einheit des allgemeinen und
des einzelnen Geistes, aber als eine durch das Individuum erst frei
erzeugte, nicht gegebene, die daher auch nicht im Anfang Vor-
handensein kann. Auch unter den Römern gewinnt dieses Prinzip
Gestaltung; aber wir sehen dort die Yerkehrung seiner Momente,
was ich vorhin das Böse nannte. Die Spitze der Pyramide will
die Grundlage werden, und die Winzigkeit des Subjects sich in
seiner Hohlheit zum allgemeinen Willen aufspreizen. Das ist die
die Frage des Jahrhunderte, von Michelet. 93
Ironie des wahren Prinzips, welche aber mitten in dieser Verkeh-
rung auch die Keime der Umkehrung dieses Umkehrens, und so-
mit die Möglichkeit der unendlichen Yeriöhnung, in sich schliesst.
Warum wollte es aber der heidnischen Menschheit selber nicht
mehr gelingen, ungeachtet der unwankenden Grundlage des allge-
meinen Geistes, auf der sie stand, die reine Form der Sittlichkeit
zu erreichen? Gerade weil das Individuum noch nicht in Anschlag
kam. Es konnte aber übersehen werden: im Orient, als ein Moses
Exemplar der Gattung;, oder es tummelte sich auf dem Boden^des
allgemeinen Geistes, in der Willkür seiner Leidenschaften masslos
herum. Der Silberblick des griechischen Lebens hatte keinen Be-
stand, weil die Einheit der schönen Individualität mit dem sitt-
lichen Ganzen nur eine Zufälligkeit der Natur war. Was musste
also geschehen? Das Individuum selbst musste sich zum Boden
des allgemeinen Geistes machen, ihn in sich zur Darstellung brin-
gen, und sein Ich zum Weltgeist erweitern, indem es seinen Inhalt
in sich aufnahm, und sich davon durchzucken und durchglühen
Hess. Das ist Christi welthistorische That und Erkenntniss zu-
gleich. Es machte also auch, wie die römischen Kaiser, seine In-
dividualität zum Göttlichen t aber liicht das Individuum als solches,
was auch dessen jedesmaliger Inhalt sei, z. B. eines Nero und
Caligula; sondern nur das Individuum, in welchem die lodernde
Flamme des Weltgeistes das dürre Holz der individuellen Eitelkeit,
um mit Angelu|s Silesius zu sprechen, verzehrt hatte.
Warum ist aber mit Christus die Weltgeschichte nicht vol-
lendet, da er das Höchste nicht nur ausgesprochen, sondern auch
an sich vollführt hat? Ja eben nur an sich, und damit auch nur
ansich. Den übrigen Individuen war diese That nämlich ihr blosses
Ansich; sie wurde ihnen also zu einer äusserlichen, einmal in der
Geschichte dagewesenen Begebenheit und nach dem leiblichen
Verschwinden Christi zur blossen Vorstellung eines ihnen jenseitigen
Intellectual- Reichs, das, ihren Augen wie durch einen hohen Berg
entrückt, nur einmal den Schleier seiner Geheimnisse durch die
Sendung des Sohnes gelüftet hatte, um den Himmel für lange Zeit
wieder zu schliessen, und den Menschenkindern im irdischen Jam-
merthale nur die Sehnsucht nach jenem Lande zu lassen, in dessen
Besitz sie einzig und allein durch die kühle Pforte des Todes ein-
gehen können. Das ist der Angelpunkt des ganzen Mittelalters.
94 ^^^ philosophisch« Gesellschaft zu Berlin:
Die höchste Wahrheit ist [vorbanden, theoretiisch und praktisch;
aber den Einzebien ist sie fremd, und sie muss es sein, damit Je-
der sie sich durch eigeuß That erst erringe. Diese Aufgabe ist
der modernen Menscheit seit Luther gestellt, nachdem durch des
deutschlBn Mönches Kühnheit die Lüge des Mittelalters in ihrer
ganzen Schamlosigkeit ist aufgedeckt worden.
Drei Jahrhunderte sind seitdem verflossen, aber in dem einen
Theile Europa's und Amerika*s ist die Aeusserlichkeit und ausser*
liehe Spendung dieser Wahrheit zum Prinzipe und Systeme ge«
worden, so dass sogar fremde Werke der Heiligen dem Heil des
Individuums zu Gute kommen können; die andere Hälfte beider
Hemisphären hat zwar das innere Zeugniss des Geistes zum al-
leinigen Prinzipe des Glaubens gemacht; der auch hier ist eines
Andern Verdienst, Christi vor 2000 Jahren vergossenes Blut, der
alleinige Grund unsrer Seligkeit geblieben. Gewiss in einem ge-
wissen Sinne und dann mit dem vollsten Rechte. Denn dieses
Helden Leid und Kreu2 hat der ganzen folgenden Geschichte den Bod^
bereitet, auf dem nur allein die Seligkeit Aller gedeihen kann.
Nur, dass dieses hohe Resultat an das auch unverstandene Hinnehmen
gewisser Formeln und Symbole, und nicht an die freie Entwicke-
lung des dem Prinzipe gemässen Geistes im Denken und Handeln
geknüpft sei, das ist der Punkt, woran die europäische Menschheit
in der Religion jetzt steht; und so ist es im Augenblicke die
Pflicht der Kirche, diese Aufgabe zu lösen. leder soll an sieb
die Erlösung vollbringen, die der Stifter unserer Religion voll-
brachte, den Inhalt der ewigen Persönlichkeit an seiner eigenen
Individualität zur Darstellung bringen und dadurch in diesem Le-
ben der Seligkeit theilhaftig werden, die einem Gotterfüllten un-
entreissbar ist.. Die „freie Gemeinde^ hebt das Symbol aus dem
Reiche der Vorstellung in das der That. Die entgegengesetzten
Richtungen reichen sich ün Neukatholicismus die Bruderhand, ohne
auf die „transscendenten Dogmen^ Rücksicht nehmen zu wollen,
um allejm den Geist des Christenthums, als die thätige Liebe , zur
Wahrheit za machen und so die allgemeine, die triunqdiirende
Kirche anzubahnen.
Eine andere Frage aber ist die, ob denn das Dogma nicht noch
auf eine andere Weise seiner Transscendenz entkleidet werden
und sich im Individuum bewähren könne, ohne eben nur bei Seite
die Frage des Jahrhunderts, von Michelet. ^ 95
geschoben zu werden. Diesen Schritt hat die Philosophie der
letzten drei Jahrhunderte über die Reformation hinaus gethan,
indem sie das Dogma aus der ursprünglichen Gestalt eines indivi->
duellen Factums in die Sphäre der Allgemeinheit erhoben hat. Sie
setzte an die Stelle des historischen Christus die ewige Mensch«
werdang, an die Stelle der zwei Naturen im Erlöser die allgemeine
Einheit der menschlichen und göttlichen Natur, an die Stelle der
Dreieinigkeit besonderer Personen im Himmel die stete Geburt die-
ser Drei, wie Böhme sagt, in allen Erscheinungen des Geistes
Und der Natur. Es fragt sich doch, ob es nicht der Mühe werth
sei, diese ehrwürdigen Symbole, ehe man sie antiquirt, zu be-
greifen, und dann ihnen nicht nur eine nothdürflige Existenz in
dem Systeme der Wissenschaft zu fristen, sondern sie auch im Be-
wusstsein des Volkes durch diese Umdeutung wieder aufzufrischen
und neu zu beleben.
Diese religiös -philosophische Aufgabe sclieint jetzt in Europa
in den Vordergrund getreten zu sein. Der Autoritätsglaube, aus-
gerüstet mit allen Waffen der Macht, des Ansehens, der Gewohn-
heit und, im wiederauferstanden^i Jesuitismus, der auserlesensten
Intrigue, will überall die aufkeimenden Triebe der auch in äusseren
Leben nach Geltung und Anerkennung strebenden Gewissens-,
Denk-, Rede- und Lehrfreiheit zertreten. Zur Rechtfertigung die-
ser Reaction wird angeführt die Nothwendigkeit eines gemeinsamen
positiven Standpunkts beim negirenden Zerfahren der individuellen
Meinungen. Die Forderung einer unantastbaren Wahrheit ist ge-
recht; aber nicht durch Unterwerfung unter eine einseitige, blinde
Autorität kann sie im neunzehnten Jahrhundert, — nur durch freie
Association im lebendigen Austausch der individuellen Ansichten
wird sie befriedigt werden. Daher das Drängen nach Synodal-
Verfassung in allen Confessionen, wovon auch die d-^deoani
Laien Theil nehmen sollen.
Dieses Erzeugen eines Alilebens , aber nicht, wie es am Anfang
war, sondern als mit Bewusstsein herausspringend, wie der Funke
aus dem wechselseitigen Anschlag aller Ueberzeugungen, diess ist
die grosse Aufgabe der Zeit; und an dem innern Gemüthsleben der
Religion habe ich nur ein Beispiel dieses Ringens nach Lösung
angeführt, das sich aber in jeder Sphäre wiederholt. In der Phi-
losophie zunächst hatte die Ichheit sich mit dem Fichte'schen Sy-
Qg Die philosophische Gesellschaft zu Berlin:
Sterne zum Absoluten gemacht; die Philosophie hat seitdem mit
Beibehaltung dieses Prinzips zugleich darauf hingearbeitet, sich zur
objectiv beweisenden Wissehschaft zu machen, durch Aufstellung
einer Methode, die, als Weltdialektik, von jedem Jünger der Wis-
senschaft frei ausgeübt, nur mit freiei' Uebereinstimmung Aller zum
gemeinsamen Ziele führen kann. Ist die Philosophie in ihrem
eigenen Hause einig, — 4ind wie Wenige bestreiten noch, selbst
von den Feinden, die objective Gültigkeit unserer Methode, — so
muss nunmehr die Versöhnung mit den übrigen Wissenschaften
angestrebt werden. Die äussere Autorität der Erfahrung kann
nicht länger der Gewissensfreiheit denkender Erkenntniss entgegen-
stehen; Beides bewegt sich, wenn auch langsam, zu einander hin.
Nachdem so Religion und Wissenschaft in unseren Zeiten sich
ihrer leitenden Prinzipien bewusst geworden sind , drängen sie mit
aller Macht ihres innerlich vollendeten Geistes, in das äussere Da-
sein zu treten; und an diesem Uebergangspunkte zu stehen, diess
scheint mir im gegenwärtigen Momente die Lage der Menschheit
zu sein. Die Vermittelung zwischen jenen tiefsten Erkenntnissen
der Natur der Dinge in Religion und Philosophie einerseits, und
dem wirklichen Leben im Recht und Staat andererseits bildet und hat
von jeher gebildet der heitere Genius der Kunst. Er stellt uns
das wirkliche Leben dar und macht es dem gemeinen Bewusstseiri
anschaulich, nicht wie es empirisch sich bewegt, sondern wie es, seiner
Zufälligkeit entnommen, seinem inneren Wesen und Geiste nach
in den Gedanken gefasst ist, aber in eine ganz vorstellig gewor-
dene Gedankenwelt. Das Reich der Ideen und das sinnliche Dasein
berühren sich also in den schönen Gestalten der Kunst zum innig-
sten .Bruderkusse. Und wenn bisher dieser Genius noch rückwärts
und auf die eigene Gegenwart seines Volkes gerichtet war, wenn die
Psalmen David's Jehova's Erhabenheit und die Zerknirschung des
jüdischen Bewusstseins gegen ihn, Sophokles' Antigone die höchste
Blüthe der griechischen Sittlichkeit darstellen, selbst noch Klop-
stock's Dichtungen die Weltanschauung der Wolfischen Metaphysik
und Schiller's erste Dramen nur den moralischen Standpunkt des
vorigen Jahrhunderts reflectiren: so fing dann mit unserm Jahrhun-
dert die Poesie an, eine Weltkunst zu werden. Alle Zeitalter,
alle Sitten und Völker durchging sie, um sie reproduzirend hinzu-
zaubern. Von Walter Scott ging so eine breite Schule aus.
die Frage des Jahrhunderts, von Michelet. Q'j
Auch die Kunst wurde aus der Particularität in die Sphäre der
Allgemeinheit erhoben; und nachdem die Künstler ihre Blicke lange
nur zum Behuf der Nachahmung auf das Rundgemälde der Welt-
gesichte hatten schweifen lassen, beginnt die Kunst eine neue Bahn
ihrer Entwickelung.
Diesen heutigen Standpunkt derselben verdanken wir vornehm-
lich unserm Göthe. Er hat in den Wanderjahren die Kunst der
Zukunft gegründet, das Leben des Schönen, wie es vorbildend
eine neue Welt, die kreisend ins Dasein treten will, den entzückten
Augen der Sterblichen vorführt. Die Kunst bekommt hiermit einen
Zweck, der zum Theil ausser ihr fällt, eine teleologische Bezie-
hung zur Wirklickheit; und damit scheint sie Manchem an die
Prosa hinzustreifen. Das Element des Prophetischen, was in sie
hereinbricht, gibt ihr aber vielmehr einen ^Duft und Ton, der bis-
her unerreicht war. Eugen Sue's sociale Romane kommen hier
besonders in Betracht. Eine Hauptwunde der Gegenwart, das Prole-
tariat und die Auswüchse der Civilisation in der Hauptstadt der
Welt, berührt er mit dem Zauber seiner unnachahmlichen Dar-
stellung. Ich beziehe mich auf eine bald erscheinende Schrift von
mir, worin ich bemerke, dass der Dichter es den Thaten eines
an Faust und Geist übermächtigen Fürsten überlässt, „die Indolenz
der Vorsehung'' durch menschliche Freiheit und menschliche Für-
sorge zu verbessern, bis im „ Juden '^ das Princip der Association
zum einzigen Heilmittel gemacht wird, die Wunden des Jahrhun-
derts zu schliessen. Hier eröffnet sich dem Leser ein Schauplatz,
wo die entgegengesetzten Prinzipien, die Europa in zwei feind-
liche Lager theilen, Stirn an Stirn mit einander kämpfen. Die
dichte Phalanx der organisirten Ordnung stellen die Jesuiten dar,
aber nur mit Ertödtung jeder freien Regung des Individuums; so
dass damit zugleiih der vorgeschobene allgemeine Zweck, die Ver-
herrlichung Gottes, zur ganz particularen Selbstsucht einer hierar-
chischen Klike wird , die alle Sphären des Lebens mit ihrem langsam
zernagenden Gifte umgarnen will, wogegen auf der andern Seite
eben dadurch, dass bei den grössten Standesunterschieden jeder
individuellen Lebensrichtung durch gegenseitig hingebende Liebe
theoretisch und praktisch der weiteste Spielraum gelassen wird,
allein das wahre Prinzip aufgestellt und der allgemeine Zweck ver-
folgt werden kann.
Jahrb. für spccolal. Philo*. I. ft. *f
QQ Did philosophische Gesellschaft sa Berlin:
Wir sind hiermit zum innersten Wendepunkt der Gegenwart
angelangt, der organischen Gestaltung der bürgerlichen Ge-
sellschaft in Europa. Dem Rechte der Consumenten, des Publi-
kums auf gute, reichliche Waare, auf den ganzen Comfort des
Lebens ist durch die allgemeine Vorsorge bis zum Ueberfluss ab-
geholfen. Das Recht auf Arbeit und Genuss, welches der einzelne
Producent hat, war bisher mehr oder weniger dem Zufall über-
lassen. Dennoch ist gerade diese Ausgleichung des besondern
Wohls mit dem allgemeinen Wohle hier die nämliche Forderung,
-die auf allen Gebieten nur in immer unterschiedenen Formen auf-
tritt. Die Versuche von Vereinen zum Wohle der arbeitenden
Klassen (wer gehört ab^* nicht dazu?}, der überall erwachende
Geist der Association ist das Symptom der Zeit, welches uns an-
deutet, welche Probleme zu stellen seien. Der Communismus der
Platonischen Republik, den die Saint -Simonisten und andere Uto-
pisten wieder auffrischen und ins Leben führen wollten , zerschneidet
nur den Knoten, ohne ihn zu lösen. Ja, er verletzt im Innersten
den Lebensnerv der Jetzt-Zeit: die Harmonie des allgemei-
nen Willens durch die Selbstthat des Individuums ver-
mitteln zu lassen. Wird alles Eigenthum zusammengewor-
fen, wer vertheilt dann nach Verdienst, nach eines Jeden Werken?
oder, wenn Alle gleichviel erhalten sollen, wie eine andere Schule
will, wie kann bei ungleichen Begierden und Bedürfnissen das
Gleiche auch nur Einen Augenblick bestehen? und wo bleibt das
Recht ohne die Cäeichfaeit? Die Association ist die einzige
Antwort auf die Frage, weil in der freien Einigung der Glieder
durch Sittlichkeit, schon nach Epikur's Ausspruch, gemeinsam
.wird, was ebenso individuelles Eigenthum der Einzelnen ist
Fourier hat einen Versuch gemacht, die Aufgabe zu lösen, in-
dem er Capital, Arbeit und Fähigkeit als die Elemente d^ Pro-
portion bezeichnet, nach denen das gemeinsam Erworbene zu ver-
theilen^sei. Wir machen in dieser allgemeinen Uebersicht keine
Vorschläge, und entscheiden nichts; wir bezeichnen nur aus den
höchsten Prinzipien der Wettgeschichte die Lage, in welcher die
Menschheit sich jetzt gerade befindet, und die Pri^leme, welche
der Weltgeist zur LösuQg auf des Zeitalters Schultern gelegt hat.
Wenden wü: uns endlich zum politischen Leben, so bricht
es, durch die religiöse Bewegung hindurch, doch auch überall wie-
die Frage dei Jabrhand«rts, von Michelet. 99
der ans dem Hintergrund hervor; und beide Fragen verflechten
steh KU Einer, weil es, wie gesagt, nur Eine Antinomie ist, die
sich in der M^schbeit durch alle Gebiete hindurchzieht. Daher
4ie höchst ungerechte Beschuldigung, dass die religiösen [Refor-
matoren auch polnische Zwecke verfolgen. Was können sie dafür,
Yfimn der Weltgeist beide Fragen an Eine Kette befestigte! Auch
4IH Staate also will der Einzelne nicht isolirt dastehen, nicht ein
Spiessbürger , ein Privatmann sein, der seinen stillen Weg küm-
merlich oder glänzend durch's Leben wandert und das Allgemeine
di^ussen, als eine fremde Macht, liegen lässt, um das er sich nicht
zu bekümmern hat, wenn sie ihm nur Brod -^ ja, wenn sie es
nur — gibt. Er wiH sich nicht abspeisen lassen mit einem Him-
melsbrod, das ihm j^seits verheissen wird, wenn er wirklich in
den Scheoss des Allgemeinen . werde zurückgekehrt sein. Nein!
sdion hier auf Erden will er ein thätiges Glied in dem Organismus
dieses allgemeinen Lebens sein; darin findet er allein seinen Weriji
und seme Würde. Er will ein Staatsbürger sein. Freiheit ist so
allerdings das letzle Panier, um das die M^schheit sich' jetzt
scfaaart. Aber keiüe Willkür, keine zerstörende, isolirende Bestre-
bung, sondern sittliche, in den allgemeinen Geist getauchte Frei-
heit, die jedoch eine solche nur dadurch wird, dass &r der wahre
Mittelpunkt ist, in welchen die Strahlen aller individuellen Geister
einschlagen, und so sehr ihn übarzeugen, als sie aus ihm aus-
strömen.
Nehmen wir, welche Forderung der Völker wir woHen, sie
gehen alle auf Dasselbige: zunächst die Befreiung der Presse von
den sie noch vielfach hemmenden Fessda. Die wahre Presse will
nicht umstürzen; mitsprechen will sie, „durch Geistes Kraft und
Mund^ ins bürgerlicbe Leben eingreifen und so zwischen Theorie
und Praxis eine zweite Vermittelung machen, wie wir die erste
in der Kunst sahen. Und ist die Presse nidit auch eine Kunst?
Im Rechtsgebiete strebt die Gegenwwt vornehmlich nach
Oeffentlichkeit und Mtlndlichkeit der Rechtspflege,
nachGeschwornen-t^Gerichten, weil in allen diesen Institutionen
der objective Reehtsgang zugleich für das Bewusstsein des Bürgers
wird. Es ist sein Recht, ein lebendiges Band der Geister, was
sich dramatisch vor den Augen der Richter, der Partheien und des
Publikums entfaltet. Die That des Verbrechers steigt nodi einmal
7«
^QO Die philosophische Gesellschaft zu Berlin:
als ein abgeschiedener Geist aus dem Schachte der Erinnerung vor
aller Augen auf; sie wird eine gegenwärtige, und nur so kann sie
richtig beurtheilt werden. Vom Eingeständniss darf die Strafe nicht
abhängig sein; aber in seines Gleichen, die „schuldigt über ihn
sprechen, findet der Thäter die^Stimme seines Gewissens, die, als
die Stimme seines Volkes, sein eigenes Innere ist, das sich
hiermit Dasein für Alle gegeben hat. Das Sübjectivste ist das AUer^
objectivste geworden, und Individuum und allgemeiner Geist dann
auch hier in vollendetster Eintracht.
Kommen wir endlich zu den höchsten Sphären des Staats-
ebens, zur grossen Association, als dem Centrum aller kleinen,
worin der Volksgeist sich als Einen lebendigen Willen will, so
sollen hier alle Staatsbürger den allgemeinen Willen in ihrem ein-
zelnen ausdrücken; das können sie nicht besser, als wenn sie
selbst zur Bildung, Bethätigung und Entwickelung desselben stets
qeitragen. Die Repräsentativ- Verfassung ist bisher der
Menschheit als diejenige Staatsform erschienen, in welcher dieser
Forderung am Besten entsprochen werden könne. So ringt, wäh-
rend in Amerika die Frage längst entschieden ist, die Eine Hälfte
Europa's danach, sich dieses Kleinod zu bewafiren und weiter
auszubilden, nachdem sie es einmal erlangt hat: die andere, die
es nicht hat, seinen Besitz zu erkämpfen, — oder zu^ erbitten.
Welche Lorbecrn könnten die Leiter der Menschheit hier pflücken!
Versteige ich mich zuletzt zur höchsten Association des ganzen
Menschengeschlechts! Nicht mit der Austilgung aller Völker-Indi-
vidualitäten in der grossen Weltherrschaft Rom soll die Geschichte
überhaupt schliesseii, wenn auch das Alterthum damit endete;
sondern das Pdncip der freien Einigung des individuellen Geistes
mit dem Wellgeisle soll auch hier zu Grunde liegen. Ueber diese
veränderte Gestalt des Völkerrechts wird in diesen Blättern
vielleicht bald ein Aufsatz eines hochgeschätzten Mitglieds erscheinen.
Die Wissenschaft hat in Kant 's „Ewigem Frieden" die neue Aera
angedeutet; und die Wirklichkeit hat sogar schon begonnen, das
Ideal des Philosophen ins Leben einzuführen. Nicht blutige Kriege
eutscheiden mehr, so scheint es, die Geschichte der Welt. Frei-
lich sind es jetzt meist noch die Mächtigen, die Hauptvölker Eu-
ropa's, welche durch Congresse , Conferenzen, Protokolle, das Loos
der andern festsetzejii wollen. Es ist aber nur Ein Schritt dazu,
die Frage des Jahrhunderts, von Miohelet. \Q±
den Rechtsweg an die Stelle der Diplomatik zu setzen, und durch
den medius tertnmus der Volke rbunde, nach den verschiedenen
Nationalitäten des Erdballs, endlich zu einem Welt-Areopag und
Congressc der Menschheit zusammenzutreten. Beginnen Welt-
handel, Dampfschifffahr rund Eisenbahnen nicht immer mehr
und mehr, Ein gemeinsames Bruderband um alle Stämme der
Menschheit zu schlingen. Werden, die sich ausschliesscn, nicht
zuletzt den Kürzeren ziehen? Fängt nicht selbst das Prohibitiv-
system der Grund -Aristokratie Alt-England 's an zu wanken?
Und bei den Riesenschritten, welche die Geschichte jetzt, ich möchte
sagen, fast täglich macht, wer weiss, was uns die nächste Zu^
kunfi bringt?
Unsere Aufgabe ist gelöst. Wir haben diessmal nur in den
allgemeinsten Umrissen auf die hervorragendsten Probleme der Ge-
genwart hinweisen wollen, welche die Lage Europa's so inhalts-
schwer und zukunflschwanger machen. Wir haben diese Lage
und jene Aufgaben , unserem ui*sprünglichen Versprechen gemäss,
aus den höchsten Prinzipien der Philosophie der Weltge-
schichte abgeleitet, welche uns lehrten, aus den Daten der Ver-
gangenheit und den Reibungen der Gegenwart, der Geschichte
der Zukunft das Prognostikon zu stellen: sie werde die Mensch-
heit zu einem Allleben führen, wo nicht mehr, wie am Anfang,
das individuelle Leben schwach und unbedeutend sei, sondern, zur
höchsten Stärke erblüht, doch durch den klaren Krystall seiner
Gestalt die reinen Züge der ewigen Persönlichkeit des Geistes hin-
durchscheinen und somit alle Geister in Einem wiedergeboren
werden lasse. Gilt dieses Prinzip der Freiheit schon für Jen ein-
zelnen Geist, um wievielmehr muss die Zukunft nicht den Völ-
ker-Individualitäten ihre Freiheit bringen? auf dass sie alle, auch
die jetzt noch unterdrückten oder zurückgedrängten Nationalitäten,
von ihren Drängern emancipirt, mit gleicnem Rechte an der Con-
stituirung der Menschheit zum Leben ihres Gesammtwillens mit-
arbeiten.
Ist diess nicht die nächste Zukunft der Menschheit, so möge
der Leser die gutmüthige Zuversicht des unterzeichneten Verfassers
nicht belächeln, sondern es der Wärme seiner Ueberzeugung von
der Wahrheit dieser sittlichen Idee nachsehen, wenn er, aus den
unwankenden Prinzipien der Wissenschaft, der Zeit nach zu vor-
eilige Consequenzen für die gegebenen Verhältnisse der Gegen-
wart gezogen hat; denn dem Prinzipe bleibt die Zeit gleich-
gültig.
€• ü. mielielei.
VI.
Plilla80phl8elie Betrachtungen^
von
Dr. 3. X C^« U$igtlatVitftx.
(Vergleiche das erste Heft Seite 153 — 167.)
II. Uelber den Anfang der Pliilofiophle.
Juüs Heil unserer Forschungen hängt von der
Klarheit des Bewusstseins ab, mit dem wir sie begin-
nen — die Festigkeit des Gebäudes von dem Funda-
mente."*) Diese Worte findet wohl mancher so klar, dass er
sie einer Erörterung gar nicht bedürftig glaubt, und so wahr,
dass er sich nicht wenig wundert „ wenn jemand, dem er gesunden
Menschenverstand zutraut, ihnen nicht ohne Weiteres beistimmt
Doch von denen, welche diesen Worten vollkommen beizustimmen
vorgeben, werden wenige mit klarem Bewusstsein behaupten,
dass das Heil unserer Forschungen von der Klarheit des Be^^usst-
Seins abhänge, mit dem wir sie beginnen; viele werden die Ant-
wort schuldig bleiben, wenn sie gefragt werden, worauf die Mög-
lichkeit eines solchen Beginnens beruhe. Zwar ist es leicht
einzusehen, dass in einem solchen Beginnen ein Widerspruch Hegt;
denn des Forschens Zweck ist, über irgend etwas zum Bewusstsein
zu kommen, so dass, wer mit klarem Bewusstsein zu forschen
♦) Dr. Ernst Freiherr v. Feuchtersleben , Lehrbuch der ärztlichen Seelen-
kunde. Wien 1845, S. 7.
.PhilosophuM^he Betrachtungen, etc. IQQ
beginaen will}, in der That nichts Anlief es will, als mit Bewosst-
sein zum Bewusstsein kommen» Doch dieser Widersprach ist nicht
leicht zu lösen. Wer iha aber nicht gelöst hat, der kann wohl
ahnen, dass er seine Forschuogai mit klarem Bewusstsein begin-
nen müsse, um über seinen Gegenstand zum klaren Bewusstsein
zu kommen, uftd kann daarnacb streben; doch wiiitlidi s^e
Forschungen mit kkrem Bewusstsein zu beginnen^ v^mäg er nicht,
weil er, ^ zu beginnen, nicht mit klarem Bewusstfiein zu
streben vermag.
Von der Lösbarkeit des angedeuteten Widerspruchs hingt es
m Wahrheit ab, ob die Philosophie überhaupt möglich sei, oder
nicht; erst wenn die Philosophie ihn gelöst hat, weiss sie sich als
möglich. Jede bestimmte Philosophie muss ihn daher nothwendig
irgendwie lösen. So scheint es freilich, als sei es unmöglich, wirk-
lich anzufangen zu philosophiren, weil man, bevor man wirklich
anfangen kann zu philosophiren, schon philosophirt haben muss.
Allein hiermit ist weiter nichts gesagt, als dass die Philosophie
eben jenen angedeuteten. Widerspruch zu lösen habe. Die Philo-
sophie beweisst ihre Möglichkeit nicht vor ihrer Wirklichkeit, son-
dern durch diese. Den Widerspruch , den sie, um sich als möglich
wissen zu können, lösen muss, löst s^ich nicht, bevor sie ist,
sondern unmittelbar durch ihr Sein; jeder Schritt, den sie
thut, ist ein Schritt in der Lösung des Widerspruchs, von dessen
Lösbarkeit sie abhängt. Dieses so eben Angedeutete wird im Fol^
genden klarer werden.
Dass das Heil unserer Forschungen von der Klarheit des Be-
wusstseins abhänge, mit dem wir sie beginnen, haben alle Philo-
sophen, welche dieses Namens würdig sind, wenigstens geahjit
und durch ihr Thun anerkannt, indiem sie mit Bewusstsein zum
Bewusstsein zu kommen strebten, wenn sie schon nicht mit
klarem Bewusstsein strebten. So beginnt Piaton seine Un-
tersuchungen stets mit der Erörterung des Problems, das er zu
lösen beabsichtigt, um sich zum Bewusstsein zu bringen, was er
denn eigentlich wolle. Sein grosser Schiller Aristoteles unter-
nahm seine logischen Untersuchungen wohl zu keinem andern
Zweck, als um sich seines Philosophirens so viel als möglich be-
wusst zu sein; wer ihn der Dunkelheit anklagt, dagegen Piaton
verständlich findet, beweist, wie wenig er sich selber verstehe,
j^04 Pfailosophisdie Betrachtungeo ,
indem ihm das Unverständliche verständlich, das Verständliehe un-
verständlich scheint. Während Piaton , wenn es darauf ankommt,
den Knoten zu KTsen , eben weil er sich noch nicht klar geworden,
seine Zuflucht zu Mythen und Bildern nimmt, ^) erhebt sich ja
Aristoteles allein vennittelst der Begriffe. Gartesius suchte zu
demselben Zwecke, zu welchem Aristoteles auf die Form des Er-
kennens und Wissens refiectirte, die Regeln der Logik zu verein-
fachen.^'*'} Namentlich aber gehen Kant und Fichte davon aus,
dass beim Philosophiren Alles davon abhänge, mit wie klarem Be-
wusstsein man beginne. „Durch Hume's Skepticismus angeregt,
ging Kant unmittelbar auf die Hauptfrage los: Ist überhaupt eine
wissenschaftliche Erkenntniss möglich? Diese führte auf die Unter-
suchung der Erkenntniss und des Erkenntnissvermögens.***}^ Beim
*) Vergl- Piaton Phaedr. Cap. 24 ed. Ast., p. 246 A. ed. Steph. Dass Pia-
ton von nicht Wenigen für verständlicher gehalten wurde, als Ari-
stoteles, geht aus den Schriften hervor, welche zur Erläuterung
beider geschrieben sind. Piaton hat daher auch unter den Philologen
viele Freunde gefunden. Allein woher kommt's, dass die Platonische
Philosophie so verschieden aufgefasst worden?
**) Vergl. C. G. I. Jacobi, Descartes Leben. Berlin, 1846. S. 19. „Aber
wie wenn einer allein im Finstern geht, beschloss ich so langsam uud
vorsichtig zu schreiten, dass ich, wenn ich auch nicht rasch vorwärts
käme, doch wenigstens nicht fiele. Auch wollte ich, ehe ich alle meine
früheren Meinungen abschüttelte, erst einen neuen Plan meines
Werks entwerfen und die wahre Methode suchen, wie ich
zu aller der Erkenntniss, deren mein Geist fähig ist, kom-
men könnte. Und wie die Menge der Gesetze nur dazu dient, den
Verbrechern zur Straflosigkeit zu verhelfen, in einem gut geordneten
Staate aber wenig Gesetze streng befolgt werden, so glaubte ich auch,
statt der grossen Menge Regeln der Logik mit folgenden
vier auszureichen, wenn ich sie nur streng hielte." Diese vier
Regeln sehe man am a. 0. Sie lassen sich noch vereinfachen, und durch
Zusammenfassung der drei letztem auf folgende zwei reduciren :
a} „Phjlosophire vorurtheilsfrei, nur, was Du selber erkannt, für wahr
haltend." .
b) „Philosophire mit klarem Bewusstsein." Diese letztere Regel invol-
virt offenbar die erstere ; denn wer mit klarem Bewusstsein philo-
sophirt, der philosophirt auch vorurtheilsfrei, hält nichts ohne Grund
lür walir oder falsch.
•♦♦) V. Feuöhtersleben a. a. 0. S. 52. — Die Frage: „Ist überhaupt eine
wissenschaftliche Erkenntniss möglich?" ist nicht zu verwechseln mit der
von Dr. J. A. Ch. Voigtlaender. •{()5
Beginne seiner Kritik des Erkenntnissvermdgens hatte Kant keine
andere Absicht, als für sein Philosophiren eine sichere Basis zu
gewinnen; nach Vollendung der Kritik wollte er erst anfangen
zu philosophiren und zwar in der Weise, dass sein Philosophiren
nicht ein „blosses Herumtappen** sei.*3 Wie sehr Fichte bemüht
gewesen, mit klarem Bewusstsein zu philosophiren, geht nament-
lich aus seiner Schrift: „üeber de» Begriff der Wissenschaftslehre*
hervor.
Wenn, man gegen die angeführten Philosophen, deren Zahl
wir übrigens noch bedeutend vermehren könnten, die Mystiker
anführt, denen es ni<^ht darum zu thun gewesen, mit klarem Be-
wusstsein zu philosophiren, so wäre darauf schwerlich mehr Ge-
wicht zu legen, als wenn statt der Mystiker Dichter angeführt
würden; dem Philosophen ist es um wissenschaftliche Erkennt-
niss zu thun, und nur davon, ob nach einer solchen mit klarem
Bewusstsein gestrebt werden müsse, ist hier die Rede. Etwas
mehr Gewicht wäre wohl darauf zu legen, wenn jemand behaup-
tete, Hegel sei zu wissenschaftlicher Erkenntniss gelangt, wenn
gleich er nicht mit klarem Bewusstsein, sondern voraussetzungslos
angefangen. In der That kann es zweifelhaft erscheinen, ob auch
Hegel der Meinung gewesen, dass das Heil seiner Forschungen von
der Klarheit des Bewusstseins abhänge, mit dem er sie beginne,
da er in einer und derselben Schrift sich darüber verschieden
ausspricht. Gegen das angedeutete Streben Kant's sagt er:**) „Es
ist eine natürliche Vorstellung, dass, ehe in der Philosophie an die^
Sache selbst, nämlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in
Wahrheit ist, gegangen wird, es nothwendig sei, vorher über das
Erkennen sich zu verständigen* — und bezeichnet seine Philo-
sophie als eine „Wissenschaft, die ohne dergleichen Bedenklich-
Frage, welche Kant aufwarf: „Wie sind synthetische Urtheilea priori
möglich? oder: Wie ist Erkenntniss aus reiner Vernunft möglich?**
♦) Kant Kril. der r. Vern. 1790. Vorrede S. XXII. „Sie ist ein Traktat
der Methode, nicht ein System der Wissenschaft." S. XXXVI. „Viel-
mehr ist die Kritik die nothwendige vorläufige Veranstaltung tur
Beförderung einer gründlichen Metaphysik als Wissen-
schaft« Vergl. S. VII. XV.
♦*) Phänomenol. Berlin, 1832. S. 59.
^0^ Philosophische BetrachtuDgen,
keiten ans Werk geht und wirklich erkennt^ '*'3 Hingegen scheint
er dieses gegen Kant Gesagte zurückzunehmen» wenn er sich gegea
diejenigen wendet, welche in ihren Philosophiren erbaulich sein
woUea und auf die Wissenschaft Verzicht 'Ihun.'' Dieses **) pro-
phetische Reden y^ sagt er, ^meint recht im Mittdpunkt und in der
Tiefe zu bleiben, blickt verächtlich auf die Bestimmtheit
(den Horos) und hält sich ab»cbtKch von dem Begriffe der Noth-
wendigkeit entfernt, als von der Reflexion, die nur in der End-
lichkeit hause. ^ — Zugleich, wenn dieses begriffslose substantielle
Wissen die Eigenheit des Selbst in dem Wesen versenkt zu haben
und wahr und heilig zu philosophiren vorgibt,, so verbirgt es sich
diess, dass es, statt dem Gott ergeben zu sein, durch die Ver-
schmähung des Masses und der Bestimmiung vidmebr nur
bald in sich selbst die Zufälligkeit des Inhalts, bald in ihm die
eigene Willkur gewähren lässt. Indem sie sich dei9 ung.ebän-
digten Gähren der Substanz überlassen, meinen sie, durch
Einhüllung des Selbstbewusstseins und Aufgeben des
Verstandes, die Seinen zu sein, denen Gott die Weisheit im
Schlafe gibt; was sie so in der That im Schlafe empfangen und
gebähren, sind darum auch Träume."***)
Ebenso wie alle Philosophen gestrebt haben,, mit Be-
wusstsein zum Bewusslsein zu kommen, kann behauptet werden,
dass alle, von dem Resultate ihres Strebens aus, den gemachten
Weg zurückgegangen, um das auf ihm Gefundene, sowie ihn selber
zu begründen. Mehr als durch jenes Vorwärtsgehen wird durch
dieses Zurückgehen ausgesprochen, dass das Heil aller Forschung
von der Klarheit des Bewusstseins abhänge, mit dem man sie be-
ginne. Es wird durch dieses Zurückgehen das Vorwärtsgehen zu-
nächst als mangelhaft bezeichnet, indem das letztere durch jenes
begründet werden soll. Der hierin sich offenbarende Widerspruch
ist indess derselbe, der sich überhaupt in dem Streben, mit Be-
•) Ebend. S. 60.
•♦) Ebend. S. 9.
♦♦♦) A. a. a S. 9 und la Vcrgl. Logik. Berlin, 1833. Bd.I, S.29. „Aber
der reflectirende Verstand bemächtigte sich der PhilosophiiB.** Ob
und inwiefern Hegel mit sich im Widerspruche sei, werden wir unten
in Betracht siehen.
von Dr. J. A. Ch. Yoi^Üafinder. |07
wusstsein zum Bewusstsein kommen zu wolleu, ausspricht, denn
in der That ist dieses Streben in jenem Zurückg^ehen nur fortgesetzt.
BeTorwir iadess dieses Zurückgehen vom Resultate aus als ein' nur
jfortgesetztes Vorwärtsgeben näher in Betracht ziehen, richten wir
unseni Blick noch einmal auf das Streben, welches sich sofort als
ein Vorwärtsgehen ankündigt
Um KU erkennen, wovon ein Philosoph in seinem Philosophiren
zunächst ausgegangen, ist die Darstdiung oder €onstruction seiner
Philosophie von seinem Philosophiren selbst wohl zu unterschei-
den.*) Auf die Construction pflegt das gefundene Resultat selbst
in dem Falle Einfluss zu haben, wenn man diesen Einfluss absichtlich zu
vermeiden sucht; diess aber ist sehr natürlich, denn schon mit
jener Absieht ^ nicht von dem gefundenen Resultat auszugehen, tritt
zu dem ersten Erkennen eine Reflexion hinzu, die sich zwar
als Abstraclion vom Resultate gebärdet , doch als solche zu diesem
in Beziehung steht. Die meisten Philosophen haben aber auch ans
einem Grunde, den wir unten näher erkennen werden, iiichl ein-
mal die Absicht gehabt, bei der Darstellung ihrer Philosophie den
Weg zu wählen, den sie vorher selber gegangen.
„In neueren Zeiten erst ist das Bewusstsein entstanden, dass
es eine Schwierigkeit sei, einen Anfang in der Philosophie zu
finden,***) sagt Hegel. Offenbar ist hier nicht die Rede vom An-
fange in der Darstellung, wiewohl auch dieser eine Schwierig-
keit mit sich führen kann. Die Darstellung wird in jedem Falle
durch einen subjectiven Zweck bestimmt. Wem es schwierig er-
scheint, für die Darstellung einen Anfang zu finden', der beweist,
dass er über den Zweck der Darstellung mit sich noth nicht einig
sei und eben darum, weil er noch nicht weiss, was er will, sich
noch nid>t zu einem bestimmten Anfang entschliessen könne;
während er also nach einem Anfange für die Darstellung zu
♦> Tcrgl. Dr. Franz Anton Stanilenmatcr, Därrtelhing und Krit. des Hegel-
scfaen Systeme. Mainz, 1844. S. 194. „Die wahre Methode jeder Phi-
bsophiiß, welche die Resultate ihres Denkens zugleich zur DarsteUung
KU bringen suchte wird, ehe sie noch die Wahrheit darstellt,
dahin streben, nach der Wahrheit zu erkennen. Das Erkennen,
des Objects geht der Darstellung Tonins.
♦♦) Logik, Berlin, 1S33. Bd. I. S. 59.
^Qg Philosophische Betrachtungen,
suchen meint, sucht er in der That nach einem Zweck für die-
selbe. Versteht aber Hegel in obiger Stelle unter „Anfang in der
Philosophie" den Anfang desPhilosophirens, so muss er zu-
geben, dass, einen solchen Anfang zu finden, erst dann schwierig
erscheinen kann, wenn nach ihm gesucht wird, d. i. nachdem
über das Philosophiren selbst reflectirt worden. Ein solches
Reflectiren setzt das Philosophiren als Object voraus; führt also
das Reflectiren über das schon stattgefundene Philosophiren dahin,
einen Anfang zu suchen, so spricht sich in diesem Suchen aus,
dass nicht angefangen werden solle, wie angefangen
worden ist. Per gesuchte Anfang ist so zunächst bestimmt gegen
den bereits gemachten Anfang im Philosophiren. Wurde letzterer
ohne vorangegangene Reflexion oder unmittelbar gemacht , so soll
der gesuchte Anfang nicht unmittelbarer, sondern vermittelter
Anfang sein: es soll mit klarem Bewusstsein begonnen
werden.
Da^s man mit Bewusstsein zum Bewusstsein zu kommen streben
müsse, wird zunächst blos geahnt, und darum wird*zwar darnach
gestrebt, aber nicht mit Bewusstsein. Es wird zunächst über
das gegebene Object reflectirt, während das Subject hinter dem-
selben versteckt bleibt und auf sein Erkennen nicht achtet. Der
Widerspruch, von dessen Lösung das Philosophiren abhängt, wird
zwar sofort in dem ersten Philosophiren gelöst, jedoch nur un-
mittelbar; denn ohne dass philosophirt wird, kann er gar nicht
ins Bewusstsein treten; er muss daher gelöst sein, bevor man ihn
kann lösen wollen. Zur Zeit, als die Griechen zum Selbstgefühl
erwachten und die Philosophie in den Sophisten auf das Subject zu
reflectiren begann, trat jener Widerspruch in ziemlicher Klarheit
hervor und machte Anspruch auf Lösung; doch die Sophisten,
gleichsam als hätten sie ihre Kraft in der Auf Weisung desselben
erschöpft, blieben in ihm befangen und gaben in dieser Befangen-
heit sich der Meinung hin, dass er nicht gelöst werden könne;
sie meinten daher, dass die Philosophie) auf das Wissen verzichten
und mit Meinungen sich begnügen müsse; sie er;innerten sich
ihres Philosophirens nicht, wodurch sie den Widerspruch sich^zum
Bewusstsein gebracht, und vergassen so, dass sie ihn in der
That schon gelöst, dass er nur als lösbarer Widerspruch irfs Be-
wusstsein zu treten vermöge. Socrates ,aber rettete die Philosophie
von Dr. J. A. Ch. Yoigtlaender. fQQ
vom Untergange, indem er Göttliches in sich gewahrte und sich so
im Stande fühlte, jenen Widerspruch unmittelbar zu lösen; und dieses
Göttliche in ihm war sein sittliches Gefühl, sein Gewissen,
dem er unbedingt folgen zu müssen glaubte. Doch nur unmitte -
bar, in seinem Glauben, löste er jenen Widerspruch; er glaubte,
durch seinen Glauben selig zu werden und steht so auf dem Stand-
punkte des Protestantismus, protestirt gegen hergebrachte
Sitten und Gebräuche, gegen Werkheiligkeit , ein Luther der
Griechen. Indem er aber den Widerspruch, auf dessen Lösung die
Philosophie beruht, nicht wissenschaftlich zu lösen vermochte,
sondern ihn nur in seinem sittlichen Gefühl, in seinem Gewissen,
gelöst fand und glaubte, so blieb er in Wahrheit in ihm be-
fangen, wie Luther in dem Autoritätsglauben, gegen welchen er
protestirte. *) Denn, dass er in sich die Wahrheit bloss fand und
O Drss Luther im Widerspruch mit sich befangen geblieben , darüber mögen
uns hier beiläufig einige Reflexionen gestattet sein. Als das Wesen des
Protestantismus, wie er in Luther auftrat, ist die Rechtfertigung
durch den Glauben anzusehen. Dieser Glaube ist die subjective
Seite im Protestantismus, in ihm kommt das Individuum zur Anerkennung,
der Laie erhält sein Gewissen zurück. Das Gewissen macht
Anspruch auf absolute Geltung in allen Formen seines Daseins. Nach
dieser Seite muss der Protestantismus die Religion sich entwickeln
lassen, darf sie nicht als etwas für alle Zeit Fertiges
ansehen; denn das Subject entwickelt sich, und wie es, so
sein Gewissen. Doch kehrt der Protestantismus zurück zur ersten
Form der Rchgion, zur Bibel, und erklärt sich so gegen die £nt-
Wickelung der Religion. So aber ist er mit sich im Widerspruche.
Denn wenn er den ' Katholicismus , aus dem er selber hervorgegangen,
nicht als eine Entwickelung der Religion anerkennt, so negirt er sein
eigenes Auftreten; erkennt er ihn aber an und mit ihm die Entwickelung
der Religion, so kann er sich nur behaupten, wenn er sich als eine
höhere Entwickelungsform betrachtet, d. i. wenn er nicht zum Anfange
der Entwickelung zurückkehrt. Soll diese Rückkehr wirkliche
Rückkehr zum Anfange sein, nicht bloss reflectirende, als
, welche sie vielmehr Fortgang wäre, so muss der Protestantismus,
durch seine eigene Entwickelung den Katholicismus anerkennen;
denn er würde ja, wirklich zum Anfange zurückgekehrt, in dieselben
Bedingungen eintreten und daher gerade wie der Katholicismus sich ge-
stalten müssen. — Ferner protestirt Luther gegen die äussere Autorität,
doch bleibt er im Autoritätsglauben befangen ; denn er setzt an die Stelle
des Papstes die Bibel. — - Dass durch Aufweisung dieser Widersprüche
^^0 Philosophiiche Betrachtangen^
sich zu ihr bloss glaubend verhielt, machte sie für ihn tu etwas
bloss Gegebenem; er führte nur andere Götter ein, als der
Staat verehrte 9 doch im Grunde Terhielt er sich zu ihnen hicl^
anders^ als dedr Staat zu den seinen. Sich bloss glaubend ver-
haltend, v^ar er in Wahrheit noch nicht zu sich gekommen; er
war sich, abgesehen von dem, was er in sich fand, noch eine
Leere, wusste nur, dass er nichts wisse. Sein Dämonion warnt
ihn bloss, "^3 er hat nur einen Massstab^ um beurtheilen zu
können, ob etwas wahr oder falsch sei, nicht aber ist er im
Stande, wahrhaft positiv aus sich zu schöpfen, ein System der
Philosophie zu entwickeln, sondern er kann sich Uoss negativ
verhalten gegen etwas Vorgefundenes und ist so an diese«;
gebunden. **)
Piaton hingegen begnügte sich nicht mit dem blossen Glauban,
sondern er strebte zum Wissen, wiewohl er wüste, dass in diesem
Streben sich ein Widerspruch offenbare. Er sucht ihn daher in der
Form, in welcher Gorgias ihn aufgefasst:***) vig ovx dga iött
Ctjxbiv dv^QuriKp ovts 6 olSev , ovre o firi oTöbv • ovja yaQ av
ye o oi8e C^rjroi' oiSe yd^» xal ovSev Sei rcy ye xoiovru) fi;-
ztjoeojg' ovre 6 fjtilj olSev* ov8e yuQ oiSev © ri ^tjTfjaei — und
wie er ihm selber zum Bewusstsein gekommen, zu lösen, nicht
wie Socrates durch unmittelbare Erinnerung, sondern durch
vermittelte. 'Wer weiss, wie dieser Widerspruch von Piaton
gelöst worden, der wird auch wissen, in welchem Zusammenhange
derselbe mit dem Anfange in der Philosophie stehe, und im Stande
sein zu beurtheilen, inwiefern Hegel in obiger Stelle Recht habe.
etwas gegen den Protestantismus gesagt sei, kann nur der glauben,
welcher verkennt, dass ihnen etwas Tiefes zu Grunde liege. Die
Religion ist sowohl etwas absolut in sich Vollendetes, als etwas sich
Entwickelndes; der wahrhaft religiöse Glaube muss sowohl von jeder
äusseren Autorität frei, als durch ein Aeusseres gebunden sein. Beide
Seiten sind zu vereinen; doch hierüber bei einer andern Gelegenheit.
Man vergl. Dr. F. W. Carovö, über das sogenannte germanische und das
sogenannte christliche Staatsprinzip. Siegen und Wiesbaden, 1843.
^} Piaton Phaed. p. 242 B. ed. Steph.
-'») Ebend. Theael. p. 150 C. ed. St.
***J Menon p. 79. E. ed. Steph.
von Dr. J. A. Cb. Voigtlaender. «fj^
Wie schon bemerld^ so kann erst dann, nachdem philosophirt
und auf das Philosophiren reflectirt worden, es schwierig erschei-
nen, einen Anfang zu finden. Dieses Suchen nach einem bestimmten
Anfange ist in Wahrheit ein Suchen nach einem bestimmten Re-
sultat Es soll ein bestimmtes Zid erreicht w^xien und eben darum
darf man nicht nach Belieben anfangen zu suchen, sondern man
mussy um zum Bewusstsein zu konunen, mit Bewusstsein dar-
nach streben. Dieses Bewusstsein, mit wdchem gestreM wird, ist
mangelhaft imd soll dUrdi das Streben vervollständigt werden;
das Ziel also muss den Anfang bestimmen. Die Frage nach dem
Anfange in der Philosophie ist daher in Wahrheit eine Frage nach
der Möglichkeit derselben; denn es fragt sich, wie das Ziel,
nach welchem erst gestrebt wird, den Anfang bestimm
men und das Streben leiten, wie man mit klarem Be^
wusstsein streben könne, zum Bewusstsein zu kommen.
„Aber die moderne Verlegenheit um den Anfang,^ ^sagt Hegel,^)
geht aus einem weiteren Bedürfnisse hervor, welches diejenigen
noch nicht kennen, denen es dogmatisch um das Erweisen des
Prinzips zu thun ist, oder skeptisch um das Finden eines subjec*-
tiven Kriteriums gegen dogmatisches Philosophiren, und welches
diejenigen ganz verleugnen, die wie aus der Pistole, aus ihrer
inneren Offenbarung, aus Glauben, intellectueller Anschauung u. s. w.
anfangen und der Methode, der Logik überhoben sein wollen.^
Ganz reellst; doch dieses Bedürfniss ist kein anderes, als dass die
Philosophie die Möglichkeit ihrer selbst m begreifen bat, oder dass
es ihr um absolutes Wissen zu thun ist. Indess belehrt uns schon
Aristoteles, welche Bcwandtniss es mit dem Anfange in der Philo-
sophie habe, indem er sagt:**) ^id yd^ ro ^up^dC,eiv oi av-
^QüiTior xal pvv xai t6 n^örs^ov ^q^uvto €piKoaog)eiv , e^
aQX^^ A*^" ^^ Tt^ox^t^CL Tvöv dnooAav d-avfAdüavxsq^ dxa Y.axd
fiiXQOV ovTüi TtQolovTB^^ xai 7C6^l Toiv fAiiQoptüv öiano^ij"
cavreq!^ Den Anfang im Philosophireti bildete bisher bei allen
Philosophen ein Problem, welches, subjectiv betrachtet, ein Zweifel
ist. Der Fortgang besteht zunächst im üebergehen von einem
•) Logik. Bd.J. S. 60.
**) Mctaphys. ed. Taiichn. libr. I. c. IL p. 6.
'Il^ Philosophische Betrachtungen,
Probleme zum andern. Jedes Problem enthält in sich selber seine
Lösung, denn diese ist nichts als Entwickelung desselben, die
wiederum Begründung desselben als Problems ist, da es
nur, insofern es gelöst werden kann oder nicht grundlos ist, ein
wirkliches Problem ist. Das Suchen nach einem bestimmten An-
fange im Philosophiren kann somit als ein Suchen nach einem be-
stimmten Problem aufgefasst werden. Diess Suchen geht aus einem
Bediirfniss hervor, das im Wesen der Philosophie begründet ist.
Das Problem ist nämlict etwas Vorgefundenes; beim Ausgehen
von einem Problem ist daher der Philosoph in seinem Philosophiren
abhängig, Wird bestimmt durch etwas Gegebenes. Diese Abhängig-
keit vom Gegebenen ist eine Mangelhaftigkeit im Philosophiren,
die der Philosoph zu überwinden hat. Zwar wird er, wenn er
ein bestimmtes Problem löst, durch diese Lösung auf ein neues
Problem geführt, so dass er nicht zu fürchten braucht, er werde
zu früh ans Ende gerathen; doch eben, dass er auf ein neues
Problem geführt wird, ist ein Umstand, der ihn nicht befrie-
digen kann. Er ist so in seinem Philosophiren nicht bei sich selber,
sondern, einem Schiffer auf stürmischen Meere gleich, wird er von
Welle zu Welle getrieben, nicht wissend, ob, geschweige denn
wo und wie er landen werde. Wie es dem Schiffer lieb sein
würde, wenn er. Eine Welle durchstechend, alle übrigen über-
wände, so dem Philosophen mit seinen Problemen; er wünscht in
Einem Probleme alle möglichen zu lösen. Diess ab^r muss er
nicht bloss desshalb wünschen, weil es nicht angenehm ist, von
einem Problem auf ein anderes zu gerathen, sondern hauptsäch-
lich darum, weil er sonst mit sich gar nicht einig werden kann.
Hätte jedes Problem schlechthin seinen eigenen Grund ,r so dass
alle möglichen Probleme wie Atome auseinanderfielen, so würde
ein Wissen, weil ihm die Einheit fehlte, gar nicht möglich sein;
und umgekehrt, gibt es eine Einheit des Wissens, oder, was das-
selbe ist, eine Wissenschaft, so muss allen möglichen Problemen
ein' und dasselbe zu Grunde liegen, wodurch ebeii sie möglich
sind. Ist diess der Fall, so muss es Ein Problem geben, das alle
mögliche Probleme umfasst, in dessen Lösung sie alle gelöst sind.
Dass es ein solches Problem gebe, muss der Philosoph zunächst vor-
aussetzen, und er darf es, so wahr er bisher von ejnem Problem
auf ein anderes gerieth. Dieses Eine, alle übrige, die überhaupt
von Dr. J. A. Chr. Voigllaender. H3
möglich sind, umfassende Problem darf für ihn nichl etwas Vor-
gefundenes sein, denn als solches könnte es nur ein bestimmtes,
nicht das Problem sein, welches in allen ist; er muss es daher
suchen. Das Suchen nach diesem Problem ist in Wahrheit Suchen
nach dem Anfange im PhilosophiVen, und die Lösung desselben bil-
det den eigentlichen Anfang der Philosophie. Dieses Problem kann
kein anderes sein, als das, durch dessen Lösung die Philosophie
sich als möglich weiss; es ist die Frage: Wie ist überhaupt
wissenschaftliche Erkenntniiss, oder wie ist mit klarem
Bewusstsein zum Bewusstsein zu kommen^ oder wie ist
Selbstbewusstsein als Selbstbestimmung möglich?*)
Bevor wir bezeichnetes Problem näher in Betracht ziehen,
gehen wir in Rücksicht auf den Anfang in der Philosophie ein
wenig auf Hegel ein. Es ist oben gesagt, dass es zweifelhaft
scheinen könne, ob auch er in seinem Philosophiren davon aus-
gegangen, dass das Heil seiner Forschungen von der Klarheit des
' Bewusstseins abhänge, mit dem er sie beginne, und es ist bemerkt,
dass er gegen das Streben, vor dem eigentlichen Anfange des Phi-
losophirens darüber zum Bewusstsein zu kommen, wie man philo-
sophiren müsse, polemisire. Auf seine Polemik einzugehen, ist um
so nöthiger, da es uns nicht gestattet ist, vor einem philosophi-
schen Publikum unserer Zeit uns auf d^s Zeugniss des gesunden
Menschenverstandes zu berufen, indem dieser durch Hegel Ansehn
und Geltung verloren. Denn Hegel will und soll ja nachgewiesen
haben, dass der gesunde Menschenverstand sich gegen die Ver-
nunft als „gemeiner Menschenverstand betrage," und sich in
seiner Gemeinheit als „Missverstand" benehme, als ob die Ver-
nunft es sei, welche mit sich in Widerspruch gerathe, während
es seine eigenen Bestimmungen seien, die sich widersprechen.**)
Wir wollen uns einmal dieses gemeinen Menschenverstandes
annehmen, nicht in sofern er sich als Missverstand, oder als ein
Orakel gebehrdet, sondern insofern er sich wirklich als gesunden
*) Man lasse sich dadurch nicht irre leiten, dasd schon Kant diese Frage
als Hauptfrage bestimmt habe; denn weder, wird dadurch etwas falsch,
dass Kant es für wahr, noch dadurch wahr, dass Hegel es für
wahr gehalten.
♦♦) Logik Bd. I. S. 30.
Jahrb. für speculat. Pbilos. I. 2. g
f\J^ Philosophische Betrachtungen,
Verstand beweist.^} Er muss seine Gesundheit ofTi^baren
durch seine Arbeit; ebenso aber muss er sich selber als krank
zeigen, bevor man ihn krank nennen darf. /
In der That polemisirt Hegel zunächst nicht gegen den ge-
sunden Henschenyerstand, sondern gegen den Unverstand und
ist bemüht, diesen durch die Vernunft zu Verslande zu bringen.
Indem er aber zu diesem Behuf die Vernunft über den Ver-
stand hinausgeh^en lässt, so Mrird sie unverständig und ge-
rälh mit dem Verstände in einen Kampf, aus welchem sie insofern
siegreich hervorgeht, als sie sich des Unverstandes vollkommen
bemächtigt und an ihm einen treuen Bundesgenossen erhält, gegen
den der Verstand nichts weiter auszurichten vermag, als dass er
^) Es kann sonderbar erscheinen, dass Hegel, wenn er gegen den ge-
meinen Menschenverstand polemisirt , dabei die kritische Philosophie, sei
es nun Kant selbst oder seine Nachfolger, im Sinne hat, da doch Kant
dem genseineQ Menschenverstände ebenfalls nicht gewogen war, indem
er nicht bloss sich selbst, sondern ebenso seinen Vorgänger David Hunte
gegen ihn zu sichern suchte. In Bezug auf letztern spricht sich Kant
über den gemeinen Menschenverstand (Vorrede der Prolegomena zu
einer jeden künftigen Metaphysik, Riga, 1783 S. 10 u. s. f.} so aus:
„Allein das der Metaphysik von jeher ungünstige Schicksal wollte, dass
er von keinem verstanden würde, ^ Die Gegner des berühmten Mannes
hätten aber, um der Aufgabe ein Genüge m thon, sehr tief in die Natur
der Vernunft, sofern sie bloss mit einem Denken beschäftigt ist, hinein-
dringen müssen, welches ihnen ungelegen war. Sie erfanden daher ein
bequemeres Mittel, ohne alle Einsicht trotzig zu tbun, nämlich die Be-
rufung auf den gemeinen Menschenverstand. In der That ist*s
eine grosse Gabe des Himmels, einen graden Menschenverstand zu liaben.
Aber man muss ihn durch Thaten beweisen, durch das Ueberlegte und
Vernünftige, was man denkt und sagt, nicht dadurch, dass, wenn man ,
nichts Kluges zu seiner Rechtfertigung vorzubringen weiss, man sich auf
ihn als ein Orakel beruft Wenn Einsicht und Wissenschaft auf die
Neige gehen, alsdann und nicht eher, sich auf den gemeinen Measehen-
verstand zu berufen , das ist eine von den subtilen Erfindungen neuerer
Zeiten, dabei es der schaalste Schwätzer mit dem gründlichsten Ko|»fe
getrost aufnehmen und es mit ihm aushalten kann. So lange aber noch
ein kleiner Rest von Einsicht da ist, wird man sich wohl hüten, diese
Nothhülfe zu ergreifen. Und beim Lichte besehen, ist diese Appellation
nichts ander» als eine Berufung auf das UrtheU Aer Menge; ein Zuklat-
schen, über das der Philosoph erröthet, der populäre WitzUng aber tri-
umphirt und trotzig thut.**
von t>r. J. A. Ch. Yoi^tlaender. i.a
ihn als seinen unversöbnlfchen Gegnet erkennt und sich vor ihm
hütet. Wenn also Hegel, oder wer sonst als Vertreter der so-
genannten absoluten Vernunft sich mit dem gesunden Menschen-
verstände in einen Kampf einlässt, von dem Gegner sofort die
Waffen fordert, so wird der letztere, wenn er wirklich bei Ver-
Stande il^t, eine solche Forderung als eine unverständige zurück-
weisen. Soll es in einem solchen Kampfe zu wirklicher Entschei-
dung kommen, so ist Unumgänglich nothwendig, dass die Gegner
sich gewissenhaft verständigen; es kann aber zu keiner Verstän-
digung kommen, wenn Hegel nicht die Forderungen eingeht ^ einer-
seits uns zu gestatten, dass wir ihn verstehen, andererseits sich
selbst zu verstehen.*) Geht er diese Forderungen ein, so wird
er sich zunächst damit einverstanden erklären, wenn wir den von
ihm selber zur Prüfung angewendeten Massstab auch gegen ihn
anwenden.**) Es kommt demnach nicht darauf an, was Hegel
gemeint, sondern was er gesagt; denn „die Sprache ist das
Wahrhaftere, in ihr widerlegen wir selbst unnriittelbar unsere Mei-
nung.^***) Ebenso komfut es nicht darauf an, was er so thun
gemeint, sondern was er wirklich gethan.
^} Diejenigen Hegelianer, denen unsere Polemik gegen Hegel unwillkommen
ist, erinnern wir an die Anforderungen, welche Kant an sein« Nach-
folger und ^Anhänger macht. Kant sagt (am soeben angef. Orte S. 3.):
„Es gibt Gelehrte, denen die Geschichte der Philosophie (der
alten sowohl als der neuen) selbst ihre Philosophie ist; für diese sind
gegenwärtige Prolegomena nicht geschrieben. Sie müssen warten, bis
diejenigen, die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen
bemttht sind, ihre Sa^he werden ausgemacht haben, und alsdann wird
die Reihe an ihnen sein, von dem Geschehenen der Welt Nachricht zu
geben." Sie mögen selbst entscheiden, ob Hegel dieselben Anforde-
rungen an seine Anhänger gemacht habe, indem wir uns begnügen
tu wissen, dass er sie hätte machen sollen; selbst wissen wir wahr-
haft nur so viel, als wir durch und aus uns selber wissen.
*•) Vcrgl. Hegers Rechtsphilos. Berlin, 1840, §. 100. S. 135.
*"**3* Phänomenologie S. 76: „Als Allgemeines sprechen wir auch das
Sinnliche aus; was wir sagen ist: Dieses, d. h. das allgemeine
Dieses, oder: es ist; d. h. das Sein überhaupt. Wir stellen uns
dabei freilich nicht das allgemeine Dieses oder das Sein überhaupt vor,
aber wir sprechen das Allgemeine aus u. s. w.* Vergleiche unsere
Untersuchung über die Natur des menschlichen Wissens, Berlin, 1845.
Verlag von Julius Springer. S. 51.
8*
im riiilos»phi»ehe Bctrachluof cn ,
Hegel hat »is» etwaß gegen das Streben, vor dem eigenl-
liehen Anfange im Philosophiren darüber eom Bewussisein kommen
zu wollen, wie man zu philosopUren habe, und sagt, dass diess
Streben aus einer natürlichen Vorstellung hervorgehe. Statt
aber diese Vorstellung in Wahrheit als eine natürliche Vorslel*
lung.zu betrachten und ihr auf den Grund zu gehen, bemüht er
sich bloss, sie zu beseitigen, indem er sie von einer Seite,
wo sie gegen den Irrthum gekehrt, am wenigsten bei sich selber
ist, angreift und sie. als eine widersinnige Furcht vor dem Irrthume
darzustellen sucht, die „sich eher als Furcht vor der Wahrheit zu
erkennen gibt.^"^} Wir können uns nun entweder direct g^en
Hegel wenden, indem wir. seinen Anfang, wie er ih^ gemacht
haben will, als einen widersinnigen Anfang darthnn; oder in^irect,
indem wir obiger Vorstellung auf den Grund gehen und durch
positive Entwickelung derselben HegeFs Einwendungen gegen sie
widerlegen. Das Sich^ste ist offenbar, beide Wege einzuschlagen,
wo es geht zugleich, sonst nach einander.
Zunächst kcnnmt es nur darauf an, dass diese Vorstellung
etwas als Wahiieit vorai£Ssetz|, nicht aber, was dieses sei; ^"^3
denn Hegel erklärt sich überhaupt dagegen, „dass, ehe in der
Philosophie an die Sache selbst, nämlich an das wirkliche Erkennen
dessen, was in Wahrheit ist, gegangen wird, es nothwendig sei,
sich über das Erkennen zu verständigen;^ nimmt er aber seine
Erklärung gegen jenes Dass überhaupt, zurück, und wendet
sich bloss gegen das Was, so isterstzuermittehi, ob er Letzteres
richtig aufgefasst.
Hegel hat jedenfalls angefangen zu philosophiren, doch wurde
er, dem Anscheine nach, nicht von jener» natürlichen Vorstellung,
die etwas als Wahrheit voraussetzt, geleitet; er konnte mithin in
seinem Philosophiren nicht nach einem Ziele streben. Zwecklos
und bewusstlos fing er also an zu philosophiren;***) denn halte
*) Phänonienol. S. 64.
*'*) £beud. „In der Tliat setzt sie etwas und gar manches als Wahrheit
voraus und stutzt darauf ihre Bedenklichkeiten und Consequenzen, was
selbst vorher zu prüfen ist, ob es Wahrheit sei."
***) Vergl. Grundriss des Systems der Moralphilosophie von Dr. H. Martensen,
Kiel, 1845. S. 18. „Wo es kein tÜoq gibt, da muss der Mensch auf
den Begriff verzichten. **
von Dr. J A. €b. Yoi^aonder. , Ij-y
er kein bestimmtes Ziel, so konnte er sein Streben nidit als
bestimmtes, hatte er überhaupt gar kein Ziel, so konnte er
sein Streben nicht einmal als Streben wissen. Zwar war sein
Philosophiren, insofern es zu einem bestimmten Resultate
führte, von Anfang an schlechthin bestimmt; doch für ihnVar
es im Anfange schledithln urfbestimmt; er wusste sich gar nicht
als Philosophirender, unterschied sich nicht von seinem Thun,
er wür Philosophirer, und scmst nichts. Mit Recht ^agt er
daher:"^} „Es liegt in der Natur des Anfangs, dai»erdas Sein
sei,' und sonst nichts;^ denn der Anfang seines Philosophirens war
sein Sein. Dieses bestimmte sich selbst aus seiner Natur heraus
und' entwickelt sieh durch seine eigene Dialektik zur absoluten
Idee, die dann, zurückschauend auf die bewusstlos stattge-
fundene Ent Wickelung ihrer selbst, dieselbe als ihr eigenes Thun
anerkennt und gut heisst,'^'^} wie Elohira am siebenten Tage seine
-Schöpfung. Alle Betrachtungen also, die Hegel über den Anfang
der Philosophie, sowie des Philosophirens angestellt hat — deren
Zahl nicht gering ist — , sind von ihm erst, als das Ziel erreicht
war,, angestellt worden, zur Belehrung für den gesunden Men-
schenverstand. Denn für Hegel selbst waren sie, nachdem er,
wenn auch« bewusstlos» zum Resultate g<^ommen, überflüssig; vor-
her aber konnte er sie nicht anstellen, denn „sie setzen etwas und
gar manches als Wahrheit voraus wid stützen darauf ihre Bedenk-
lichkeite»! und Consequenzen (nämlich gegen jene natürliche Vor-
stellung des gesunden Menschenverstandes), was selbst vorh^ zu
prüfen ist, ob es Wahrheit sei."***J Hegel ist daher im Anfafige
*) Logik Bd. I. S. 67.
^^} Ebeiid. S. 64. „— dass das Vorwärtsgehen ein Bückgang in den
Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist, von dem
das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in der That her-
vorgebracht wird."
**♦} Phänomenol. S. 61. Dass diese Stelle auch gegen Hegel angewendet
werden könne, wird sich unten noch bestimmter ergeben. — In Rück-
sicht auf die widersinnigen Consequenzen, welche wir aus Hegels Wor-
ten ziehen, bemerken wir, um Missverständnissen vorzubeugen , dass
sie nicht den Zweck haben, HegeFs Verdienst zu schmälern, vielmehr
ihn gegen ihn selber in Schutz zu nehmen. Denn für die Philosopliie
besteht sein Verdienst nicht darin, was er für sie zu thun gemeint,
I j[g Philosaphiiclle Betmchtui^cn ,
{seine« Philoftopliireiis gegen jeden Angriff gesic^^i glei<Aviel,
ob es sich von selbst Y^nstehl, dass das Sein der AnfiMig sei,
oder ob im Anfange von einem Verslehen noch gar nidit öie Rede
sein kann. Denn wird ihm nachgewiesen, dass es Widersinn^ sei,
mit 'dem Sein anzufangen , so darf und Isann er davon, crime sich
selbst zu widerlegen, keine Notis ndKnen*"^} Verbal es sieh so,
wi? er sagt, dass im Anfange seines Pkilosophfarens der Gegensatz
des Bewusstseins anfgehcriben, so dass. er sieh von seinen Philo*
Saphiren in keiner Weise nnterscheMet,'*^} indem das Sein, w^
ches als Nacht Alles in sieh birgt, der Anfiasig ist, idas bestimm
mungslose Sein .mid sonst nidits: so musste Hegel frd^eh, von
einem Ziele nichts wissend nodi ahnend, ohne idle BedenUichkeiten
ans Werk gehen laid erkennen j"^"^) ak Sein — seiend '— das
Sein.t)
Dass Hegel, beim Anfange smnes Fhitoaophirens, fiber die^n
kein klares Bewnsstsein haben konnte, geht, wofern seinen Worten
zu trauen ist, aus dcar soeben angestellten Betrachtung zur Genüge
hervor. Da es uns njdH ziemt, ohne Grund in seine Worte Miss«-
trauen zn ^etzen, so verweilen wir noch jetzt noch hei dem, was
er. selber über den Anfang seines Philosophir^is gesagt, indem
wir es als v<Hn Resultat ansgesprochen betrachten. Dodi was
sondern was er wirklich gethan. Um diess zu erkennen, können
wir aueh durch die Einsicht unterstützt werden, wie er nieht «nge-
f«iig0ii.
*) Phänomenol. S. 62.
•*) Logik Bd. I. S. 35.
***) Phänomenol. S. 60.
f ) Logik Bd. L S. 69. „Die Philosophie ist hier im Anfange no^ ein
leeresWort," and consequent (vergL S. 62) nidbt einmal ein leeres
Wort, sondern reines Sein, in welches jede Reflexion sowie alles
Bewusstsein (S.35.} begraben ist, so dass im Anfange Philosophriren
und Sein dasselbe ist. Das reine Wissen hat alle Beziehung auf An-
deres und auf Vermittlung aufgehoben, heisst: es ist ohnmächtig —
schlechthin bewnsstlos geworden. Hegel hat also bewosstlos ange-
fangen zu philosophiren, wenn seinen Worten zu trauen ist, d. i. wenn
er nicht etwa bloss hat bewusstlos anfangen wollen. Was „Sein —
seiend — das Sein* zu bedeuten habe, ward der Leser leieht ein<»
sehen, wenn er dafü« itetzt: das Subject (Sein) denkt oder er-
kennt (seiend) das 0 b j e o t (das Sein).
von ür. J. A. €h. Voigllaemkr. | |g
müssen wir httren! Wir erwarten Eine Aufibssung des Anfongs
und finden deren vier; denn Hegel bezeiehnd ihn: a} als das
reine Sein ohne alle weitere Bestimmung, b} als den Anfang
als solchen, c) ab den Entschluss, dass man das- Denken als
solches betrachien wolle, und d) ab das reine Wissen. So
sind wir denn genöthigt, diese vier Auffassungen zu vereinen.
Lassen wir zunächst Hegel selbst sprechen. „Es*) liegt in
der Naiur des Anfangs selbst, dass er das Sein sei, und
sonst nichts» Es bedifff daher keiner sonstigen Vorbereitungen , um
in die Philosophie hineinzukommen, noch anderweitiger Reflexionen
und Anknttpfongspunkle.^ Hiermit ist zu vereinen: „Es^} ist in
der Einleitung bemerkt, dass die Phänomenologie des Geistes die
Wissenschaft des Bewusstseins, die Darstellang davon ist, dass das
Bewusstsein den Begriff der Wissenschaft zum Resultat hat.
Die Logik hat insofern die Wissenschaft des erseheinenden Geistes
zur Voraussetzung, welche die Nothwendigkeit und damit den Be-
weis der Wahrheit des Standpunktes, der das reine Wissen ist,
wie dessen Vermittlung üb^aupt, enthält und aufzeigt.^ So aber
gewinnt die oben berührte, „natttrKche Vorstellung'^ auch fiir Hegel
Bedeutung; als natttrliche Vorstellung des natürlichen Bewusst-
seins *^} musste auch sie mitwirken, dass aus diesem das reine
Wissen als Resultat hervorging. Es bedarf daher nach Hegel kei-
ner sonstigen Vorbereitungen, um in die Philosophie hineinzukom-
men — als dass man auf dem Standpunkte des reinen
Wissens steht, welches Resultat des natürlichen Be-
wusstseins ist, d. i. als dass man sich zum wahren Be-
griffe der Wissenschaft eriioben hat. Doch die natürliche
Vorstellung, gegen welche Hegel polemisirt, will, wie wir unten
sehen werden, dasselbe. Doch hören wn* weiter. Wer nun zum
Begriffe der Wissenschaft gelangt ist, für den ist, nach Hegel, nichts
weiter nöthig, „als das zu betrachten, oder mit Beiseitsetzung
aller Reflexionen, aller Meinungen, die man sonst hat, nur das
*) Logik Bd. I. S. 67.
*«3 Logik Bd. L S. 61.
^ Phänomenologie 5.63. tJ>M natftrliche Bewusstsein wird sich erweisen,
nur Begriff des Wfssens , oder nicht reales Wissen zu sein.
|OA Phtlofti^htsclie Bctrachtotigen ,
aufzunehflnen , was vorhanden ist,^'^} nämlk^h das reine Wissen,
welches, nachdem es alle Beziehungr auf Anderes und auf Ver-
mittlung aufgehoben hat, das Unterschiedslose, die einfache Un-
mittelbarkeil, und, im wahren Ausdrucke, das reine Sein ist.^^}
^Soll***) aber gar keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst
unmittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur da-
durch, dass es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, sein
soll. Nur der Entschluss, den man auch Tür eine Willkür an-
sehen kann , dass man das Denken . als solches betrachten wolle,
ist vorhanden.'^ Doch „dass der Anfang Anfang der Philosophie
ist, daraus kann eigentlich auch keine nähere Bestimmung oder
positiver Inhalt für denselben genommen werden. Denn die
Philosophie ist hier im Anfange — ein leeres Wort,"f) d. i.
ein 'Wort ohne Sinn, — „Das reine Wissen gibt nur diese negative
Bestimmung, dass er der abstracte Anfang sein soll. InsoC^n
das reine Sein als Inhalt des reinen Wissens genommen wird, so
hat dieses von seinem Inhalte zurückzutreten, ihn für sich selbst
gewähren zu lassen und nicht weiter zu bestimm'en.^ff) — „Aber
auch die bisher als Anfang angenommene Bestimmung des Seins
könnte weggelassen werden, sodass nur. gefordert würde , dass.
ein reiner Anfang gemacht werde. Dann ist nichts vorhanden als
ihr Anfang selbst, und es wäre zu sehen, was er ist.*fff)
Wir wollen einmal versuchen, gemäss dem, wie Hegel in dem
soeben Referirten sich ausgesprochen, anzufangen. Am wenigsta)
-wird, dem Anscheine nach, gefordert, wenn wir mit dem An-
fang selbst anfangen; denn nach Weglassung der Bestimmung
des Seins wird nur gefordert, Sass ein reiner Anfang gemacht
; werde, so das nichts vorhanden ist, als der Anfong selbst. Wol-
len wir unsern gesunden Menschenverstand nicht verleugnen, so
müssen wir bekennen, dass im Anfange eine Beziehung zum Ziele
liegt, in der er sofort als Fortgang bestimmt ist. Betrachten wir
") Logik Bd. I. S. 62.
*») Ebend.
**) Ebend. S. 63.
t) Logik Bd. L S. 67.
++) Ebend.
+t+J Ebend.
von Dr. h A Ch. Votgtlaender. ^21
den Anfang ohne Rücksicht auf das Ziel, so betrachten wir ihn
nicht als Anfang; das Ziel bestimmt also den Anfang als Anfang,
und wenn als wirklichen Anfang, so als Fortgang. Ist also das
Ziel in sich bestiiQmt, so auch der Anfang und der Fortgang; das
Ziel ist dem Anfange wie dem Fortgange immanent. „Ferner aber
ist das, was anfängt, schon, ebenso sehr aber ist es auch noch
nicht.**) Der Anfang ist Anfang von Etwas, und diesem ist
schon im Anfange und ist noch im Ziele, nur ist es in jenem
anders bestimmt als in diesem. Der Anfang wird also nicht
bloss durch das Ziel bestimmt, sondern auch durch die Natur des-
sen, das anfangt. Dass also nichts vorhanden sei, als der Anfang
selbst, ist widersinnig, wofern in ihm das Ziel sowie das, was
anfangt, nicht mit gesetzt ist; doch so ist er nicht mehr reiner
oder abstracter Anfang. Es ist also die Forderung, dass ein ab-
strader Anfang gemacht werde, der nicht als Anfang von Etwas,
noch als auf ein Ziel bezogen gesetzt sei, widersinnig; denn sie
fordert ja eben, dass man es bei dem, was ist, beim blossen
Sein, bewende lasse. Darin freilich hat Hegel Recht, dass der
abstracto Anfang dasselbe ist, was das reine Sein, und es ist walur-
lich, um diess einzusehen, sehr wenig Nachdenken erforderlich.
Es wird nämlich bloss gefordert, die angegebenen Beziehungen
des Anfangs wegzulassen; so bleibt freilich nichts übrig, als der
Gedanke der schlechthinigen Beziehungslosigkeit und Bestimmungs-
iosigkeit, oder des reinen Seins« Aber zu sagen, dass so über-
haupt nichts vorhanden sei, ausser dem abstracten Anfang oder
reinen Sein, heisst sich nicht verstehen. Zunächst ist auch das
beim Anfangen mit dem Anfange nicht zu übersehen, dass die For-
derung gestellt wird, es solle ein abstracter Anfang gemacht
werden. Durch sie nämlich tritt der Anfang in eine Beziehung
zum Philosophen und wird als Anfang des Philosoph irens
bestimmt. Die Forderung hat so den Sinn, dass der Philosoph sich
entschliessen soll, einen abstracten Anfang zu machen, eine
Forderung, die nicht ganz einfach ist. Um ihr zu genügen, ge-
nügt nicht, von den Beziehungen, in welchen der Anfang steht,
zu abstrahiren, damit so ein abstracter Anfang entstehe; man
*) Ebend. S. 68.
f22 IMiUaäophteche BetracbluiigeB,
muss auch 9 um wirklich den Gedanken der vöUigefi Beziehungs*-
losigkeit zu erhalten, vergessen, wovon, ja selbst, dass man
abstrahirt hat. Ueberhaupt stammt der Gedanke der Unmittel«-
barkeil aus der Vergessenheit; die Vermittlung ist für im
Bewusstsein aufgehoben, insofern es sich ihrer nicht mehr er-
innert. Doch wollen .wir die Vergessenheit nicht schlecAtkiii
tadebi; denn sie kann, insofern sie aus einem Entschlüsse lent^
springt, eine hohe Bedeutung haben."^}
Indem wir also mit dem Anfange als solchem b^^nen wollen,
finden wir, diass er noch nicht ausreicht, ctess es vielmehr nodi
des Entschlusses bedarf, wenn les zum wirklicfaen Anfange
kommen soll. Doch der Entschluss, sei er auch blosse Willkür,
ist bedeutend mehr, als das reine Sein oder der abstraate Anfang;
denn durch ihn „bestimmt sich der Anfang dadurch, d(fös es An*
fang der Logik, des Denkens für sich, sein solL^ Der Entsditass
ist Willensbestimmung und setzt als solche ein Mehrfiidbes voraus.
Hat sidi Hegel zum Philosophiren entschlossen, so musste,
weil man sich eben nur zu et^as Bestimmtem entschlieston kann,
sein Anfang bestimmter Anfai^ sein« Er hat mit dem reinen
3 ein angefangen, weil er es wollte, und er hat es gewollt,
weil die Idee seinen Willen , oder dieser si<^ nach jener bestiinmte;
er hat die Idee nicht gefunden, weil ^ in seinem Philosophiren
vom Sein ausging, sondern er ist vom Sein ausgegangen, um sie
zu finden; sie hat daher den Anfang, sowie den Fortgang seines
Philosophirens bestimmt; sie vTar nicht bk>ss an sich, sondern
auch für Hegel das „Ursprüngliche und Wahrhafte, von
dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in dar
That hervorgebracht wird;^ an ihr hatte sein Entschluss, insofern
sie seinen Willen bestimmte, seine Voratissetzung. „Es liegt also^
nfeht „in der Natur des Anfangs selbst, dass er das Sein
sei, und sonst nichts,^ sondern es hat diess seinen Grund in der
'^) Der Philosoph vergiss^ dass das Be wasstsein , za dem er gekommen isl,
vermittelt ist, kann den Sinn haben : er 'will in seinem Bewusstsein nichts
dulden, das er nicht selber, dnrch freies Denken, bestimmt und ver-
mittelt hatte; in seinem Bewusstsein soll sich seine Bestimmung als
Selbstbestimmung offenbaren; es soll wirkliches 5elbstbewusst-
sein werden.
von Dr. J. A. Ch. Voigtliender. |23
Idee, von welcher gdefitel, Hegel sich entsehloss, zu philosophiren ;
und wenn er sagt: „Es bedarf daher keiner sonstigen Vorberei«*
tungen, um in die Philosophie hineinzukommen^ — so ist damit
nur gesagt, dass es fl&r Hegel weiter nichts bedurfte, als, von
der Idee geleitel, sich zu entschliessen, mit dem Sein anzufangen.
Es habai sich nachher gar Viele entsdilossen , seiner Forderung
gemäss anzufangen; es u»t ihnen gelungen, einen abstracten Anfang
zu machen, d.i. von Allem, was ihn zum wirklichen Anfang macht,
zu abstrahiren und den Gedanken der Bestimmungslosigkeit zu ge-
winnen; ea ist ihnen gelungen, zu vergessen, wie sie solchen ge-
wonnen, zu vergessen, dass er ohne Beziehung auf das, wovon
er abstrahirt worden, sinnlos ist, zu vergessen selbst,, dass sie
selber ihn gesetzt, und dass die an sie gemachte Forderung,
der sie glaubensvoll sich fügten, nur den Sinn hatte, den Ge-
danken der völligen Bestimmungslosigkeit, des reinen Seins, zu
setzen: doch sie sind dadurch nicht in die Philosophie hinein-
gekommen; wie mit. dem Anfange, so ist es ihilen mit der
ganzen Logik ergangen, bei jeder neuen Bestimmung haben sie
sich derselben Forderung glaubensvoll gefttgt, sie sind blosse
Na ebbet er, geblieben, hsben bei sich nur gesagt: aüro^itpa.
Andere sind anf den Gedanken gekommen, wie Hegel, sich von
derjdee leiten zu lassen — und siehe da! — eine andere Idee
führte zu anderem Resultate.
Um also verstehen zu können, was Hegel über den Anfang
seines Philosophirens sagt, ist nötiiig, auf die Idee, welche ihn
leitete, einzugehen. „Die Wahrheit ist das Ganze; das Ganze
aber ist das durch seine Entwickelung sich vollendende Wesen.^'^}
Die absolute Idee, welche eben jenes durch seine EntwidLclung
sich vollendende Wesen ist, umfasst demnach Alles. Um sich zu
entwickeln, unterscheidet sie sich auf absolute Weise in sich selber,
in ihr Sein und ihren Begriff. Entwickeln nämlich muss sie
sich, um, was sie ist, durch und für sich zu sein; sie muss
sonach schlechthin durch und für sich werden. Demnach ist sie
im zweifachen Sinne zunächst unentwickelte Idee. Einerseits ist
sie als Sein noch nicht zu ihrem BegriiTe gekommen, und sonach
*} Phäoomenol. S. 16.
124 riiilosophtsche Betrachtungen,
im Anfange ihrer Ent Wickelung schlechthin begriffslös — reines
Sein ohne alle Bestimmung, weil eben ihre Enlwickelung von
ihrem Sein aus ihr Werden für sie, d. u Entwickelung zum
Begriffe ist; doch ebenso hat diese Entwid^eiung die Bedeutupg,
dass in ihr die Idee durch sich wird. Die Entwickelung vom
Sein aus ist darum nicht bloss Entwickelung zum Begriffe, son-
dern auch Entwickelung des Seins. Hieraus ergibt sich, was das
Sein zunächst sein muss. Die Idee setzt sich als Sein, um, was
sie ist, durch sich zu werden. Das Sein ist sonach die Idee
als Gesetztsein, doch kann es als solches nicht sofort erschei-
nen; denn um Alles, was sie ist, durch sich zu werden, muss die
Idee sich zunächst ganz abstract setzen, indem sie ja eben erst
ihren Inhalt e.nthüllen, oder erst zu Inhalt kommen will.
Die Idee setzt sich darum nicht sofort als das, was sie in Wahr-
heit ist, als das selber sich sem Sein Setzende, sondern als Ge-
setztsein, in welchem das Setzen nicht mitgesetzt ist; es unter-
scheidet sich also nur an sich vom Wesen. Als Gesetztsein kann
das Sein erst dadurch, dass es aufgehoben wird, erscheinen;
zunächst ist es bloss Gesetztsein, ohne es zu scheinen. In dem
Sein ist sonach aller Schein von dem, was die Idee in Wahrheit
ist, erloschen, es ist das schlechthin Unwirkliche, ohne als
solches sich sofort zu offenbaren; es ist, und zwar, wie ohne aUe
Beziehung zum Begriffe, so zum Wesen der Id^e. Wird die Idee
als solche aufgefasst, als das schlechthin und allein Wirkliche, so
setzt sie sich das Sein zur Verwirklichung ihrer selbst voraus.
Das Sein ist so das schlechthin Unwirkliche, welches die Bestimm
mung hat, aufgehoben zu werden: soweit nämlich die Idee sich
verwirklicht oder seiend wird, hebt sie die Unwirklichkeit oder
ihr Nichtsein auf. So gewinnt das Sein die Bedeutung des bloss
Möglichen; die Idee setzt sich als Sein, heisst: sieset;st sich als
möglich; sie verwirklicht sich, heisst: sie hebt ihre blosse
Möglichkeit als solche auf. — Andererseits setzt die Idee sich zu-
nächst als Begriff, ebenfalls zum Behufe ihrer Entwickelung.
Vom Begriffe aus kann sie sich nur zum Sein entwickeln; darum
muss sie zunächst abstracto r Begriff sein, dem die Wirklichkeit
schlechthin fehlt. In beiden Beziehungen aber ist ihre Entwicke-
lung absolute Entwickelung, d. i. sowohl vom Sein als vom
Begriffe aus begreift sie in ihrer Entwickelung Alles; in beiden
von Dr. J. A. Ch. Voigtlaender. |25
Beziehungen entwickelt sie sich durch und für sich; beide Ent-
wickelungen sind daher wesentlich Eine. Sobald daher die Phi-
losophie wahrhaft beginnt, d. i. sobald der Philosoph sich nicht
melir von dem scheinbaren Unterschiede blenden lässt, sondern
die wesentliche Entwickelung der Idee erkennt, so beginnt er
mit dem abstracten BegriiF als dem reinen Sein und mit diesem
als mit jenem zu pfailosophiren, indem er in ihm selber die Idee
sich entwickeln lässt. Zwar beginnt die zweifache Entwickelung
der Idee, als Seins zium Begriff und als Begriffs zum Sein, mit dem
Entschlüsse des Philosophen, doch kommt dieser Entschluss nur
soweit in Betracht, als in ihm die Bestimmung der Idee liegt, in-
dem es sich nur um die Entwickelung dieser handelt.
Hätte Hegd sich selber verstanden oder verstehen wollen, so
würde er keinen Grund gehabt haben, gegen obige natürliche Vor-
stellung, weil sie mit Bewusstsein zum Bewusstsein zu kommen
strebt, zu polemisiren; auch er hat sich ihrer Forderung gefügt,
Dass sie etwas als wahr voraussetzt, durfte ihr wohl am wenigsten
von Hegel zum» Vorwurf gemacht werden; denn er hat in seiner
Idee Alles vorausgesetzt. Wer ihm solches als Fehler anrechnet,
der thut es unter bestimmten Voraussetzungen. Nachdem schon
so vieles gegen die Voraussetzungen gesprochen, dürfte man auch
wohl anfangen, ein Wort für sie zu sprechen. Es spricht offen-
bar für sie, dass man nicht einmal ohne sie gegen sie etwas vor-
zubringen vermag. Nicht dass man beim Philosophiren etwas als
wahr voraussetzt, sondern was und wie man es voraussetzt, ist
in Betracht zu ziehen. Wir gehen zimächst noch etwas näher auf
Hegel ein.
Hegel hat den Inhalt seiner Idee zwar entwickelt, doch hat
er sie nicht begründet. Dass sie einer Begründung bedürfe, gibt er
zwar zu, sogar deutet er an, dass diese Begründung eine zwei-
fache sein müsse; doch irrt er sich, wenn er meint, dass in der
von ihm gegebenen Entwickelung jene zweifache Begründung ent-
halten sei. Wie er aber die Idee nur vorausgesetzt, so hat er
auch ihre Entwickelung in ihr nur mitgesetzt, nicht begründet.
Zunächst fehlt der Idee Hegels die Vermittlung mit dem Selbst
des Philosophen, oder die subjective Begründung. Gegen diesen
Mangel,' der bei geschehener objectiver, oder richtiger, absoluter
Begründung sich in Wahrheit aufheben würde, haben sich die
126 Pkikwopliische Betmehtirogeto ,
Gegner am meisten gewendet, weil er eben am leiditesten bemerkt
werden kann. Hegel beginnt nicht ohne Grund mit dem Sein,
denn es hat ihn die Idee bestimmt. Allein diese konnte ihn« bevor
sie verwirklicht, nur als sein Begriff von ihr bestimmen. Das
Sein ist daher als Anfang d^ Philosophie noch nicht durch die
Mee, sondern erst durch den Begriff von ihr gesetzt. Dieser aber,
als die noch unwirkliche Idee, kann in Wahrheil das Sein nicht
setzen noch rechtfertigen, ob seines eigenen Gesetztseins; das Sein
ist durch ihn nur als Gedanke gesetzt, dem es, wie seinem Va-
ter, dem Begriffe, an Wirklichkeit fehlt. Wie aber die Idee im
Anfange, so ist auch die Entwickelung derselben oder die Me-
thode nur etwas Gesetztes, das nur in dem Setzen begründet
sein kann. Diess Setzen ist aber, wie der Entschluss des Philo-
sophen, zunächst subjectiv und bedarf, bevor es auf Absolutheit
Anspruch zu machen berechtigt ist, einer Begründung. Der An-
fang darf nicht „wie aus der Pistole^ heraus gemacht werden.
Der Mensch hat nur soviel Recht, als er sich erkämpft; er darf
nicht behaupten, dass er das Absolute zu erkennen berechtigt sei,
bevor er das Vermögen dazu Jn sich nachweist. „Die natürliche
Vorstelhmg, dass, ehe an das wirkliche Erkennen gegangen wird,
es nothwendig sei, siph über das Erkennen zu verständigen,^ hat
einen tieferen Grund als Hegel meint. Es ist ein grosses Verdienst
Kant's, den Kampf gegen „das dogmatische Verfdiren der reinen
Vernunft ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Ver-«
mögens^^) wieder begonnen zu haben, nicht insofern er der
Vernunft ihre Grenzen gesteckt — denn das konnte er nicht ^
sondern insofern er ihr eine Aufgabe gestellt, die sie zu lösen
hat, dass nämlich die Philosophie die Möglichkeit ihrer selbst be-
greifen müsse. „Die Vernunft kann nicht weiter gehen,
als ihr Vermögen reicht,^ beginnt Kant in seiner Kritik. Diess
heisst, objectiv ausgedrückt: „das Wirkliche muss möglich
sein;^ so beginnt Hegel. Wie Kant in seiner Kritik mit dem Ver-
mögen der Vernunft beginnt, um daraus zu entwickeln, wie weil
diese gehen dürfe, damit sie nichts über ihr Vermögen unternehme,
so sucht Hegel das Wirkliche aus dem Möglichen abzuleiten. Es
'') Kam, KrilÜL der r. Vern. 1790. Vorrede, S. XXXV,
t ;
v(>n Dr. J. A. Cb. Voigtlaender. |27
lassen sich beide Behauptungen filglioh umkehren, und sie milssen,
um als Ausgangspunkt dienen zu können, umgekehrt werden. Die
Vernunft reicht als Vermögen gerade soweit, als sie
wirkliche Vernunft ist; das Mögliche muss wirklich sein.
Um in der Philosophie einen wirklichen Anfang zu machen, darf
man nicht, wie Hegel, mit dem Unwirklichen beginnen. Die
Idee ist nach ihm das Ganze, das durch seine Entwickelung sich
vollendende Wesen. Doch sogleich im Anfange ihrer Entwiche*
lung offenbart sie Halbheit und Selbstlosigkeit. Sie beginnt
ihre Entwickelung als abstracter Begriff, dem nur der Entschluss
des Philosophen Leben zu geben vermag. Dass Hegel in diesem
Entschluss sich selbst vergisst und sein Selbst-^nur als abstracten
Begriff anschaut., hindert ihn^ den Mangel seines Anfangs zu be*
merken. Zwar liegt in diesem Entschluss die Idee als Bestim-
mung des Willens; doch dass Hegel eben nur diese Bestim-
mung aufnimmt, den Willen aber, der in dem Entschlüsse das
eigentliche Selbst ist, fallen lässt, bewirkt, dass er vergisst,
was er eigentlich will, und macht den Anfang zum abstracten
Begriff, der nur dadurch belebt wird, dass das nicht berücksichtigte
Selbst sich von selbst einfindet und den Begriff bestimmt. Hegel
weiss daher die Idee, die er entwickelt, nicht als seine Idee, und
darum bleibt er den Beweis schuldig, wie er zu ihr gekommen.
Dass er diesen Beweis zu liefern habe, gesteht^ er freilidi ein, in-
dem er sagt:*) „Die Wissenschaft verlangt von ihrer Seite an
das Selbstbewusstsein, dass es sich in diesem Aether erhoben habe,
um mit ihr leben zu können und zu leben. Umgekehrt hat das
Individuum das Recht zu fordern, dass die Wissenschaft ihm die
Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm selber
denselben aufzeige.*' Keineswegs aber liefert er in seiner Phä-
nomenologie, wie er meint, eine solche Leiter. Diese „Wissen-
schaft das erscheinenden Geistes, welche die Nothwendigkeit und
damit den Beweis der Wahrheit des Standpunktes, der das reine
Wissen ist, wie dessen Vermittlung überhaupt enthält und auf-
zeigt," bedarf leider selber der Rechtfertigung. Einerseits müssen
die Erscheinungen des Geistes erst richtig aufgefasst wer-
*) Phänomenol. S. 20.
129 Philosophische Betrochtui^en,
den, andererseits können sie als Erscheinungen nichts beweisen,
sondern es ist ihnen auf den Grund zu gehen, wazu aber, was
bewiesen werden soll, schon vorausgesetzt werden muss. In der
That ist Hegel auch nicht erst durch die Phänomenologie zum Be«
griffe der Wissenschaft gekommen, sondern er ist in derselben von
diesem ausgegangen und hat das reine Wissen zum Resultate er-
halten, weil er es wollte. — Wie aber die Idee HegeFs ihre
Entwickelung selbstlos beginnt, ebenso endet sie; wie sie von
Anfang an Abstraction von aller Wirklichkeit ist, so bleibt sie der
Wirklichkeit schlechthin fern; sie ist „die Darstellung Gottes, wie
er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und
eines endlichen Geistes ist, ^"^3 d. i. Darstellung des unwirk-
lichen Gottes, dem durch eigene Kraft nicht möglich ist, wirk-
lich zu werden. Freilich bildet sie in ihrer Entwickelung * einen
Kreis ,^^3 doch nicht den Kreis, der Alles in sich schliessi und in
sich ruht, vielmehr einen abstracten, der Wirklichkeit ermangeln-
den Kreis, der sich in einen mathematischen Punkt zusammenzieht,
sobald ihm genommen wird, was von Rechtswegen ihm nicht ge-
hört. Wenn Hegel sagt:***) „Daher ergibt sich auf der einen
Seite, als .ebenso nothwendig, dasjenige, in welches die Bew^ung
als in seinen Grund zurückgeht, als Resultat zu betrachten.
Nach dieser Rücksicht ist das Erste ebenso sehr der Grund und
das Letzte ein Abgeleitetes; indem von dem Ersten ansgegangen
und durch richtige Folgerungen auf das Letzte, als auf den Grund,
gekommen wird, ist dieser Resultat^ — so beweist er dadurch
zwar, dass er von der wahren Form der Wissenschaß, dass sie
nämlich einen in sich ruhenden Kreis bilden -müsse, eine Ahnung
gehabt, doch irrt er sehr, wenn er in der Entwickelung seiner
Idee einen solchen Kreis sieht. Bei ihm ist der Anfang schlechthin
durch seine Idee bestimmt, sie liegt der ganzen Entwickelung ^u
Grunde, kann daher durch den Anfang und die Entwickelung nicht
begründet werden, da beide ja eben, nur als durch sie bestimmt
und begründet, sind. Insofern als die Idee den Anfang und Fort-
♦) Logik Bd. I. S. 36.
**) Ebend. S. 65.
***) Logik Bd. L 65. Vergl. unsere oben angeführte Schrift, S. 27.
von Dr. J. A. Ch. Votgtlaender. 129
gang bestimmt, kann sie, als beiden immanent, nicht Resultat
sein. Doch gesetzt, sie wäre wirklich Resultat der Entwickelung,
so kann weder der Anfang sie begründen, noch sie sich selber.
So aufgefasst, ist der Anfang ebenfalls nur Gesetztes, das die Be-
stimmung hat, aufgehoben zu werden. Sollte der Anfang das Re-
sultat begründen, so müsste er sich selber setzen und in es auf-
heben; doch dieses Setzende und Aufhebende ist als solches im An-
fange nicht gesetzt, auch nicht im Resultat, insofern es Resultat
des Setzens und Aufhebens ist. Man hat in neuerer Zeit die Me-
thode Hegers, das Prinzip der Negativität, für das Absolute
ausgegeben, und insofern mit Recht, als gerade dadurch im Hegel*-
schen System Alles begründet wird, inwiefern darin überhaupt
etwas begründet wird. Doch ist hierbei das nicht zu übersehen,
dass dieses Prinzip nur Formalprinzip ist, welches selber einer
Begründung bedarf, nicht aber sich selber zu begründen vermag.
Hätte Hegel eingesehen, dass das Mögliche wirklich sein
oder aus dem Wirklichen abgeleitet werden muss, so
würde er die Begründung jenes Formalprinzips nicht schuldig ge-
blieben, sondern auf das Realprinzip eingegangen sein und so
wirklich angefangen haben zu philosopbiren.
„Als Wissenschaft ist die Wahrheit das reine sich
entwickelnde Selbstbewusstsein und hat die Gestalt des
Selbst,^ sagt Hegel ,"^3 nicht ahnend, dass er mit diesen Worten
über seine Philosophie ein Urtheil ausspricht, wodurch sie in ihrem
tiefsten Grunde erschüttert wird. Zunächst muss er, wofern er
seine Worte versteht und anerkennt, zugeben, dass die Philosophie
als Wissenschaft über das Selbstbewusstsein nicht hinausgehen
könne, indem dieses ja eben die Wahrheit als Wissenschaft ist.
Eb^so ist zuzugeben, dass in der Philosophie nur von dem Selbst-
bewusstsein des Philosophen die Rede sein könne; denn von
einer Philosophie, die es etwa unabhängig von den Menschen gibt.
*) Logik Bd. I. S. 35. Hegel hat hier freilich nicht gemeint, was er
gesagt hat; er will sagen: Die Wissenschaft ist an ihr seiher das
Wahre, d. i. das Selbst ist von Hegel als abstracte Identität, also
selbstlos bestimmt. Vergl. Phänomenologie S. 19. „Dass das Wahre
nur als System wirklich/^
Jahrb. ffir spcculal. Pbilus. I. 3. 9
y^ Hhilosiopliisrhe BetrHcktungen,
konnte Hegel «Is Menseii niehts wiMen. Er muss also zqgfekm«
dflss die Wahrheit ab Wissenaphafl EiitwidcdBng des mensch-
lieben SelbstKewusstseins uA. Gibt es nodtk eiwas, Abs in diese
Entwickehmg duvrbaos nieht hineiafiiUl, so kann es wenigstens
nifbt für den Mensehen Wriirhelt sem; Aeser kann imr von
einer soleben Wahrheit sprechen, die fimr ihn sein oder von ihm
gewusst werden kann, d. i. von einer menschlichen.
Das Ziel der Philosophie ist also für mich vcAkommene Ent^
wickelnng meines Selbstbewnsstseins, und ebenso für jeden Ao-
dern. So aber triSI die Philosophie der Schein der Subje^iviläl
als einer BesohrünkUieit. Einerseits ist mein Seibstbewiisstsein,
d^ni Anscheine nach, das eines bestimmten Menschen und somit
beschränkt, als im Gegensatze stehend zu den ttbrigen mensdi*
liehen Bewusstsein, sei es mdgliohen oder wirklieben; andererseils
scheint das mensohlicke Selbstbewnsstsein wiederam besdiräriLt
zu sein im Gegensatz zum niebtmenchliehen, sei dieses mm
das göttliche oder ein and^«s. Wenn abo die Wahrheit als Wis-
senschaft für mich nichts Anderes seiii kann, als die Entwjcke-*
hing meines Selbstbewusstgeins, wdches Recht habe ich, sowie
der Mensch überhaupt, sie für absolute oder für die Wahrheit
schlechthin zu halten? Mass ieh nicht, Mpofem es mir um ab-
solute Wahrheil zu thun ist. an mich die Forderung st^l^, mein
Vermögen zu prüfen, ob ich auch absoluter Wahrheit fähig
sei? So kommen wir also auf die schon berührte Präge Kanins
zurück, und zwar wie v. Peuchtersleben sie ausdrückt: „Ist über--
baupt eine wissenschaftliche Erkenntniss möglich?^ Doch dass
Kant die Quellen der Erkenntniss und des Erkenntnissvermögeiii»
untersttcbt und, nach v. Peuchtersleben, „diese Untersuchung mit
einem vor flim nie dagewesenen Scharfsome und vollkommene
Redlichkeit ans Ende geführt,^ kann uns derselben Untersuchwigp
nicht überheben. Zwar sagt v. Peuchtersleben:*} „Kant^3 hat der
*) Lehrbuch d^r ärztlichen Seelenknnde. Wien, 1845. S. 52-
**) Kant sagt hiergegen in seiner Kritik der praktischen Vernunft Cl^iga,
1797. Vierte Auflage S. 2^."): „Was Schlimmeres könnte aber diesen
Bemühungen (d. i. zu einer systematischen, theoretischen sowohl, als
praktischen PhHosophie, aTs Wissenschaft, einen sicheren Grund zu legen3
wohl nicht begegnen, als wenn jemand die unerwartete Entdeckung
von Dr. J. A. Ob. Voin^tlaender. iH.
mena^Uchen Vernuiift ihr S^MStbewnsstgeiii g-egd^en, aber auch
sngMch ihre Grenzen vorgeaeidmel; er hat jeder Wissenschaft
ihr Prinzip und ihren Umfang angewiesen; er hat da, wo unser
Vermögen Mchft ausreicht, uns bewiesen, dass ond warum es
nicht ausreichen könne; er hat gleichsam die Philosophie durch die
Philosophie besiegt — er hat durch seine Kritik auch die Probe
dieser Kritik an die Hand gegeben — , und man kann mit fester
Ueberzeugnng aussprechen:*} seit Kant hat die Philosophie keinen
wesentfiohen Fortschritt gemacht • und konnte keinen machen. Es
mag auf den ersten Blick scheinen, als sei dadurch der Unend-
Udikeit des menscUichen Geistes zu nahe getreten, der in ewigem
Forsdiritt begriffen ist. Aüein genau gesehen, zeigt sich die Sache
miders. Es gibt entweder gar keine philosophishe Gewissheit, oder
es gibt eine, .wie es'eine mathematische gibt. Ist nun diese ein-
mal emtrt» so ist das Forschen von dieser Seite abgeschlossen:
2x2 ist 4, und dabei Neibt es. Gewisser ds gewiss sein wol-
len, beissl Mgewiss werden; wahr ist wahr, und was darüber ist,
ist £risoh. Diese Gewissheit aber ist eine Fonn, und der in sie
zu legende Gehalt ist unendlich. Den Gehalt aber gibt die Sin-
nenwelt und die sittliche. Der Mensch ist nicht zum Denken, son-
dern zum Handeln geschaffen. Er muss über die Gegenstände und
Grenzen seines Denkens endlidi aufs Reine kommen und absehlies-
sen können, sonst ist der Zweck seines Leb^is verfehlt.^ — Doch
möge es Tür y. Fenchtersleben sieb so v^alten, für mich wenig-
stens nkfat. Kant ist freilich zu der Ansicht gekemimen, dass es'
^mit unserm Vermögen der Speculation nicht gut bestellt sei,''^}
kdeaii „wir vo» keinem Gegenstande ak Dinge an sich selbst, son-
dern nur sofern es Objeet der sinnlichen Anschaunng, d. i. als
Erscheinung, Brkeimlniss haben können — , woraus denn freilieh
machte, dass überall es -gar keine Erkenntniss a priori gebe, noch geben
könne. Allein es hat hiermit keine Noth. Es wäre eben so
viel, als ob jemand durch Yernunft beweisen wollte, dass
es keine Vernunft gebe."
*} Es kann sogar jemand mit fester Ueberzeugung aussprechen, dass es
(versteht sich: für ihn) gar keine Philosophie gebe, dass er gar nicht
zum Denken geschaffen sei. #
^) Kritik der praktischen Yem. Vierte Aufl. Vorrede. S. 7.
9*
4 11 2 PhiloBopkische Betrachtmigen,
die Einschränkung aller nur rnttgüchen speeidativea Erkenntoiss der
Vernunft auf blosse Gegenstände der Erfahrung folgt.*) Doch
nennt er selber das, was nach ihm die menschliche Vernu&ft nicht
zu erkennen vermag, ^eins der wichtigsten Stücke unserer
Wissbegirde,'' er sagt, dass „die Natur unsere Vemraift mit der
rastlosen Bestrebung heimgesucht,^ dem Wege, es zu erkennen,
^als einer der wichtigsten Angelegenheiten nachacuspören;^ "^3 er er-
klärt: „Diejenigen, welche sich solcher hohen Erkenntnisse rühmen,
sollten damit nicht zurückhalten,»^ sondern sie öffentlich zur Prüfung
und Hochschätzung darstellen. 'Sie wollen beweisen; wohlan!
so mögen sie denn beweisen, und die Kirtik legt ihnen, als
Siegern, ihre ganze Rüstung zu Füssen.^"^^} Nicht „darin besteht
Kant's nie zu verringerndes Verdienst,^!) der Vernunft ihre
Grenzen gesteckt zu haben, sondern, wie schon bcunerkt, dass er
ihr eine Aufgabe gestellt, deren Lösung sie nicht umgehen kann,
ohne auf ihre Unbedingtheit zu verzichten.
Kant hat übrigens gm% richtig getroffen , worauf es bei der
Begründung der Philosophie als absoluter Wissenschaft ankommt.
Er sagt: ff} „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis« müsse
sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie
a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Er-
kenntniss erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu
nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Auf-
gaben der Metaphysik besser fortkommen, wenn wir annehmen, die
Gegenstände müssen sich nach unserer Erkeniitniss richten, wel-
ches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Er-
kenntniss derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegen-
stände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soU.^ Wei-
ter äussert sich Kant über diese Annahmerfff} „Dieser Verisucb
gelingt nach Wunsch und verspricht der Metaphysik in ihrem ersten
Theile, da, wo sie sich nämlich mit Begriffen a priori beschäftigt,
♦) Kritik der r. Vera. 1790. S. XXVf,
**) Kritik der r. Vern. S. XV.
♦**) Kritik der praktischen Vern. S 7.
•j-) V. Feuchtersleben a. a. 0. S. 53.
++) Kritik der r. Vern. S. XVI.
+++) Kritik der praktischen Vera. S. 24.
von Dr. J. A. Ch. Voigtlaender. |33
davon die corres^ndirenden Gegenstände in der Erfahrung, jenen
angemessen, gegeben werden können, den sicheren Gang einer
Wissenschaft. Denn man kann nach dieser Veränderung der Denk-
art die Möglichkeit einer Ejrkenntniss apriori ganz wohl erklären.^
Wollen wir erkennen, ob diese Annahme wirklich annehmlich sei,
so kommt es Uoss darauf an, sie vollkommen zu verstehen. Zu-
nächst ist einzusehen, dass „Yernunfieikenntniss und Erkenntniss
a priori einerlei ist.^ Ich erkenne etwas a priori^ heisst : ich er-
kenne es, bevor es mr in der Erfahrung gegeben ist. Insofern
ich durch Erfahrung etwas erkenne, werde ich zum Erkennen
bestimmt, bin also in meinem Erkennen von etwas Anderem
abhängig und somit beschränkt. Was ich so erkenne, ist in Wahr-
heit meine eigene Beschränktheit. Da das Bestimmende nicht in
mir ist, sondern in etwas von mir Unterschiedenem, so ist mein
Erkennen einseitiges Bestimmtsein, zu welchem das Bestimmende
zu ergänzen ist. Ohne diese Ergänzung würde mein Bestimmtsein
nicht für mich Bestimmtsein sdn. Worin aber besteht diese Er-
gänzung? Ich reflectire auf mein Bestimmtsein, d. i. setze es
als mein Bestimmtsein, nehme das Bestimmende in es auf. Doch
so bestimme ich mich in Wahrheit selber, mein Selbst ist das Be-
stimmende in meinem Erkennen. Hieraus ergibt sich, dass in
Wahrheit alles Erkennen a jprion ist. Ich kann nichts erfahren,
ohne dass ich es erfahre; ich muss in meinem Erkennen das
schlechthin Bestimmende sein. Gesetzt, A werde durch B be-
stimmt, so ist B zwar in dem Bestimmtsein des A als das Be-
stimmende enthalten, doch nur als Bestimmtsein desselben; A
kann daher, wofern es nicht durch sich selber Bestimmendes ist,
durch B nicht so bestimmt werden, dass es dadurch Bestimmendes
werde. Nur wenn etwas in mir ist, das sich schlechthin selbst zu
bestimmen vermag, d. i. ohne dazu bestimmt zu werden, kann
mein Erkennen in sich seinen zureichenden Grund haben. Es ist
mein Selbst, worauf mein Erkennen beruht und dieses ist nichts
als Selbstbestimmung. Möge mein Selbst immerhin durch etwas
Anderes bestimmt sein, das thut nichts; denn Erkennen kann
aus diesem Bestimmtsein nicht werden, vielmehr ist dazu nöthig,
dass mein Selbst sich selber bestimme. Doch was ist mein Selbst,
sofern es sein eigener Grund ist? Wir nennen das, was nicht
unter dem Gesetze der Causalität steht, sondern seinen letzten
j[34 Philosophische Betraohtangen ,
Grund in steh selber faat, Wille. AUes Erkenaen ist a pnori^
hei»tt demnach: es gib! kein willenloses Erkennen, sondern alles
Erkennen ist Selbstbestimmung.
Kant hat also darin Redit, dass em Erkennen für uns unm<%-
lich sei bei der Voraussetzung, dass unsere Eikenntniss sich nach
den Gegenständen richten müsse, und nicht umgekehrt diese nach
jener; doch machte er den Fehler, seine Annahme nicht consequent
durchzurühren. Wie nahe er übrigens daran war, sich auf den
Standpunkt zu stellen, von weichem aus die Vernunft, vor jedem
SchriSbruch sidier', ihre Entdeckungsreisen zu unternehmen ver-
mag, ist aus der Vorrede zu seinen Prolegomena im einer jeden
künftigen Metaphysik^) zu ersehen. Daselbst sagt er, dass das
von Hume aufgestellte Problem zuerst seinen dogmatischen Schlum-
mer unterbrochen und seinen Untersuchungen im Felde der specu-
lativen Philosophie eme ganz andere Richtung gegeben. ,)Ieh war
weit .entfernt,^ fährt er fort, „ihm in Ansehuiigr seiner Folgerungen
Gehör zu geben, die bloss daher rührten, weil er sich seine Auf-
gabe nicht im Ganzen vorstellte, sondern nur auf eioeft Tfaeil der*«
selben fiel, der,^ ohne das Ganze in Betracht zu zidien, keine
Auskunft geben kann.^'^)^ Doch Kant machte denselben Fehler,
welchen Hume machte, und es ging ihm, was er übrigens be-
fürchtete,'^^) wie diesem. Kant nämlich fasste das Problem ni(At
allgemein genug, um es lösen zu können. Seine Anhänger und
Nachfolger aber verhielten sich zu ihm nicht, wie er 2U Hume,
sondern sie hielten sich bloss an seine Folgerungen, ohne zu
fragen, woher sie eigentlich stammen möchten; das Problem
selbst, das er zu lösen suchte, Hessen sie ganz ausser Acht,
gleichsam als scheuten sie sich, irgendwie Misstrauen in die Lei-
stungen des Meisters zu setzen, weil solches den folgsamen Schü-
lern nicht zieme.
♦) Riga, 1783.
♦♦) Vorrede, S. 13.
***) Ebend« S. 15. „Ich besorge aber, dass es der Ausführung des Hä-
mischen Problems in seiner möglich grössten Erweiterung (nämtich der
Kritik der r. Vem.) ebenso gehen dürfte, als es dem Problem selbst
erging, da es suerst vorgestelll wurde«*"
von Dr J. A. Ch. Voigtlnender* igg
Der Fehler, den Kant »adite, besteht nun darin. Naoh seiner
Anndune sollen die Geg-ensiände sich nach dem Erkennen riefateni
d. i. die Vernunft soll schlechthin das Bestimmende sein. Nun
aber unterschied er von vorne herein eine zweifache Vernunft,
eine theoretische und eine praktische. Offenbar konnte so die
theoretische Vernunft 9 was sie jener Annahme gemäss sollte ^ nicht .
d«s schlechthin Bestimmende sein. Es lag für Kant sehr nahe,
einzusehen) dass die Vernunft, sofern sich die Gegenstände nach
dem Erkeimen richten, auch als theoretische Vernunft prak-
tisch sein müssen Die Frage: ^Wie ist überhaupt wissenschaft-
liche Erk^ntniss möglich?^ ist daher auf die Frage su gründen,:
^Wie ist Selbstbestimmung möglich?^
Wir sagten zu Anfange dieser Betrachtung, dass alle Philo«-
sq»hen davon ausgegai^en, dass das Heil ihrer Forschungen yon
der Klarheit des Bewusstseins abhänge, mit welchem sie dieselben
anfangen und vollführen würden; wir bemerkten, dass auf der
Lösbarkeit des Widerspruchs, der sich in dem Streben, mit Be-
wusstsein zum Bewusstsein zu kommen, befinde, die Möglichkeit der
Philosophie beruhe. Jetzt haben wir diesen Widerspruch in einer
anderen Form. Sobald jemand anfängt zu philosophiren, so fasst
er das Erkennen als Selbstbestimmung auf; er will sich praktisch
verhalten zu seinem Bewusstsein; dieses soll nicht bleiben, wie er
es findet, sondern er will es selber bestimmen; es soll Selbst-
bewusstsein werden. Die Philosophie beruht auf der Selbst-
bestimmung des Menschen, hat an ihr ihre Voraussetzung, so-
wie ihr höchstes, ja einziges Problem; mit der Lösung dieses
Problems beginnt sie und mit ihr endet sie. Durch die Tbat
hat diess jeder Philosoph anerkannt; doch kaum hat sich einer so
deutlich darüber ausgesprochen, als Fichte. Wir führen zum
Schlüsse dieser Betrachtung folgende Worte von ihm an: „Man
soll aus Definitionen nicht folgern — kann nimmermehr heissen,
man solle sich bei seinen geistigen oder körperlichen Arbeiten
keinen Zweck aufgeben, und sich denselben, noch ehe man an die
Arbeit geht, ja nicht deutlich zu machen suchen, sondern es dem
Spiele seiner Einbildungskraft oder seiner Finger überlassen, was
herauskommen möge.^ — Die Wissenschaft ist als solche „nicht
etwas» das unabhängig von uns, und ohne unser Zuthun existirte,
sondern vielmehr etwas, das erst durch die Freiheit unseres, nach
j[g(| Philosophische Betrachtungen etc.
einer bestimmten Richtung hinwirkenden Geistes hervorgebracht
werden soll; — wenn es eine solche Freiheit unseres Geistes gibt,
wie wir gleichfalls noch nicht wissen können. Bestimmen wir diese
Richtung vorher; machen wir uns einen deutlichen Begriff davon,
was unser Werk werden soll. Ob wir es hervorbringen können
oder nicht, das wird sich erst daraus ergeben, ob wir es wirklich
hervorbringen.^'^} Hat Fichte hierin ausgesprochen, dass die Phi-
losophie auf der Selbstbestimmung beruhe und mit ihr beginne,
so sagt er in folgender Stelte, dass sie mit derselben ende, d. i.
üichts als Bestimmung des Selbst sei. „Das"^) höchste In>
teresse und der Grund alles übrigen Interessens ist das für uns
selbst. So beim Philosophen. Sein Selbst im Räsonnement nicht
zu verlieren, sondern es zu erhalten und zu behaupten, diess ist
das Interesse, welches unsichtbar all' sein Denken leitet.^
(Die Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)
♦) Sämmtl. Werke, Bd. I. S. 46.
♦*) Ebend. S. 433.
VIL
Zwei Terderbllche drnndsfttze^
die sich aus der Zeit des verfallenden Mittelalters unserer heutigen Theologie
vererbt haben.
Die Theologie hatte Aristoteles für die höchste abschliessende
Wissenschaft erklärt. Das Mittelalter sah eine Zeit, wo dieser
Ausspruch schien Wahrheit geworden zu sein. Thomas von Aquino,
indem er sagte, dass die höchste Glückseligkeit in nichts Anderem
zu suchen sei, als im Thun des Erkennens, denn kein anderes
Verlangen strebe so sehr nach dem Erhabensten, als das Verlangen,
Wahrheit zu erkennen , Thomas hielt es für die wesentlichste Auf-
gabe des Menschen , den ihm inwohnenden Trieb , der auf Erkennt-
niss der Ursachen ausgeht, zu befriedigen. Die Untersuchung
aber, sagt er, steht nicht stille, bis wir zur ersten Ursache ge-
langen; dann erst glauben wir, vollkommen zu wissen, wenn wir
die erste Ursache erkennen. Von Natur erstrebt also der Mensch,
die erste Ursache zu erkennen, wie seinen letzten Zweck. Die
erste Ursache aller Dinge aber ist Gott; der letzte Zweck des
Menschen ist also, Gott zu erkennen. Daher ist der Gipfel aller
Wissenschaften, worin sie erst Ruhe und Befriedigung finden, die
Theologie. Die ächte Philosophie , von der doch alle Wissenschaften
ihre Grundsätze empfangen, hat ihren Zweck, ihren Höhepunkt
in der Theologie. Nicht weniger hat Duns Scotus die Er-
habenheit der Theologie gefeiert; sie ist ihm die Wissen-
schaft alles Erkennbaren, alles Erkennbare ist in Gott gegründet.
In ihr, wenn sie je den Menschen könnte in ihrer Vollendung'zu
Theil werden, würde ebenso sehr die deutliche Erkenntniss des
^gg Die philosohpische Geselbchaft zu Berlin: ^
Seienden d. h. Gottes, wie des Einzelnen und BesUinmten gegeben
sein, während die anderen Wissenschaften nur eine mehr oder
weniger verworrene Vorstellung davon entwerfen. In Gott, als
seinem Grunde muss Alles anschaulich erkannt werden, und der
menschliche Verstand, ausgerüstet mit unendlicher Fähigkeit und
bewegt von dem übernatürlichen Object (von Gott} ist dazu bei-
stimmt, Alles zu erkennen, das Ganze wie das Einzelne, wran
er auch in diesem Leben noch nicht zur reichsten Entfaltung seiner
unbegrenzten Anlagen gelangt.
Hiernach war also die Theologie die höchste der Wissen-
schaften, über das Stückwerk zur Totalität, über das Verworrene
zur Bestimmtheit, über das Abgeleitete zum Grunde hinausdringend;
alle Wissenschaften sollten in ihr ihren Abschluss, ihre Vollendung
und Sicherheit finden. Es war mit diesem Gedanken zugleidb das
Bemühen verknüpft, zwischen der Wissenschaft von der letzten
Ursache und den anderen Wissenschaften einen lebendigen Zu-
sammenhang zu begründen; seit Albert dem Grossen bis zu Duns
Scotus wird dieses Bestreben überall sichtbar, wenn es auch nicht
immer mit Erfolg gekrönt gewesen ist: aber das Gefühl war rege,
dass die Theologie nicht anders könne an höchster Sielle stehen^
als wenn alles andere Wissen das Verlangen zdge, seinen Maogel
in ihr zu ergänzen, und sie selbst ihre Wahrheiten in aller Art
der Erkenntniss wirksam erweise. Natürliche und übernatürliche
Erkenntniss, weltliche Wissenschaft und Theologie sollten lebendig
auf einander bezogen sein. Empfsdii sidi doch Aristoteles dieser
Zeit darum so lebhaß, weil sie in ihm einen inneren Verband aUes
Wissens entdeckte, weil sie in ihm das Gesetz des Fortschrittes
von der niederen zur höheren Stufe, von dem Möglichen zmii
Wirklichen ausgesprochen fand; und vde die Denker jener Zeit
das (subjective) Erkennen in seinen nothwendigen Bntwicklungs^
stufen von seiner Anlage bis zur vollen Verwirklichung zu begreifen
suchten, so war ihnen auch der Inhalt alles Erkennens vom Sibh-**
liehen an bis zur höchsten Ursache ein von d^n Entwickiuagsge»
isetz getragener, und was in allem anderen Wissen nur noch det
Möglichkeit nach vorhanden war, das sollte in dem Wissen von
Gott, in der Theologie als Wirklichkeit da sein.
Dje künstliche Schranke des mensdtlichen Erkennens^ die noeb
Albert und Thomas festgehalten hatten, um die übärnatürNobo,
zwei verderbliche theologische GniadsäUe, Ton AI. Schmidt. 189
eingegossene Erkenntniss recht genau von der natürlicben zu
unterscheiden, hat Dons Scotus niedergeworfen; sagten jene, alle^
Sein sei unter einem Mass beschlossen und diesem Masse entspreche
auch das Mass der Erkenntniss, und diese von der Schöpfung ge*
setEte Grenee könne kein Geschaffenes überschreiten, wenn nicht
Gott selbst die Schranken öffne und die Creatur vollende: so hat
Duns Scotus hier den Bieg des Christlichen über die antike Welt-
anschauung durchgeführt, indem er diese Grenze des Seins und
Erkeimens fUr eine Fiktion erklärt, und dem menschlichen Geiste
gleich Anfangs eme unendliche Anlage zutraut, denn ohne sie
könne er das Unendliche nicht in sich aufiiehmen; aber alles Hin«
ausgehen des denkenden Geistes über das Sinnliche ist schon die
Wirksamkeit des übersinnlichen Objectes, und die YoUendung der
Ekrikenntniss ist nur die Ausbildung jener unendlichen Anlage -^durch
den Einflttss des göttlichen Verstandes. Von Anfang bis zu Ende
ist es das mit sich identische Subject, das seine Entwicklungs-
stufen durchläuft und nicht durch einen neuen Schöpfungsact braucht
vollendet zu werden. Es lag in diesem Gedanken der Ansatz zur
lebendigsten Verknüpfung göttlicher und menschlicher Wissenschaft;
denn auch die Wissenschaft ist das mit sich stets identische Sub-
ject, das nur im gesetzmässigen Fortschritt seiner Entwicklungs-
stufen seine erste Bestimmung zu erfüllen strebt. .
Aber auf dieser Bahn ist das Mittelalter nicht fortgeschritten,
auch Duns Scotus hat die Conseqeazen seines Salzes nicht ge-
zogen. Vorerst fehlten die Mittel zur Ausführung des Planes;
weder für die Naturforschung, nodi für die sorgfältige Behandlung
der ethischen Wissenschaften hatte das Zeitalter Sinn; die physi-
schen und politischen Schriften des Philosophen' wurden wohl am
seltensten commentirt, wenn sich auch Albert mit seinem univer-
salen Geiste daran gewagt hatte. Blieben aber diese Wissenschaften
unangebaut, so konnte die Theologie aus ihren irdischen Wurzeln keine
frischen Kräfte iiehmen, sie musste verdorren und dahin altern,
und jede Bemühung um sie konnte nur ein formales Geschäft
sein. Es war aber nicht dieser Umstand allein, der die Theologiet
auf eine einsame Höhe hinauftrieb und sie aus allem Zusammenbangr
mit dem übrigen Wissen absonderte, es waren auch Grundsätze,
die auf ihre gänzliche Abtrennung hinwirkten, und diess war das»
viel Geftihrlichere; denn Mittel lassen sich wohl aufbringen, wenn
^j|A Die philosophische Gesellschaft zu Berlio:
ein Zweck da ist; aber wo verderbliche Grundsätze sich einnisten,
da ist weiter keine Hilfe.
Der eine Grundsatz riss allen Zusammenhang des natürlichen
Erkennens und der übernatürlichen Wahrheit ab; das natürliche
Erkennen, sagte man, sei auch nur auf Natürliches und Endliches
beschränkt, es gehe aus von der sümlichen Anschauung und er-
hebe sich nur an ihr zu abstracten Begriffen, zu Vorstellungen
eines Allgemeinen, dem aber keine Realität zukomme; von Gott
gäbe es darum keine natürliche Erkenntniss, weil er nicht Gegen-
stand sinnlicher Anschauiuig sein, also auch nicht in den abstracten
Begriff erhoben werden könne. Unsere Gedanken über die Dinge
hätten mit den göttlichen Gedanken' nichts zu schaffen; üb.^rhaupt
sei die Wahrheit unsrer Gedanken eine rein subjective, sie sei
keine Uebereinstimmung mit der Sache, sondern ein reines Gedanken-
ding, eine zuTälUge Uebereinkunft über die Bezeichnung der Sache.
Die allgemeinen Begriffe, die Arten und Gattungen der Dinge,
welche die Wissenschaß aufstelle, seien weit ensfernt, objectiy
gültige Gesetze, göttliche Ideen zu sein, sie seien nur Zeichen,
an denen sich der menschliche Verstand orientire. Denn wie könnte
ein Reales durch ein Nicht -Reales ausgedrückt werden? Die Wis-
senschaft sei nur eine Verknüpfung solcher Zeichen. Wo sie sich
anmasse, mit diesen ihren Mitteln aus den Wirkungen auf das
Wesen Gottes zu schliessen, da könne sie höchstens eine ganz
verworrene Erkenntniss ermitteln, und für die schöpferischen Ge-
danken, auf welche aus den Wirkungen zurückgegangen werde,
finde sich doch in Gott kein entsprechender Unterschied, da er
ein einfadies Wesen sei, da es nur Eine Idee Gottes gebe. Nur
die Theologie erschliesse das Reich des Uebematürlichen. Ihre
Grösse, ihr Triumph liege aber darin, dass sie unbeweisbar sei,
denn damit der Glaube ein Verdienst habe, müsse er über das
Beweisbare hinausgehen. Der Inhalt der Theologie beruhe auf dem
Willen Gottes und habe keine Prinzipien, aus denen er abgeleitet
werde. Es gebe also keinen Uebergang von der Metaphysik und
den natürlichen Wissenschaften zur Theologie. Nur um diess
Wunder der itt^natürlichen Offenbarung zu verherrlichen, mühe
sich das natürliche Wissen in vergeblichen Versuchen rastlos ab.
Eine neue Schöpfung, eine eingegossene, durch keine Anlage vor-
bereitete, neue Phase des geistigen Lebens sei der Glaube und
zwei verderbliche theologische Grundsätze, von AI. Schmidt. 'Hi,
habe in. seiner Gelassenheit gegen die göttliche Willkür sein Ver-
dienst, gegen diese göttliche Willkür, der es ebenso sehr freige-
standen habe, ein anderes Sittengesetz für die Menschheit aufzu-
stellen, welches das Gebot der Liebe Gottes nicht enthalte, oder
die Liebe zum Nächsten von der Liebe zu Gott unabhängig mache.
Die Vertreter dieser Ansicht (ich will nur die beiden Anfänger
derselben, Durandus a St. Porciano aus der Thomistischen , und
W. V. Occam aus der Scotistischen Schule erwähnen, deren über-
einstimmende Behauptungen ich soeben fast wörtlich angeführt
habe} waren bemüht, jede Brücke, die noch von der natürlichen
zur übernatürlichen Erkenntniss führte, zu zerstören, und richteten
ihre Dialektik gegen alle Versuche der philosophischen Gotteslehre
über das Sein, die Einheit Gottes u. derg., wie sie schon die- hel-
lenischen Denker vorgetragen. Es war eine natürliche Folge,
dass die systematische, wissenschaftliche Behandlung der Theologie
hiernach in Verfall gerieth, was bei den theologischen Ausfuhrungen
der beiden angeführten Vertreter dieser Richtung von selbst in
die Augen springen würde, wenn sie nicht obendrein noch be-
theuerten, dass es ungehörig sei, über das Glauben ein Wissen zu
haben, und dass die Theologie weder eine einige, zusammen-
hängende, noch dass sie überhaupt eine Wissenschaft sei.
Diess führt uns auf den zweiten Grundsatz, der den Bruch
zwischen der Wissenschaft und der Theologie vollendete. Es war
eine alte Frage unter den ScholastUiem (die auch von unseren
alt -protestantischen Dogmatikern regelmässig immer aufgeworfen
und aus einer zweideutigen Lösung nie herausgefordert worden ist},
ob die Theologie eine theoretische oder eine praktisch^ Wissen-
schaft sei. Albertus hat mehr für das Letztere, Thomas mehr für
das Erstere, Duns Scotus entschieden für das Letztere gestimmt.
Die Entscheidung des Duns Scotus blieb nun die herrschende. Die
Theologen jener Zeit zeichneten sich vor denen anderer Zeiten
wenigstens dadurch aus, dass sie für solche verhängnissvolle Ur-
thc^le Beweisgründe aufzubringen suchten, und so führten sie da-
mals an, die Wissenschaft habe es mit dem Allgemeinen und
Nothwendigen zu thun, das Einzelne sei darin nur in einer ver-
worrenen Weise enthalten, die Theologie aber gehe gerade auf
den Einzelnen, auf das Heil seiner Seele; diess Heil sei aber wie-
derum kein Werk wissenschaftlicher Noth wendigkeit, sondern des
^^2 Die phtlotophisehe Geselljohnft iii Berlin:
Willens, des götttichcn wie des inenschlidieii. Das war ein Gnind,
4&k Dans Seolus angabt und wdotiem er durch seine genauesten
Untersuchungen über das Verhältniss von Verstand und Wilte im
Ifenscheaif wie in 6oti^ eine gesicherte Stellung gab. Hatte daher
Thomas gesagt, der Inhalt der (»ibjectiven} Theologie sei Gott
und seine Erkenntniss , so spradi I>ttns als diess Subjeetive den
der Heilimg bedürftigen Menschen aus. Auf dieser' Bahn gingen
die Nachfolgenden nur noch wdter. Einem Beweise, sagte Du-
landtts, stimme der Mensch wohl oder übel bei, den Glaubens-
artikebi aber nur freiwillig. Wie in der Schiffakrtskunde nicht die
Sterne und die Sternenbahnen Gegenstand der Kunde seien, son-
dern die Schiffahrt, so sei in dev Theologie nicht Gott schlechthin
der Gegenstand, sondern das fptfc meritormn des Glaubens. Je
mehr nun das Willküvliche in dem Willen und Offenbaren Gottes
hervorgehoben und dem entsprechend die blinde Hingebung des
Glaubens als das eigentliche Verdienst gerühmt wurde, um so mehr
musste einleuchten, dass die Theologie bei dieser durchaus sid>-
jectiven, praklischen Natur mit den anderen Wissenschaften in gar
keinen Vergleich kommen könne.
Der eine Grundsaitr hob und stütste den andern; der zweite,
der an sich gar nicht ohne Wahrheit ist, ward durch den ersten
geMrIieh und* verderbenbringend gemacM; indem der »ste die
Wahrheit der natürKcheji Brkenntaiss vernichtete, sie zum Knedil
<ter sinnlichen Anschaoung machte, machte der zweite den Witten
xnofi blinden Werkzeug einer willkürlichen, durch nidits in des
Welt als durch «He Fakticität beglaubigten Macht oder dessen, der
für gut fand, sieh an ihre Stelle zu setzen, der Kirche, des Papstes
u. s.. w.
An dieiseH Grundsützen erstarb die scholasische Theologie,
sie, die. durch ihre ersten grossen Entwürfe einer scheneren Be^
stimurnng entgegen zu gehen schien; leider sind sie aueh dem
Piotestantismus nicht fremd geblieben; auf jeder Seile in den
Schrifen der Reformatoren hallen sie wieder und die aU-prq^-
stantischen Dogmatikev scheinen in dem Wahn gestanden zu habe»,
dass diese Grundsätze das grösste Erbe ihrer unsterblichen Lefeer
gewesen.
Wenn jene Grundlsätze eine Zeit erfand, die anek macht den
geriagslen geschichtlichen Suin hatte, bo sehr, dass. seit deaü 14.
zwei verdevhlbcbe theologUchc Grundsatae, von AI Schmidt. ' tA9
Jahrhundert nicht einmal die Zeitgeschichte einen irgend ertrfigw
liehen Berichterstatter fand; wenn jene Zeit bei ihren blöden Augea
für die historische Entwickelung des christlichen Glaubensinbalts,.
für die geschichtlich nachweisbare Verschmelzung der ew^en
christlichen Wahrheit mit den zu jeder Zeit eigenthümlich gegebe«
nen Bedingungen und Forderungen, als ein Ganzes von übersinn«
lieben Wahrheiten, als ein willkürlieli geschenktes, gnadenreiches
V^mächtniss des göttlichen Willens, das kirchliche Lehrsyi^em,
worin doch so viel weltliches Wissen, so viel Sinnliches mit ein*
gemischt war, der natürlichen Erkenntniss entgegensetzte: so lässt
sich das dem kritiklosen Charakter jener Zeit zu Gute halten. Wenn
aber beute noch diese Grundsätze geltend gemacht und auch wohl
au diesem Zwecke die Reformatoren herbeigezogen werden: so
ist das mehr als Unverstand, es ist ein absicbttiohes, aber wt
allen Punkten sich selbst vernichtendes Widerstreben gegen die
wahre Erkenntniss, die durch alle Schichten der menschlichen Ge-
sellschaft unaufhaltsam vordringt.
Sollte das Christenthum, das überdl auf die Auflösung der
Gegensätze, auf Hersteilung der Einheit und Ganzheit geht, das
mit nie nachlassender Energie sein Prinzip, die Durchdringung des
Endlichen vom Unendlichen, durch alle Seiten des menschlichen Da-«<
Seins durchführt, sollte das Christenthum diese Gegensätze stehen
lassen, die seiner innersten Natur widerspredien, die willkürlich
gleich wesentliche und gleich würdige Bethätigungen des von Gott
durchdrungenen menschlichen Geistes gegen einander absperren
und der Fortbildung des Menschengeschledites zur gleichmässigen
Erfüllung all seiner Au^aben hemmend entgegentreten?
Die geschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Yer«*
fall des Mittelalters, hat jene Gegensätze in ihrer Unwahrheit auf-*
gezeigt: aber die Theologie hat sie^ bald mehr, bald weniger be-*
virusst, aufrecht au erhalten gesucht; darum hat sie aber auch
ihre bedeutsame Stellung verloren, bis es heute dahin gekommen
ist, dass^ selbst ihre Berechtigung zur Existenz in Frage gestellt
wird« Es sei in wenigen Zögen angedeutet^ wie die Wirklichkeit
die Macht jener Gegensätze gebrochen hat. Die sittlichen Leben^^
kreise, in denen die Freiheit sich Realität, gibt, die Ehe, die Fa-»
milie, der Staat, die Nationalitäten, die Völkerbünde, alles, was:
als weltliches, als indisches Treiben vom MitteMter in Gegensatz
\i^ Die philosophische Gesellschaft zn Berlin:
gestellt wurde gegen das Heilige, Göttliche, Himmlische, sind in
ihrer göttlichen Nothwendigkeit, in ihrem geheiligten Ursprung,
in ihrer wahren Bedeutung, nämlich die AusRihrung' und Ver-
wirklichung des religiös -sittlichen Geistes zu sein, erkannt wor-
den; befreit aus der niederhaltenden Spannung des Gegensatzes
haben sie einen freien, nie geahnten Aufschwung genommen;
ihres göttlichen Ursprungs, ihrer heiligen Bestimmung inne ge-
worden, haben sie zur Beglückung der Menschheit, zur Ausführung
ihres von der Religion aufgegebenen Berufes Kräfte entwickelt
und Thaten vollbracht, zu denen sie unter dem Druck des Gegen-
satzes sich nimmer erhoben hätten. Keine Macht wird ihnen diess
' Joch wieder auflegen können. Denn ihre Aufgabe ist eine unend-
liche, durch keinen Gegeifsatz begrenzte; die Religion, das aus
Gott geborne Leben, ist nicht ihr Gegensatz, sondern ihre treibende
Substanz.
Die Pflege der materiellen Interessen, vom Mittelalter weit
hinter den geistigen, vornämlich den religiösen Angelegenheiten
zurückgesetzt, als eine entwürdigende, unfreie Beschäftigung an-
gesehen, hat sich ihr Recht, ihre Anerkennung erkämpft; als noth-
wendige Gr^undlage aller geistigen Ausbildung des Individuums wie
der Völker hat sie die ihre gebührende Ehre erlangt; die Arbeit,
in der allein der Mensch seiner Freiheit Dasein erringt, seine An-
lagen zur Erfüllung bringt und das Natürliche für die Zwecke der
Bildung und Sittlichkeit gewinnt, die Arbeit, in der allein das
Verlangen der christlichen Religion nach Bewältigung der Materie
durch den Geist real vollzogen wird, die Arbeit, die allein in sich
die Kraft hat, über alle Sklaverei und Hörigkeit zum vollen Besitz
der persönlichen Freiheit hinauszufiihren: sie hat in ihrem Triumph,
dessen Trophäen wir heute über die ganze civilisirte Welt aus-
gebreitet sehen und der sie zu immer siegreicheren Fortschritten
begeistert, den unnatürlichen Gegensatz des Mittelalters und alle
seine Folgerungen in der menschlichen Geseltschaftsordnung ge-
stürzt; sie hat das Feuer vom Himmel tief in der Erde Schachten
getragen, dem Gedanken den Weg gebahnt durch den härtesten
Widerstand der spröden Materie, und in der allseitigen, ange-
strengten Bewältigung der Natur, in der einsichtigsten Ausbeutung
ihrer Kräfte und Anlagen die Einzelnen wie die Gesellschaft zur
Freiheit erzogen und zur Würdigkeit , sie zu geniessen. Man erkennt,
zwei verderbliche theologische Grit ndsiitze, von AI. Schmidt. 145 >
dass auch in diesen Erfolgen das Christenthum wirksam ist, dass
seine Verkündigung vom absoluten Werth des Menschen erst da-
durch eine Wahrheit wird, dass die Mittel, durch welche der Mensch
erhöht, seine Freiheit gewährleistet wird, hochgehalten und statt
im Gegensalz, wie in den Zeiten des Mittelalters, vielmehr in
innigster Gemeinschaft mit der Religion erhalten worden.
In Wechselwirkung mit der Ausbildung der sittlichen Lebens-
kreise, mit dem Fortschritt der materiellen Interessen haben die
Wissenschaften, welche das Mittelalter weltliche nannte, einen un-
berechenbaren Aufschwung genommen; die Menschheit bedurfte
ihrer zur vernünftigen und zweckmässigen Gestaltung ihrer Lebens-
ordnung und Thätigkeit, und wie das Bedürfniss einmal erwacht
war, so wurde das Studium der classischen Literatur, die Geschichte,
die Rechts- und Slaatswissenschaften, die Erziehungslehre, die
exacten Wissenschaften, die Philosophie u. s. w. eifrig angebaut,
und die fortschreitende Bildung, Humanität, Naturüberwindung er-
leichterten dieses Streben und schafften die Mittel in immer grösserer
Fülle herbei. Leben und Wissenschaft hoben und trugen einander
gegenseitig, und die Kunst verschönerte beide. Das war ein neuer,
Sieg des Christenthums über die Gegensätze des Mittelalters. Denn
sein tiefstes Bestreben ist, dass in jedem besonderen Kreis des
Lebens und der Thätigkeit das Vollkommenste erreicht, jeder. be-
sondere Kreis nach seiner Gesetzmässigkeit erfüllt und der Ver-
nunft gemäss gestaltet werde; dann ordnen sie sich von selbst zu
einem harmonischen System, in welchem die christlichen Grund-
sätze den Mittelpunkt bilden. Was irgend eine Seite des Mensch-
lichen zur Vollendung bringt, das ist auch wahrhaft göttlich. So
stellen sich die weltlichen Wissenschaften als die in innigster Be-
ziehung stehenden Glieder der Einen göttlichen Wissenschaft dar,
in denen diese ihren ausgeführten Bau, ihre Verwirklichung hat.
Es gibt keine Wissenschaft vom Endlichen, es gibt keine Erkennt-
niss, als mittelst der an und für sich seienden Prinzipien, als im Lichte
Gottes; die Wissenschaft ist nichts Anderes, als die fiir den theo-
retischen Geist sich vollziehende Vermittlung des Endlichen mit
dem Unendlichen. Darum sind alle Wissenschaften in der Philo-
sophie Eine , und fasst man das Wissen von seiner ethischen Seite,
als eine Ausfiihrung der menschlichen Freiheit, als die Vollziehung
der göttlichen Befreiung und Erlösung des Menschengeschlechtes,
Jibrb. für speculai. Philo«. I. 2. tt\
^46 ^'^ philosopiiische (le^tellschaft zu Berlin:
SO sind alle Wissenschaften in der Theologie Eine; beid^ mnd
Ausdrucke für dasselbe, nur dort nadi theoretischer, hier nach
praktischer Seite ausgedrückt; sie besagen nur, dass aller welt^
liehen Wissenschaft das Siegel des ewigen Geistes aufgedrüdit ist,
dass sie nur in dem Bewusstsein des Menschen von Gott ihren
Ursprung und ihre Vollendung hat. Von hier aus lässt sich über-
sehen, warum die Philosophie der neueren Zeit das von Gott
durchdrungene Selbstbewusstsein zur Grundlage aller Wissenschaft,
und die Frage nach der Realität der Ideen zur Grundfrage gemacht
hat,^ die sie nicht anders als bejahend beantworten konnte. Das
Wissen von den göttlichen Dingen ist untrennbar mit dem Wissen
von den menschlichen' und den natürlichen Dingen verbunden und
umgekehrt; eines wird durch das andere reicher und bestimmter,
und kein Widerspruch kann zwischen ihnen bestehen.
So gross ist also der Umschwung, der in der menschlichen
Bildung seit dem Verfall des Mittelalters vor sich gegangen ist;
wer wollte leugnen, dass seine Folgen auch tief in die Theologie
eingedrungen sind und fortschreitend die Gegensätze untergraben,
auf welche die Theologie ihre mittelalterige Stellung basirte, die
ihr aber heute den ganzen Einfluss auf das Leben und die Volks-
bildung zu rauben drohen und ihren Untergang herbeifuhren könnten.
Es ist offenbar, dass die Theologie jene Gegensätze des Mittel-
alters nicht gegen die^ riesige Kraft, welche heute das Christen-
thum in vollendeteren Bildungs- und Lebenszuständen entwickelt^
aufrecht erhalten kann; aber schwankend und zagend zieht sie sich
von ihrer Behauptung zurück uud bangt vor der entschiedenen
Umgestaltung ihres Systems und ihres Zusammenhangs mit dem
Leben und der Wissenschaft; sie klagt die Zeit und die entfesselten
Bewegungen der Zeit an, aber es ist ihre Schuld, dass sie vom
Ruder verdrängt ist, und dass sie allen leitenden Einfluss verloren
hat. Grosses und Heilsames könnte sie wirken, wenn sie ihre
rechte Stelle fände. Es handelt sich nicht darum, mit der Ver-
gangenheit zu brechen und ihre Errungenschaft zu verleugnen,
wohl aber um Fortbildung und Erweckung des Todten zu neuem
Leben.
Es genüge diessmal, dass die Grundsätze bezeichnel worden
sind, die, eine Tradition des Mittelalters, durch ihr Bleigewicht
den Flug der Theologie nach höheren Zielen gehemmt haben, und
zwei verderbliche theologische Grundsalze, von AI. Schmidt. 147
dass die Ueberwindung dieser Grundsätze in der Entwickelnng des
neuen christlichen Weltalters als nothwendige Aufgabe erkannt
worden ist; bei anderer Gelegenheit soll gezeigt werden, welche
Geltung sie noch in den verschiedenen Richtungen unserer heutigen
Theologie behauptet haben, und endlich, welche Organisation sich
die Theologie geben müsse, um wieder an die Spitze des fort-
schreitenden christlichen Bewusstseins und in lebendigen Zusammen-»
hang mit alF seinen Werken zu treten.
Alexld Schmidt.
10*
VIII.
lieber das gSttliclte Sellistbeiriisfi^toein*
Ein Brief an den Herausgeber.*)
Die Harmonie der Religion und des philosophischen Erkennens
schien mir ganz einfach aus der Einheit des Geistes zu folgen,
als ich vor sieben Jahren in dem beginnenden Kampf ein Friedens-
wort zu reden suchte. Die Rechte der Individualität neben der
Macht des Allgemeinen geltend zu machen, die christliche Welt-
anschauung als eine sich fortentv^ickelnde aufzufassen und darzu-
stellen, diess war die Aufgabe meiner Religionsphilosophie, welche
in beider Beziehung die HegeFsche ergänzen sollte. Indem ich
gegen die Bestimmung, dass die Religion vorstellendes, die Philo-
sophie begriffliches Erkennen sei, von vorn herein protestirte,
warnte ich vor der Verwechslung des Christenthums mit irgend
einer Dogmatik, der Religion mit der Theologie; denn jene sei
gottinniges Leben, und nicht der sei der Religiöse ,. welcher sich
allerhand Vorstellungen vom Ewigen mache, oder die Lehren An-
derer gelernt habe, sondern derjenige, welcher Gott vor Augen
und im Herzen habe. Aber indem der Straussischen Dogmatik
solch' eine Verwechslung zum Grunde lag, meinten die Bewegungs-
lustigen, welche den Befreiungsgang der Negation noch nicht durch-
gemacht hatten, es sei mit den Sätzen eines orthodoxen, ratio-
nalistischen LehrbegrifTs das Christenthum selber abgethan, und gingen
dazu fort, die Irreligiosität und den Atheismus für die oberste
Bedingung eines menschlichen Lebens zu erklären: das Selbstbe-
wusstsein, das sich von selbst geschaffnen Götzen abhängig gefühlt,
sollte sich wiedergewinnen und allein das Unendliche sein. Bei
'*') Die Antwort des Herausgebers folgt im nächsten Heft.
lieber das göttliche Selbstbcwusstsein , von M. Carrierc. |49
diesen fortwäbrenden Missverständnissen war mir Ihr Buch über
Mythologie und Offenbarung höchst willkommen. Siefassten
wieder die Religion in ihrer Wahrheit als das besste Gut und den
Lebensbaum der Völker, der die übrigen Seiten des geistigen Da-
seins als seine Zweige her vortreibt; Ihnen war der Mensch in die
göttliche Gemeinschaft eingeschaffen und die Religion darum der
Mutterschooss, in und von welchem wir geboren, genährt und ge-
pflegt werden. Auf diesem Standpunkt erscheint die Vernunft als
das sich selbst vernehmende Gemüth, die Philosophie als das Be-
greifen dessen, was der Religion in lebendigem Gefühle gegen-
wärtig ist. Wird Gott als das allgemeine Wesen und somit auch
als das unsrige aufgefasst, so sind wir in der Abhängigkeit von ihm
bei uns selbst, die Religion ist mehr, als das Gefühl der Abhängig-
keit, sie ist auch das der Freiheit, der selbstkräftigen Erhebung
des Geistes in das Ewige; jemehr er dessen in der Erkenntniss
inne wird, desto voller und energischer lebt es in seiner Gesinnung,
in seinen Thaten. Johannes setzt das ewige Leben in die Gottes-
erkenntniss; eine flache Auslegung meint, diess wolle nur sagen, dass
sie zu jenem hinführe, als ob der Weg nach Worms die Stadt
Worms wäre; aber die wahre Gotteserkenntniss weiss Gott als den
Geist, in dem wir leben, weben und sind; da haben wir die ewige
Liebe, die uns hält und trägt und Alles zum Besten leitet, da ist
keine Nacht der Ferne mehr mit ihren Abgründen und Schmerzen,
sondern das selige Bewusstsein der Einheit.
Wir müssen Strauss Recht geben, in so fem er auf
die Untrennbarkeit von Form und Inhalt dringt und desshalb
die Religion für das Mangelhafte und Ueberwundene erklärt, wenn
sie die Wahrheit in der Form der Vorstellung sein soll, diese aber
dem sich selbst begründenden Wissen des Begriffes untergeordnet
wird; allein ich glaube, Sie werden mit mir sagen, dass diese
ganze Fassung eine irrige ist; und wenn wir sie dabei als eine
Consequenz der Hegel'schen Lehre anerkennen, so wird uns der
ganze Standpunkt verdächtig werden. Hier gilt nur das Allgemeine
oder der Begriff für das wahre Sein, die logischen Kategorien für
das Wirkliche; und doch gibt es in der Natur nirgends ein Gesetz
ohne Erscheinung, doch ist das Allgemeine nur in der Besonde-
rung da; hier soll uns Hören und Sehen vergangen sein, wenn es
sich um den Begriff oder das reine Denken handelt, und doch hat
■|j^Q Ueber das göUliche Selbslbe^viustseiii ,
der Mensch ebenso gut Augen und Ohren »1$ Verstand , und so
möchte doch woU das menschliche Erkennen ein anschauendes
Denken sein, und der alte Kant ein wahres Wort gesprochen haben:
^Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Be-
griffe sind blind.^ Jene Idee in ihrer Allgemeinheit hat nirgends
ein Fürsichsein, und wenn die Natur, als die Besonderung des
Lebens, für die Entäusserung oder den Abfall von derselben er-
klärt wird, so sagen wir mit Aristoteles, das sei koyiy,Qjg xat
9e£vai<; geredet. Ich behalte mir es vor, ein andermal auf die
logische Frage zurückzukommen und das Ungenügende der Hegel'-
sehen Dialektik nachzuweisen, in deren Flusse eigentlich Alles
immer schon untergegangen ist, ehe es aufgeht^ allein ich musste
hier den Scheidepunkt bezeichnen , welcher möglicher Weise auch
uns Beide trennt, indem ich Sie um erläuternde Auskunft über den
Grundbegriff bitten möchte, um den sieh jetzt schon die
philosophische Debatte dreht, ich. meine das göttliche
Selbstbewusstsein.
Sie nennen Gott die reine, iUier alle Dualität des Bewusstseins
erhabene Freiheit. Ich kann mir Freiheit ohne Bewusstsein
nicht denken, sie ist mir das Wesen des Geistes, seine Selbst-
bestimmung, aber dazu gehört doch nothwendig, d^ss er weiss,
v^as er will, und will, was er weiss. Wollen wir mit Spinoza das-
jenige frei nennen, was nach der Nothwendigkeit seiner Natur
wirkt, so ist auch die Erzeugung des Wassers eine freie That des
Wasserstoffis und Sauerstoffs; das ist es aber gerade, wodurdi die
Freiheit sich über die Natumothwendigkeit erhebt, dass sie die
selbstbewusste, von uns gewollte Vollführung derselben ist. Sie
sagen: ^In seinem reinen Wesen, in seiner reinen Innerlichkeit
ist Gott für die Erkenntniss unerreichbar; denn dieses selbst ist,
obgleich Gott von seiner Offenbarung in der Welt nicht zu trennen
ist, doch von dieser Offenbarung unterschieden und in sich selbst
ein reines, einfaches, eigenschaftsloses, keinem Werden
und Wechsel, keiner Veränderung und Entwickelung unterworfnes,
in sich vollendetes Sein, das unbedingte, vor und in und über
allem Bewusstsein in ewiger Sichselbstgleichheit und reiner Freiheit
verharrende Wesen, welches als eins und dasselbe in Allem offen-
bar, der durch Alles hindurchschreitende, gleichwohl aber vom
Zusammenhange der Weltentwickelung und des Bewusstseins un-
von M. Carriere. |5j[
ergriffae und über AUem zugleich unendlich erhabne Urgrund alles
Daseienden ist. In ihm und an ihm selbst können wir nichts er-
kennen, da wii* nicht er selbst sind, sondern er sich nur in uns
offenbart.^ Ein Gott, der sich offenbart und doch in sich
verschlossen bleibt, ist mir ein Räthsel. Das Daseiende
ist das Mannigfaltige, Unterschiedene; ein Gott, der dessen Ur-
grund sein soll, muss es doch begründen , muss also die Beziehung
zu demselben in sich tragen, muss also in sich selber mannigfaltig
bestimmt sein; ein Gott, der der Urgrund des Lebens sein soll,
ist nicht das in ewiger Selbstgleichheit verharrende reine Wesen»
sondern ist Thätigkeit, ein ewiges Wirken, das etwas oder viel-
mehr alle Dinge wirkt und darum in sich selbst sich für sie be-
sondert. Sie machen Gott zum reinen Eins und Sein der Elaten:
aber das ist das Bestimmungslose, und würde das Nichts Sein,
wenn das Nichts sein könnte und ein seiendes Nichtsein nicht eine
Unmöglichkeit wäre. Sie müssten nicht bloss im idealen, sondern
im realen Untergang der Welt die Offenbarung des göttlichen My-
steriums finden.
Woher kommt das Bewusstsein, wenn ein bewusstloser Ur-
grund angenommen wird , und wie kann aus dem wandellosen Einen
das bewegliche Viele herausgehen? Ich weiss auf diese Fragen
keine Antwort, aber ich lese weiter in Ihrem Buche und finde
folgende Stelle: „Ich glaube an Gott, welcher in der Welt und
Menschheit ewig offenbar und allgegenwärtig lebt und webt und
zugleich über dieselbe in reiner Freiheit, ewig sich sdber gleich,
erhaben ist, und in welchem die Welt und Menschheit allein Da-
sein und Wirklichkeit haben.^ Ich mache diess Glaubensbekennt-
niss auch zu dem meinigen, wenn Sie mir erlauben, dass ich einen
Buchstaben andre und für „reiner Freiheit^ seiner Freiheit schreibe.
Denn jener reine Wille, der nichts will^ ist mir ein Schemen der
Einbildung; Freiheit ist Selbstbestimmung, damit durch und durch
Bestimmtheit. Ich lese weiter: „Und so ist denn erst der seiner
selbst, als freier und unendlich über die Welt hinausragender
Macht, bewusste Weltgeis*, welcher als das Wesen und Selbst
in Allem sich weiss, der absolute Geist." Vollkommen einverstan-
den; nur erinnere ich mich, dass Sie einige Seiten vorher gesagt
haben, „Gott sei allein im Selbstbewusstscin des Manschen
Einheit, Persönlichkeit und Liebe." Also ist er Ihnen doch wieder
^53 Veber das göttliche Selbstbe wusstsein ,
nicht über das Endliche übergreifend bei sich selbst, nicht an sieh
Einheit und Liebe, sondern erst, wenn der Mensch ihn so denkt.
Dann denkt ihn aber der Mensch nicht, wie er ist, sondern macht
ihn zu etwas Anderem; dann muss Gott auf den Menschen, d. h.
hier auf den Philosophen warten, um zu sich selbst zu kommen.
Sie werden einwenden: der Mensch lebt in Gott, ist nur eine Be-
stimmung des göttlichen Lebens, nur das Mittel, wodurch dieses
selbstbewusst wird, des Menschen Wissen ist Gottes Wissen. Al-
lein wenn ich Ihnen diess zugebe, dann erhebt sich eine neue
Schwierigkeit: dieses menschliche Wissen ist fünf- oder sechs-
tausend Jahre alt, wie war es denn früher, war denn Gott da „das
Blind, ^ dem später einmal die Augen aufgingen?
Die VenvirruBg der Sprache ist stets auch die des Begriffs.
Man hat sich leider gewöhnt, Allgemeinheiten wie selbstbewusste,
für sich seiende Wesen zu behandeln, um das wahrhaft Eine und
Allgemeine, Gott, zu einer bewusstlosen Substanz zu machen.
Da war es 'nur ein Schritt, dass Feuerbach alle Allgemeinbegriffe
für Produkte des Denkens und damit den Menschen iiir den Schö-
pfer solch eines Gottes erklärte. Man redet von Zwecken in der
Natur: aber gibt e$ eine Zusammenstimmung des Unterschiednen
ohne immanente schöpferische Einheit? Ist nicht, sich
einen Zweck zu setzen und ihn zu verwirklichen, gerade das
Kennzeichen der selbstbewussten Geistigkeit? Man spricht davon,
wie diess und jenes so weise eingerichtet, so gut berechnet sei:
gibt es denn aber eine Weisheit ohne Wissen, eine Einrichtung
ohne Ordner, eine Berechnung ohne vorhergehende berechnende
Thätigkeit, und kann ein Bewusstloses rechnen? Oder hat etwa
das „unendliche Selbstbewusstsein des Menschen,^ von dem so viel
gefabelt wird, den Organismus des Leibes so kunstvoll gebildet?
Schade, dass es dann so vergesslich war und nun mit grosser
Mühe ihn erst muss wieder kennen lernen!
Seien wir aufrichtig und consequenti Entweder sagen wir
mit den Materialisten, dass unsere Gedanken Secretionen des Ge-
hirns seien, das sie auscheide, wie die Leber Galle, dass Gott nur
eine leere Meinung und die Welt das Resultat blind waltender ato-
mistischer Kräfte sei, oder wenn wir von Versland und Weisheit
in der Natur sprechen und im beständigen Rückgang von einem
Bedingten zum Anderen ein sich selbst bedingendes Unbedingtes
von M. Carriere. |53
fordern, dann wollen wir auch das Gesetz der Gausalität nicht wie-
der aufheben und aus dem Tode das Leben, aus dem Unbewussten
das Bewusste hervorgehen lassen. Wenn uns die Harmonie der
Dinge eine innen waltende Einheit lehrt, ohne die sie eben so un*
möglich wfire, als es undenkbar ist^ dassein Götbe'sches Lied durch
blosses Untereinanderwerfen der Lettern im Setzerkasten hervor-
gebracht werde: so halten wir auch an dieser Einheit als solcher.
Wenn wir von endlichen Dingen erst reden können , weil der Ge-
danke des Unendlichen als der positive und erste Begriff in unsrer
Seele liegt, so lösen wir nun das Unendliche nicht auf in die
endlose Summe der Endlichkeiten, sondern fassen wir es als das
in sich Vollendete, als die im Unterschied sich selbstbestimmende
Einheit, die in dem Vielen sich ebenso entfaltet, als bei sich selbst
bleibt. Das heisst: suchen wir Gott als absoluten Geist zu
begreifen.
Weil die Deisten eine Persönlichkeit Gottes neben die Welt
jsetzten, dadurch ihn zu einem Begrenzten und Endlichen machten,
so meinten Spinoza und Fichte vor Allem an der Unendlichkeit
festhalten zu müssen; und sprachen ihm lieber das individuelle
Bewus$tsein ab, als welches nur den Modificationen der Substanz
oder den Bestimmungen des absoluten Ich zukomme. Allein wenn
das Christenthum sagt: „Ein Leib und Ein Geist, Ein Gott und
Vater Aller, der in Allem und über Allem und durch Alles, wer
in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm:'^ — ist
denn hier die Rede von einem ausserweltlichen Gott, oder nicht
vielmehr der Eine Unendliche gelehrt, dessen Selbstbestimmungen
die Dinge sind, welche in ihm leben? Ein Leib: Gott hat die
Basis seiner Realität im Universum, das AU ist der Organismus
des Aeusseren, als dessen Inneres er der Geist genannt wird;
Ein Geist: die. einzelnen Geister sind die Gedanken des Einen,
der in beständiger Thätigkeit in ihnen sein Wesen offenbart. So
lebt der Mensch in seinen Vorstellungen und Strebungen, erdenkt
erst, insofern er bestimmte Gedanken hat; aber diese gehen nicht
mit ihm durch, er ist nicht in sie aufgelöst, sondern er ist durch
sie, in ihnen und, über sie als besondere übergreifend, seiner selbst
bewusst und Ich. Mein Selbstbewusstsein ist zugleich das Wissen
meiner Kenntnisse und Ideen; so ist auch das göttliche Selbstbe-
wusstsein Eins mit seiner Allwissenheit; indem er sich erkennt,
154 Ueber das göttliche Selbstbewuasliein , von M. Carriere.
erkennt er das AU, das seine Offenbarung ist, sein Denken ist
sein Schaffen, die Belhätigung seines Wesens. Das Chri-
stenthum lehrt einen Gott, der Snbject ist, und die Philo-
sophie kommt erst dadurch mit denselben in Einklang, dass sie diese
Anschauung oder geoffi^barte Wahrheit aiur Vemunftwahrheit erhebt.
Sie haben in der Bewältigung des mythologische Materials
und in der Art und Weise, wie Sie die Forschungen Yon
Stuhr und Müller sich aneignen, so viel Talent, und in
der Schilderung, die sie Tom Auftreten des Christenthmns
und namenüidi von der Persönlichkeit des Heilandes entwerfen,
so viel Unbefangenheit und verständnissinnige Liebe, und im gan-
zen Werk so tüchtigen sittlichen Sinn gezeigt, dass ich mich ver-
anlasst fühlte, den schwierigsten und tiefsten Punkt der EriEennt-
niss hier andeutend zur Sprache zu bringen, äss grosse Problem
freilich mehr für Ihr Nachdenken signalisirend als lösend, wofür
der Umfang eines Schreibens das nöthige Mass versagt. Nachdem
der erwähnte Begriff von Gott als unendlichem Snbject
mir aufgegangen, führten mich meine Studien zur philosophisdien
Weltanschauung der Reformationszeit; da fand ich, dass er die be-
wegende Seele jener Entwickelung sei, dass er bei Nikolaus von
Cusa und Ficin, wie bei Tauler, Paracelsus und Kepler her-
vorbricht, dass Jordan Bruno ihn in phantasievollem Schwünge
nnd Jacob Böhm in mystischem Tiefsinne klarbewusst darstellen.
Spinoza, Leibnitz und die neue Philosophie haben sich in die Ele-
mente geschieden, welche bei diesen beiden Männern einander
innig durchdringen. Ich hoffe, Ihnen also eine an der Hand der
Geschichte unternommene Durchführung dieser meiner Gottesidee
recht bald vorzulegen, und wenn Sie dieselbe gdesen haben, dann
antv^orten Sie mir so fireimüthig und wohlwcrflend, als ich Ihnen
diese Zeilen geschrieben habe.
Giessen, im Juni 1846.
M« Carriere.
IX.
. Gedächtnissrede*)
auf
Pblllpp JfEarlielnelLe^
ehemaligen Präsidenten der philosopbischen Gesellschaft zu Berlin, vorgetragen
ift der Sitzung vom 8. Juli 184&,
non
Unter den vielen wissenschaftlichen und Lebenskreisen, die
den Hintritt Marheineke's beklagen, kann auch der unsrige nicht
zurückbleiben, seinen tiefen Schmerz über den Verlust des grossen
Dahingeschiedenen auszudrücken. Sind jemals wissenschaftliche Be-
strebungen, denen er sich mit seiner geistigen Energie, mit seiner
Beharrlichkeit, mit seiner Charakterfestigkeit anschioss, ohne die
fruchtbarsten, dauernden Anregungen von seiner Seite geblieben?
So hat er auch den Plan zur Gründung unserer Gesellschaft, als
einer Vereinigung philosophischer Freunde zur Fortbildung der
Vi^issenschaft auf den gegebenen geschichtlichen Grundlagen,. gleich
Anfangs mit grossem Eifer ergriffen, und hat als Vorsitzender, so
*} Indem die philosophische Gesellschaft zu Berlin den Druck der hier
folgenden, von ihr mit tiefster Bewegung aufgenommenen Rede he-
schloss, gab sie zugleich die Erklärung all, dass sie aus voller Uebef«
Zeugung dem gesammten Inhalte der Rede beistimme, und sie für den
wahren Ausdruck ihrer Gesinnung angesehen wissen wolle. Auch trug
sie der Redaktionscommission auf, diese ihre Erklärung bei dem Druck
der Rede zu veröffentlichen; welches Auftrages sich letztere hieimit ent-
ledigt
^gg Die philosophische GesellschRft zu Berlin:
lange bis zunehmende Körperleiden es verwehrten, den lebendig-
sten Antheil an unseren Untersuchungen genommen. Unsere Hoff-
nung, den von Krankheit Genesenen bald wieder unter uns zu
sehen, ist leider nicht erfüllt worden; seinem reichen Leben ward
plötzlich ein Ziel gesetzt; aber sein Geist, so mächtig ergreifend
und zukunftreich, wird femer unter uns bleiben, die Erinnerung
an seine Person, seine Schöpfungen, seine Gedankenfülle wird
unsere Bestrebungen leiten, uns zur ferneren Arbeit ermuthigen,
wird uns begeistern, die von ihm betretene Bahn weiter zu ver-
folgen.
So viele Gebiete des Wissens auch Marheineke mit tief forschen-
dem Geiste umspannte, so dass namentlich von der Theologie kein
Zweig ohne geistvolle Belebung durch ihn geblieben ist, so fasst
sich doch sein unermüdliches Forschen und Streben in einige grosse
Grundgedanken zusammen, die ihm stets vor der Seele standen,
die seiner kirchlichen und wissenschaftlichen Thätigkeit die rechte
geistige Weihe gaben, und die vom Anfang seiner Wirksamkeit
bis an ihr Ende die leuchtenden Sterne waren, denen sein Geist
sich unaufhörlich zuwendete. Diese Grundgedanken, die seinem
wissenschaftlichen und kirchlichen Wirken eine nachhaltige, blei-
bende Bedeutuug, eine entscheidende Macht in der ferneren Ent-
wickelung der Wissenschaft und Kirche sichern, diese Gedanken,
die als ein wichtiges Vermächtniss auch in unserem Kreise sich
fortpflanzen und reiche Früchte tragen mögen, wollen wir in
wenigen Zügen, womöglich im Ausdruck des Unvergesslichen, nach-
zeichnen, um uns und Andere an diesem lebendigen Bilde seiner
Persönlichkeit und des Geistes, der ihn bewegte, zur würdigen
Nachfolge zu stärken.
In der ganzen Reihe christlicher Theologen aller Jahrhunderte
hat es wenige Männer gegeben, die so fest und mit so tiefem Be-
wusstsein wie der Dahingegangene in der Kirche wurzelten,
all ihr Denken undThun auf sie bezogen; dieses innige Leben mit
der Kirche, mit ihrem göttlichen Ursprung, ihrer Geschichte, ihrer
Gegenwart war bei ihm keine leere Rede, es war That und Wirk-
lichkeit. Und wären ihm in seiner Hingebung an die Kirche noch
Viele vergleichbar, so erreichen ihn doch Wenige in der freien,
von keiner Befangenheit und Beschränktheit getrübten Auf-
fassung des Kirchlichen, das er nicht in engen gepresslen Zustän-
Gedächtnissrede auf Marheineke, \on AI. Schmidt. 157
dea, sondern in seinem unendlichen Walten, in seiner Allwirksam-
keit, auch noch in den Gestalten des geistigen -Lebens erblickte,
wo ein besckränkter Massstab in thörichter Yermessenheit die
Grenze für das Walten des göttlichen Geistes setzt. Solch' voll-
ständiges Aufgehen des Geistes in das Leben, in die Werke und
die Gedanken der Kirche und solch' ein offener, freier, der unbe-
schränkten Wirksamkeit des göttlichen Geistes vertrauender Sinn
ist selten in einem Theologen vereinigt gewesen.
Und zumal in der Periode der protestantischen Kirche, wel-
cher seine Wirksamkeit angehörte, ist dieser Charakter eines
kirchlichen Mannes einzig in seiner Art, und darum viel unbe-
griffen und angefochten gewesen. Es war eine Zeit, wo man all-
gemein den Glauben an die Erkennbarkeit der absoluten Wahrheil
aufgegeben hatte, wo man folgerecht die Bemühungen der Kirche
aller Zeiten um die gedankenvolle Durchdringung des Glaubens-
inhalts, ja noch mehr die Offenbarung der unendlichen Wahrheit
selbst und die Stiftung der Kirche auf einen empirischen, endlichen,
subjectiven Ursprung «zurückführte, wo die Dogmen der Kirche
zu blossen zufälligen Meinungen herabsanken, wo der Zusammen-
hang in der Geschichte der Kirche und ihres Dogma, den man
dereinst vom göttlichen Geiste gewirkt sich dachte, zerrissen ward,
und kein Band mehr die Gegenwart mit der Vergangenheit zu-
sammenhielt, um der Zukunft mit sicherem Bewusstsein entgegen
zu gehen. Es war eine Zeit, wo das historische Wissen, eine
träge Masse zufalliger Begebenheiten und Meinungen, dem dog-
matischen Wissen, zu dem man weder Muth, noch Vertrauen, noch
Kraft hatte, vorgezogen ward, wo das Subject, vom Inhalte der
Wahrheit verlassen, sein Gutdünken zum Massstab des Allgemein-
gültigen erhob, wo das kirchUche Glauben und Leben in lauter
Atome zerfiel (denn mit dem zeitlichen, geschichtlichen Zusammen-
hang löste sich auch der räumliche^, wo selbst ein Scjileiermacher
bei all' seinen grossen Verdiensten um den Wiederaufbau der Kirche
den ganzen Reichthum des Glaubens und Lebens der Gemeinde
nur auf die Aussagen des subjectiven Gefühls gründete, das sich
in letzter Instanz nicht zu rechtfertigen , den sachlichen Zusammen-
hang mit dem Ursprung und der Geschichte der Kirche, der Ver-
gangenheit und der Gegenwart nicht herzustellen, seine Selbstgewiss-
heit nicht zur volkn Sicherheit im göttlichen Geiste zu bringen.
4 jtQ Die philoflophische Gesellscbaft la Berlin:
seine UrlheOe über göttlich Dinge nicht zn götüichen, an und
fiir sich gültigen Urtheilen zu erheben wosste, das bei allem Ver-
langen und Drängen zu Gott hin ihn, den über allen Gegensätzen
Schwebenden, doch nicht fand, und das darum alle fördernde Bünd-
nisse mit der Philosophie sich versagte. Es war eine Zeit, wo
die Religion ihren Einfluss auf das Leben zum grossen Theil ver-
lor, denn nur wo sie ^er absoluten, über alle empirischen Zustände
übergreifenden Wahrheit sicher ist, kann sie schaffend, gestaltend,
zurechtweisend in alle Lebensverhältnisse eindringen; wird sie
selbst in*s ZuruUigeder Erfahrung und Meinung herabgezogen, wird
sie einzig auf das subjective Bewusstsein gestellt, wird der Grund
der Wahrheit, die Gemeinschaft des endlichen Geistes mit Gott^
zerbrochen, so ist sie dem Mechanismus der Zustände, dem Egois-
mus der Menschen, der Endlichkeit und Zeitlichkeit der Verhält-
nisse nicht mehr überlegen, sie wird selbst > in den Strom des Be-
dingten mit fortgerissen. Es war eine Zeit, wo die Wenigen,
die in der Errungenschaft der Kirche im Glauben und Leben ein
göttliches Vermächtniss an die Folgezeit verehrten, die heilige Tra-
dition nur dadurch rein zu halten wähnten, wenn sie das Recht
des Subjects, die Freiheit der Vernunft, die Ansprüche der Philo-
sophie zurückwiesen , wenn sie das Uebeiüeferte vor jeder Weiter^
bildung sorgsam hüteten und den himmlischen Schatz vor jeder
Berührung mit dem weltlichen Treiben sicherten, ans dem Reiche
des bewegten, vielgestaltigen Lebens in heilige Stille flüchteten.
Die Unbegreiflichkeit der Mysterien sollte gerade einZeugniss ihrer
Wahrheit und Wirksamkeit sein, denn der verderbte Wille und
die gefallene Vernunft durften sich ja mit dem göttlich -Ver-
nünftigen und dem göttlich -Gewollten nicht anders als im Wider-
spruch befinden.
So war die Zeit, der die Wirksamkeit Marheineke^s angehörte,
und wer unsere Gegenwart und das, was uns zunächst bevorsteht^
aufmerksam erwägt, wird darin mit uns übereinstimmen, dass die-
selben Richtungen zum Theil noch heute im bunten Treiben auf
dan kirchlichen Gebiete sich ergehen, dass einige von ihnen an
Schärfe und Entschiedenheit nur zugenommen haben, zum offenen
Gegensatz fortgeschritten sind und das einheitliche Geistesleben der
Kirche zu zersplitttern drohen. Wenn also der Dahingeschiedene
zu seiner Zeit Gedanken ausgesprochen hat, <tie dem kirchlichen
Gedächtnitsrede auf Marheineke, von AI. Schmidt. f 59
Leben wieder seinen Frieden, seine Versöhmmg zn geben fähig
sind, wenn seine ernstliche Arbeit för das Heil der Kirche, seine
Hingebung an ihren Geist ihn das Mittel finden liess, die weit aus-
einander flidienden Bestrebungen der Theologie wieder in einen
starken, kräftigen Mittelpunkt zu sammeln; so ist gewiss, dass sein
Wirken weit über den flüchtigen Zeitraum seines Lebens hinaus-
reich^, dass die Zukunft erst dlie Früchte seiner hochverdienten
Arbeit sammeln wird.
Im Angesicht also der vorhin in kurzen Zügen charakterisirten
theologischen Bestrebungen lassen Sie uns die Grundgedanken über-
schauen, welche Marheineke's theologische Denkweise von Anfang
})is zu Ende durchziehen. Sein ganzes Streben ging dahin, die
ewigen Giaubenswahrheiten , den Inhalt der Offenbarung, wie die
dogmatische Thätigkeit der Kirche ihn ins Denken erhoben und
allseitig bestimmt hatte, mit dem gegenwärtigen Bewusstsein zu
vermitteln, ihn dem denkenden Subject gewiss zu machen, mit
dem so zum Wissen erhobenen Glauben alle Seiten des geistigen
Lebens neu zu befruchten, und die Wissenschaft selbst, so wie
sie mit vollem tiefen Bewusstsein ihren Lebensgrund, den Glauben,
umfassen werde, zur klaren, in sich gewissen, dem Zweifel über-
legenen Gestaltung zu bringen. So sollte die Kirche der Wissen-
schaft, die Wissenschaft der Kirche gehören; die göttliche Offen-
barung sollte sich urkräftig im gegenwärtigen Geiste erneuern;
die kirchliche Gegenwart sollte mit der kirchlichen Vergangenheit
sich in dem allen Zeiten Angehörigen, dem göttlich geoffenbarten
Glaubensinhalt, verstehen, und im klaren, wissenschaftlich erschlos-
senen Bewusstsein über denselben vertrauensvoll einer Zukunft
entgegengehen, die des lebendigen Zusammenhangs mit Gott wie^
der inne geworden, und seiner Erkenntniss voll, in der Ueber-
zeugung von seiner AUwirlpsamkeit in allem menschlichen Thun und
Denken, über die Zerrissenheit, die Selbstsucht, das Misstrauen
der letzten Tage den Sieg behalten werde.
Glauben und Wissen, unmittelbarer Glaubensinhalt und Glau-
bensbestimmung (Dogma}, die Erforschung ihrer gegenseitigfen Be-
ziehung und Nothwendigkeit diess war der Punkt , von dem dieser sy-
stematische Denker überall ausging; wie die göttliche Offenbarung,
vom Glauben aufgenommen, selbst zum Wissen hintreibt, weil ihr
Ouell jajdas absolute Wissen ist, das war die erfolgreiche Beob-
^00 Dk philoiophiicbe GeMlhchalt tn Berlin:
achtangy welcher «r sorgsam in jeder geschichtliche!! Erscheinung
nachging. Lassen wir ihn selbst za uns reden, als wenn er noch
lebend in unsre Mitte träte.
,,Im Vergleich mit der biblischen Glaubenswahrheit unmittelbar,
sagt er,*) wird oft auf das Dogma ein geringerer Werth gelegt,
als habe man an ihm nur menschliche Bestimmungen, die den
christlichen Glauben nichts angeben, ja ihm mehr geschadet als
genützt haben. Selbst Dogmenhistoriker hegen diese Meinung,
indem sie ihrem Gegenstande gegenüber heimlich diese beständige
Ironie haben, gleichsam ein heiliges Mitleid empfinden mit den
specalativen Unternehmungen eines Athanasius, oder es auch ge-
rade heraussagen, dass nächst dem Papsthum nichts so sehr zum
Verderben des Christenthums beigetragen habe, als diese spitz-
findigen Glaubensbestimmungen, und, was das allerschlimmste, dieser
Einfluss der Philosophie. In diesem Falle aber weiss man gar nicht,
was Bestimmung des Glaubens heisst; man hält diese als von aussen
dem Glauben zugestossen, und so für etwas ihn in seinem Wesen
Zerrüttendes, weil man die Nothwendigkeit nicht erkennt oder
zugibt, womit der Glaube selbst sich bestimmt und das in ihm
enthaltene Denken frei ans sich hervorgehen lässt. Bestimmen
heisst Denken, und weil der Glaube, wie er der christliche ist,
nicht der gedankenlose ist, so kann er selbst das Denken nicht
lassen, und weil er als der göttlich geoffenbarte auch der mensch-
lich vernünftige ist, so kann er auch nicht unterlassen, dieses ihm
immanente Vernünftige aus sich zu erzeugen. So geht seiner
innersten Natur nach aus dem Glauben das Wissen hervor, und
dadurch bestimmt sich jenes, wird so erst ein bestimmter Glaube,
der auch ein klares Bewusstsein über sich selbst hat. Dass es dazu
kommt, wäre unmöglich, wenn der Glaube nicht selbst schon an
sich ein Wissen wäre. Es geschieht also damit gar nichts wesent-
lich Neues, dass er, der ein Wissen ist, nun es auch wird. Der
Glaube, wie er der christliche und ein Inbegriff von Glaubens-
wahrheiten ist, so kommt er her aus dem absoluten Wissen, aus
dem All wissen Gottes und dessen Offenbarung, hat zu seinem In-
halt Aussagen und Lehren Gottes über sich selbst, sein Wesen,
*) Die angezogenen ^Vorte sind seinen Vorlesungen entnommen.
GedäcbtDMMrede auf Marbeineke, von AI. Schmidt. |g|
seine Eigenschaften und Rathschlüsse, hat wesentlidi göttlichen
Inhalt und dieser seiner Substanz nach heisst er fides divma^ nicht
weil Gott der Glaubende wäre, sondern weil er der Wissende ist
und sich und sein Wesen den Menschen mitgetheilt hat. Darum
ist im Glauben die Sehnsucht nach dem Wissen; er strebt, nach dem
Wissen zurückzugehen, aus dem er hergekommen. Aber wo es
unter Menschen zu einem Wissen Gottes und der göttlidien Wahr*
heit kommt, da ist und bleibt es doch immer ein solches, welches
am Glauben sein Prinzip hat und behält, in allen seinen Be-
wegungen. Ihr Wissen ist selbst nur ein "vom Glauben ausge-
gangenes, es kann sich daher auch nicht vom Glauben trennen,
der ihm die Bürgschaft des göttlichen Inhalts gibt. Nur der Glau-
bende kann auch der Wissende werden. Im Wissen weiss und be-
greift sich der Glaube, er wird zur Theologie; sein Zweck ist
zweifelsfreie Gewissheit; das Wissen ist die Rückkehr zum ab-
soluten Wissen, aus dem der Glaube herkam, aber immer durch
den Glauben bedingt.
Es ist ein im Glauben entstehendes und nur in ihm sich un-
endlich fortbewegendes Denken. Indem nun dieses in Wahrheit
das Thun des Glaubens selbst ist, sind alle Bestimmungen, zu
denen das Denken fortgeht, nicht äusserliche, sondern durch den
inneren Reichthum des Glaubens selbst gesetzte, aus ihm hervor-
gehende. Durch diese Bewegung, als eine dem Glauben selbst
immanente, wird die christliche Glaubenswahrheit zum Dogma. Es
ist ihrer Natur nichts fremder, als die Behauptung, von Gott und
göttlichen Dingen könne man nichts wissen. Sie will erkannt sein,
dem Geiste nicht fremd, nicht ein Gegenstand der Vorstellung
bleiben; und des Geistes Trieb und Bedürfhiss ist es, sein Wesen,
das Wesen des Gegenstandes, also die Substanz der Giaubens-
wahrheit als sein eigenes, als des Geistes innerstes Wesen und
ewiges Leben selbst zu wissen. Hiermit erst ist er der erkannte^
der in seiner Wahrheit gewusste; erst in der gedankenvollen Auf-
fassung des christlichen Glaubens wird der menschliche Geist seiner
selbst gewiss. Diese seine Realität sucht und gewinnt der Geist
in der Wissenschaft vom Glauben; die Wissenschaft vom Glauben
ist daher vom Selbstbewusstsein des Geistes gar nicht verschieden.
Sie vollbringend vollbringt er sich selbst, thut er sich selbst ge-
nug."
Jahrb. fir specuUt. Philo«. I. 2. 4\
|((2 ^*^ Philosoph i««he U^sellschiift in Berlin:
^Ob nwn gleich doreh den subjectiven Geist, durch die Thä-
ligkeit derer, die im GlaubeQ die Wissenden SH»d, steh vermittelnd^
bleibt dod) das Dogma nicht in den Schranken der Subjectivität
stehen, kehrt vielmehr in jene Allgemeinheit und Objectivität zu-
rück, die der christliche Glaube hat; v^as ^n wahres und vfirk-
liches Dogma ist, das ist auch über die Subjectivität seines Ur-
sprungs hiiMus und von wahrhaft objectiver Bedeutung. Das bloss
subjective Denken ist das unwahre, das Meinen; wahr ist nur das,
was der Einzelne gemein hat mit der Gemeinschaft aller Ver-
nünftigen; schon die Stiftung der christlichen Religion war zugleich
die derKin^, und nur der Gemeinschaft dieser Kirche angehörend,
wird jeder des chnstUchen Glaubens tfaeilhaftig. Von da kommt
die Wahrbieit in seinen Glauben. Ebenso kommt das Wissen im
Glauben, selbst in seinen höchsten Bewegungen, wie nicht heraus
aus dem Glauben, «o auch nicht aus d^ Gemeinde der Gläubigen,
d..h. es geht wohl darin und daraus hervor, aber es reisst sich
nicht los vouMhr, ohne den Grund der Wahrheit zu verlieren.
Alles vernünftigen Wissens vom Glauben wahre Tendenz kann da*
her nur sein, dass es dem Geiste der Kirche entspreche und immer
der bestimmte Ausdruck des allgemeinen kirchlichen Bewusstseins
sei. Nur was so im Geiste der Kirche gedacht ist, wird auch
wieder von ihr anerkannt und geht so in den Kirchenglauben und
in die Kirchenlehre ein. In dieser Weise hat sich durch die Gei-
stesthätigkeit ausgezeichneter Lehrer der öffentliche Lehrbegriff^
die Dogmatik der Kirche gebildet, und nur was dazu gehört, ist
ein wahres und wiiicliches Dogma. Es ist Ausdruck des im Wis-
sen vom Glauben allgemein Gültigen und Vernünftigen. Aber hat
nun nach allem dem, was die Kirche sich vom Winsen der Wahrheit
erarbeitet und als allgemein geltend sich angeeignet hat, nach
Fixirung eines kirchlichen Lehrbegriffs die freie Geistesbewegnng
ein Ende? Dann wäre die Dogmengeschichte das Letzte in der
Theologie. So ist es nicht; das Denken des Glaubens im christ-
lichen Geiste ist seiner Natur nach ein unendliches; *ihm legt der
Geist der Kirche, der ein Geist der Freiheit ist, am wenigsten
Fesseln an und so geht in der Dogmatik das Bestimmen des Dogma
immer aufs Neue und auch äusserlich endlos vor sich» Die theo-
logische Speculation besonders hat die Bestimmung, die unablässige
Reinigung der Tradition zu sein; und es ist der Geist der Kirche
Gedächtnissrede auf Marheineke, von AI. Schmidt. iQß
selbst, der wie er der Geisl der Freiheit, so a«eh das Wissen
selber ist, immer neue Forme» versucht, um aus der einfachen
Substanz der christlichen Glaubensartikel den ganzen unerschöpf-
lichen Reichthum an Gedanken zu Tage zu bringen, der darin ent-
halten ist. Dfts Christenthum hat ja dem menschlichen Geiste Un-
endliches zu denken, dem Willen Unendliches zu thun gegeben.^
„Die christliehe Lehre hat ein Unveränderliches und Ewiges
zu ihrer Grundlage, das nur in immer anderen und voilendeteren
Formen sich an die Menschheit bringt und in diesem Sinne Ver-
änderungen nicht von sich aosschliesst. Das Ewige der Ideen ist
nicht ausser aller Zeit, sondern bewegt sich durch alle Zeiten nur
in anderen Gestalten, So hat die Geschichte, ukid wovon es sich
hier handelt, die Geschichte der Dogmen das zu ihrem Inhalte, was
obgleich subjectiv doch zugleich objectiv, obgleich vergangen doch
unmittelbar gegenwärtig ist, und das ist das Wahre, Vernünftige,
Ewige. Was die das Leben tragenden und beherischenden Meen
sind, die wollen erkannt und gewusst sein; ohne derselben Er-
kenntniss hat weder das Leben noch die Wissenschaft einen Werth.
Der Glaube hat zu seinem Gegenstande das Wahre als solches und
ist hierdurch von der Meinung verschieden. Der Glaube hsA sei-
nen Standpunkt in der absoluten Religion, in der ewigen götäidien
Wahrheit, und sie ist es, die ein- und übergeht ins Dogma, es
ist als Wissen die Gewissheit der Wahrheit. Was in der theo-
logischen Welt der Partei verfällt und dem Zufälligen statt dem
Nothwendigen, dem Subjectiven statt dem Objectiven sich hingibt,
das hat nicht nur vom Wissen, sondern auch vom Glauben selbst
nur diese Meinung, dass beides von dem Meinen nicht verschieden
sei. Diesem Vorurtheile huldigen Rationalisten wie Pietisten, asi
der Erkenntniss der ewigen Wahrheit verzweifeln sie. Es spricht
sich darin besonders der Unglaube an die WiArheit aus, dass diese
für unerkennbar gehalten wird. Wie kann cKe Wahrheit Wahrheit
sein, wenn sie nicht daftir eriiannt wird. Ist die Wahrheit für
unerkennbar erkannt, so ist das so viel, als sie sei eine erkenn-
bare Unwahrheit,"
„Weil die Wahrheit für den Geist nur ist durch ihr Erkannt^-
werden, weil diess Erkanntwerden ihr eigenes Thun, ihre eigene
Offenbarung ist, so ist auch die Entwickelung der Glaubenswahr-.
heit, dieser Prozess, den sie durchläuft, um alle ihre Seiten dem
11*
4aji Die philosophische Gesellschaft zu Berlin:
wissenden Geist zu enthüllen, von innerer Nothwendigkeit ge-
tragen. Diese Nothwendigkeit ist zugleich des Geistes Freiheit.
Indem der Geist im Wesen der Idee seine eigene Wahrheit wie-
dererkennt und sie als seinem Bewusstsein angehörend weiss, ist
er, obgleich nur durch sein Object bestimmt, doch zugleich sich
selbst bestimmend, d. h. frei. Der Geist ist nur im Denken und
findet an den Gegenständen des Glaubens eine unerschöpfliche
Wissensquelle , aus der er stets seinen Durst "a^h Wahrheit löscht.
Ist es ihm allein zu thun um das Erkennen und Wissen der ob-
jectiven Wahrheit, so verändert er sie nicht durch heterogene,
ihr selbst fremde Bestimmungen; sondern er nimmt sie, wie sie
sich aus ihr selbst ergeben und sich selbst dadurch unendlich er-
weitern. Er fühlt ihre objective Macht und lässt sich von ihr be-
herrschen. Die ewigen Ideen der Glaubenswahrheiten lassen
nicht ab, den menschlichen Geist an sich zu ziehen, sie wollen
erkannt sein in Philosophie und Theologie. Die wahrhaft philo-
sophische und theologische Erkenntniss begreift das Dogma in der
Totalität seiner Momente und setzt nichts in den Begriff des Dogma
von aussen hinein, was nicht in demselben enthalten war; sind so
die Gedanken dem Inhalt selbst entnommen, so treten sie mit die-
sem in eine bleibende Verbindung und überliefern sich von einer
Zeit zur anderen; sie gehören aller Zeit, denn schon vorher lagen
sie in der unentwicktelten Glaubens Wahrheit, und auch nachher
kann der denkende Geist nicht von ihnen absehen, wie könnte er
sich von dem unendlich Vernünftigen, Göttlichen, Ewigen trennen,
wo eine Wahrheit einmal dafür ist erkannt worden? So verknüpft
sich das System der Wissenschaft, der Organismus der in's Wis-
sen erhobenen Glaubenswahrheiten durch die Geschichte und deren
innere, aus. dem Inhalte fliessende Nothwendigkeit mit den ersten
Grundlagen; sie enthielten schon den Grund und das Verlangen
nach innerem systematischen Zusammenhang und Organismus. Es
ist ein und dasselbe Prinzip, aus dem die Wahrheit in der heiligen
Schrift abstammt, und das in uns jetzt noch das Verständniss die-
ser Wahrheit wirkt; ein und derselbe Geist, in der Kirche bestän-
dig lebendig und thätig.^
Diess, m. h. H., werden Sie als die Grundgedanken Marhei-
neke's erkennen, denen er in seiner ausgebreiteten Thätigkeit
überall Ausführung gab; sie hielten in all' seinem Schaffen die
Gedächtniflsrede auf Marheineke, von AL Schmidt. ^g5
heilige Schrift, die Kirche, die Wissenschaft zusammen , sie setzten
bei ihm die Speculation und die Geschichtsbetrachtung, die Theo-
logie und Philosophie in den lebendigsten, wahrsten Zusammen-
hang. Sie waren so mit seiner Person, mit seinem gesammten
Wollen und Schaffen geeint, dass er in all seinen Hervorbringungen
gleichsam ihre Wirklichkeit und lebendige Darstellung selbst war.
Er war vollkommen ein kirchlicher, vollkommen ein wissenschaft-
licher Mann, nicht eines neben dem andern, sondern beides- in und
mit einander; er war ungetrennt ein gläubiger Christ und ein un-
abhängiger , philosophischer Denker. Wenn man ihn sah und hörte,
so musste man zu der Ueberzeugung kommen, dass beides mit
innerer Nothwendigkeit zu einander gehöre, dass eines von dem
andern überhaupt nicht trennbar sei. So ganz war diese Persön-
lichkeit aus Eeinem Guss und stellte in sich die Harmonie der ver-
schiedenen Seiten dar, welche das innerste Streben des christlichen
Geistes auch nicht anders als in Einheit und gegenseitiger Ueber-
einstimmung durchgeführt wissen will. Drum war ihm jede Halb-
heit, jedes getheilte Wesen zuwider; aber nicht minder scheute
er alle Extravaganzen, welche den Geist der Wissenschaft oder
der Kirche in gefährliche Versuchung fiihren, oder den Frieden
und die Harmonie des nach göttlichem und menschlichem Rechte
Zusammengehörigen zerrütten konnten.
Gar manche Extreme^ die der wilde Meinungskampf unserer
Tage, die Erschütterung aller Seiten unseres religiösen, politischen,
socialen, philosophischen Bewusstseins hervorgerufen hat, Extreme,
die [dem Geiste der Wahrheit zu folgen vorgeben und von der
nächsten Zukunft den gewissesten Sieg erwarten, während sie doch
nur der Consequenz des ihnen einjgebomen Mechanismus erliegen,
ohne je ernstlich und erfolgreich in die Fortbildung des Menschen-
geschlechts eingegriffen zu haben: solche Extreme mögen sich
rühmen, den wissenschaftlichen Bestrebungen des Dahingegangenen
überlegen zu sein und sein Friedenswerk zerrüttet zu haben, sie
mögen prahlen, dass sie einen unauslöschlichen Feuerbrand in seine
Gedankenschöpfung geschleudert haben; die Kritik mag frohlocken,
dass sie die Elemente, die jener Denker zum Aufbau verwandt,
zur Vernichtung benutzt, dass sie der Geschichte, der jener einen
bejahenden Sinn abgewinnen konnte, eine verneinende Kraft zu-
geschrieben, dass sie slaft der Versöhnung Disharmonie herge-
j[^ We pbiloiopliische GMellschiift im BerUii:
FicMet, und statt eines inhaltvotlen, die Resullate alle» Z^ea po*
ntiv in sich Tenirbeitenden Wissens die leere Form eines gegen
jeden Inbak negativen Denkens zur Herrschiift gebracht hAe;
eine den wesentlicfaen GruiMisätzen der Philosephie selbst wider-
sprechende Denkweise n»^ den Ruhm hinaehne», das mensch-
liche Sewusstsein aueh von Gott emanciptrt vmd das götiliche Zeug*-
niss im Menschen zu einem Zeugniss des Mmschen von sieh selbst
herabgesetzt zu haben: der von uns gefeierte Denker ko«inte ruhig-
und ungeirrt diese Bewegungen gewähren lassen^ die den Anschein
nehmen, das Werk semes Lebens z« zerstören. Hat er dcN^ selbst
nie die Macht der NegaUo« gescheut, hatte er doch in der Kirche
selbst auf alloi Punkten ihrer grossartigen Enlwickehing die sieg-
radie Kraft erkannt, mit der she in jede Tiefe der Negation »di
einlassend, jeden Zweifel in sein inerstes Leben verfolgend, das
subjective Bewusstsein in seinen weitesten Ansprachen frei lassend,
doch Subjectivität und Negation unwiderstehlich durch ihr dnge^
bomes substantielles Wesen überwindet! Hatte nicht die Arbeit
seines Lebens dar protestantischen Kirche gehört in jenen bewegten
Zeiten, da sie bei der ausgeddintesten Anerkenasng der Rechte
des subjectiven Bewusstseins, wie sie der Rationalismus verlangte,
doch ihren unendlichen, positiven Inhalt, ihre alles Endliche über**
steigende, aller menschlichen Entwickelung überlegene Grösse
wiederherstellte und lebendiger und tiefer als jemals in das Ge-
fühl, das Wollen und Denken der Menschheit einsenkte? So konnte
ihm auch der Ausgang -der neuen Bewegungen mcbt saklar sdn,
sie konnten nur dazu dienen, wie ein läuterndes Feuer den zeit**
lieben, vergänglichen Stoff, die zuflitlige Form an der Wahrhai zu
verzehren, ihren ewigen Inhalt in desto heileren Glanz zu erheben.
Zuletzt müssen doch die substantiellen Mächte des menschliehen
Lebens, alle nothwendigen Bestrebungen des Gdstes wieder ihren
Frieden, ihre Harmonie finden, zuletzt muss das Allseitige über
das Einseitige den Sieg behaltai, zuletzt muss das ewig und gött«»
lieh Berechtigte sein Recht im Bewusstsein doch durchkämpfen
und vrider alle Anfechtungen zur Anerkennung kommen, zuletzt
muss doch die Arheit des menschlichen Geistes als eine einzige,
zusammenhängende, auf jedem Schritte positive Erfolge fördernde,
die Geschidite in ihrer bejahenden Bedeutung hervortreten; es muss
die Gesammtheit der Vernünftigen sich in dem der Menschheit im
Gedachlaiisrede auf Marlieiii«atef von AI. Schmidt. iQ^
Glauben ttnd^Wisseii an imd Tilr sich Nothwendigen asnsaaunenfinden.
Vergleichen Sie die seit einem Jahrzehend aufg^retenen kritischen
Richtungen, von denen die eine die andere zu tlAerhoIen beeilt
war, Sie m<%en ihnen wekfae« Werth auch immer zBscbreiben,
doch darin werden Sie mir gewiss beistimmen, dass keine von
ihnen diese umfassende, sdiaffende, diese letbwer«ei|gende, lieber-
Zeugung wirkende Kraft enthäli, als das C^dankensystem Marhei-
neke's, dass keine von ihnen diese centrale Stellung erringen kann,
sondern jede nach der Peripherie abgewidicm ist, dass sie alle
mehr oder minder die Continuität der Geschicke abgebrochen, die
innere lebendige Vermittlung des Gegenwärtigen ttii4 Zukünftigen
zerschnitten, dass sie in ihrer Stellung znm Glauben und Leben
der Kirche eine durchaus verneinende und darum unfruchtbare Be-
ziehung zur Theologie sich gegeben, also den Einfluss auf innere
kräftige Fortbildung dieser Wissmschaft sich versagt haben. Denn
das geradezu Feindliche und Negative kann wohl ein Anatoss, nw
aber etnintegrirendes Moment des Fortzubildenden werden.
Die Grundgedanken Marheineke's, wie sie vorhin sind her-
ausgehoben worden, können dureh die nachfolgenden kritischen
Bestrebngen nicht erschüttert, sie können durch sie in ihrer rei-
neren, lebendigeren, das Bewusstsein nach all seinen Seiten thätig
ergreifenden Ausführung nur geschert werden; es fehlte dem Da-
hingeschiedenen auch in seinen letzten Jahren weder an der innig-
sten Theilnahme an jeder Wendung der Wissenschaft, noch an
productiver KreSt; sein Geist war auf das Lebhafteste der Zukunft
der Philosophie und Theologie so wie der Kirche zugewendet.
Es war das Verhältniss der Philosophie und Theologie, es war die
Reform der Kirche und ihre Gestaltung aus dem inneren Lebens-
gehalt, über die sich seine letzten Schriften ergingen; auch das
Wesen der von ihm in ihrer ganzen Tiefe verstandenen Refor-
mation hielt er noch einmal dent Bewusstsein der Gegenwart vor,
um sie zum ernsten Sdiritt in die Zukunft su stäricen; aber sein
den Aufgaben eines kommenden Geschlechtes zustrebender Geist,
der empfänglich für das Bessere und beugsam genug ftir^ die Wahr-
heit gewesen wäre, um der eignen Erkenntnis^ Schranken einzu-
sehen und von sich zu werfen, liess sich von dem ungestümen
Drängen eines neuen emporstrebenden Geschlechtes nicht fortreis-
sen; er war ebensoweit entfernt von einer voreiligen^ in Angst
198 ^® plriloiophiAclie GeaellsdMtft lu Berlfli :
und Furcht gegrttndeten Verdammung, die von dem Ernste der
Kritik die Theologie retten will, als müsste sie nicht jede Probe
bestehen, wie von der Beistimmung zu diesen kritischen Bestre-
bungen, die doch unmöglich ihren Zwedi in sich tragen konnten,
und wenn sie sich selbst zumZwedk machten, ihrem nothwendigen
Schicksal, ihrer mediaAischen Consequenz erliegen mussten. Mar-
heineke sah in allem wissenschaftlichen Strdben auf den sittlichen
Zweck, auf die universale Bedeutung, auf die Stellung, die es sidi
zur Gesammtheit der Vernünftigen geben konnte, auf den kräftigen
Antrieb, der darin lag für die sittliche Entwickelung der Menschheit
im Ganzen; daher er die Theologie nie ausser der Beziehung auf
die Kirche sich denken konnte und ihr vnssenschaftlidies Tbun
nicht von dem kirchlichen Boden, von der substantiellen Macht,
von den Endzwecken dieser Gesammtheit losgerissen wissen wollte.
Es lag darin die Beharrlichkeit, die Stetigkeit seines Denkens, die
Festigkeit seines (üharakters, die Uebereinstimmung mit sich, die
ihn durchweg auszeichnete; es lag darin das Massvolle, die Ge-
rechtigkeit, die innere Harmonie seiner wissenschaftlichen Bestre-
bungen; denn das Mass ist ja der den TOngen eihgebome Zweck,
der vor jeder Einseitigkeit und üebertreibung sichert; die Wissen-
schaft aber darf nie dieses Mass vergessen, das ihr der sittliche
Endzweck vorschreibt; vergisst sie es, so verfällt sie in's Unwahre
und Unschöne, in's Unpraktische und gehorcht statt ihrer Freiheit,
der mechanischen Nothwendigkeit extremer, vom Centmm abfallen-
der Ausbildungen. In dieser massvollen Haltung, in dieser Beziehung
auf den sittlichen Endzweck ist Marheineke's wissenschaftliche Thä-
tigkeit bei weitem dem nachfolgenden kritischen Gfeschlecht über-
legen, das, indem es gewisse Tendenzen mit blindem Eifer ver-
folgte, ganz absehend von den allgemeinen sittlichen Interessen,
von den praktischen Bedürfnissen der Gegenwart, aus einer Stel-
lung in die andere geworfen ward, um den einseitigen Trieb zu
befriedigen, dem es sich blindlings ergeben hatte.
Wenn es also diesen späteren Bestrebungen, ihr Gehalt mag
sein, welcher er wolle, schwieriger werden wird, das rechte Mass
zu finden, in die Mitte der gegenwärtigen Interessen, auf die Bahn
des allseitigen, harmonischen Fortschrittes zurückzulenken, und
ihr Edelstes und Bestes, was vor der Wahrheit und Sittlichkeit
bestehen kann, der Förderung der höchsten menschlichen Zwecke
Gedächtniisrede auf Marheineke, von AI. Schmidt. i09
darzubringen, so sind wir gewiss, dass die Gedanken Marheineke's,
wie sie sich niemals von dem Zusammenhang kirchlicher Fortbil-
dung losgesagt haben, so auch unmittelbar in die fernere Gestaltung
des kirchlichen Lebens und Wissens auf das Regste eingreifen wer-
den, die Erkenntniss des bereits Errungenen aufSschliessend, und
neue fruchtbare Keime für die Zukunft erzeugend. Niir Bus der
Erkenntniss des in den bisherigen Schöpfungen wirkenden Prinzips,
nur aus der Einsicht in deren positiven Gehalt und seinen inner«-
sten stets lebendigen und treibenden Grund kann die kräftige För-
derung des Zukünftigen hervorgehen; auf jene Erkenntniss aber,
auf das Verständniss des Kirchlichen aus seinem unwandelbaren
göttlichen Prinzip wies der Dahingeschiedene in jedem Augenblicke
seines vielseitigen Lebens hin. Zu diesem Zwecke rief er die
Philosophie zu Hilfe, denn es war ihm nicht entgangen, dass ge-
rade die reichsten und blühendsten, die durch eigenthümliche Kraft
und Grösse sich auszeichnenden Zeitidter der Kirche die innigste
Wechselwirkung mit der Philosophie unterhalten hatten; es war
ihm klar, dass .kein Wissen, keine Erkenntniss Sicherheit habe,
ohne sich mit klarem Bewusstsein auf die letzten Grundlagen alles
Wissens beziehen, an sie anknüpfen zu können, ohne in seiner
gesammten Bewegung von der Methode der Wahrheit sdbst ge-
tragen zu werden; es stand ihm fest, dass an seinen höchsten An-
gelegenheiten der Mensch mit klarer Einsicht, mit vollem Bewusst-
sein, als ein Wissender Theil zu nehmen habe, dass es ein Wider-^
Spruch sei, ihn von der Erkenntniss dessen auszuschliessen, was
einem denkenden Wesen doch vor Allem das Gewisseste sein
müsse; er hatte die Ueberzeugung« dass sich Religion und Philo-
sophie, zwei so verwandte und durch ihren Inhalt lebendig auf
einander bezogene absolute Angelegenheiten des Menschen nicht
im Widerspruch befinden könnten, .dass die Philosophie, eine der
nothwendigen Aeusserungen des geistigen Lebens, mit der Substanz
desselben, der Religion, in innerer Wesensübereinstimmung stehen
müsse, dass die Philosophie als denkend dasselbe enthalte, was die
Religion als seiend, dass aber dieses Grund -Sein zum vollen auf-
geschlossenen Bewusstsein, zum Denken über sich nur durch die
Philosophie kommen, also die Theologie nie ohne die Philosophie
entstehen könne. '^
f^^ Die philofophische Gesdbchaft in Berlin:
Das aber, m. h. H., sind Wahrheiten, die ihre gtinze Bedeutung
erst in der Zukunft entbiUen werden, deren vollkommene Aus*
• fiihrung erstvcm der kommenden Ent Wickelung zu erwarten steht.
Wir sind jetzt bei einer Zeit angelangt, wo die christliche Religion
ungeheure Anstrengungen wird machen, ungewöhnliche Kräfte
wird aufbieten, ihren tiefsten Lebensgehalt wird heraiiswenden
müssen, um die Krisen und weitgreifenden Bewegungen zum. Besten
zu lenken, die jetzt alle un^re Lebensgebiete erschüttert haben
und noch tiefer zu erschüttern drohen. Wenden Sie ihr Auge
auf den Kampf der politischen Parteien, auf die geselisdiafllichen
Collisionen und Missbildungen, welche der Fortschritt der wateri--
eUen Interessen hervorgerufeii hat, auf ths selbstsüchtige Treiben
im Handel und Wandel $ das die heiligsten Bande zenreisst, die
sittlichen Verhältnisse umkehrt, bedenken Sie die unaufhaltsame
Kraft im Fortsdiritt des Bös^, wo einmal die sittlichen Zustände
an der Wurzel angegrilT^ sind; sehen Sie hin auf die Gleichgültig-
keit^ mit der von den Meisten die höchsten Angelegenheiten be^
handelt werden, während die vergängiiehen Interessen ihre ganze
Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen; erwägen Sie den
offenen oder geheimen Widerspruch, in der die Bildung so Vieler
mit. dem als christliche Wahrheit Behaupteten steht; bedenken Sie
die Verlegenheit derer, die als geistliche Lehrer des Volkes zur
Rechtfertigung des als GÜaubenswahrheit Vorgetragenen sich auf-
gefordert sehen; schauen Sie bin auf den von Zeit zu Zeit wieder
angefachten Streit der Confessionen , wo Ueberzeugung mit Ue-
berzeugung ringt und Mangel an Aufklärung über das Wesen der
Religion zu Hass und Fanatismus hinreisst: welche unermesslicb
grosse Aufgaben erwachsen aus altem dem der Religion, und wie
viel tiefer, umfassender^ lebendiger, fireier muss sie in Zukunft
von ihren Lehrem behandelt und in*s Leben eingeführt werden,
wenn an ihr die öffentliche und private Sittlichkeit sich stärken
und begründen, wenn durch sie die grossen Confiikte des poli-*
tischen, socialen, kirchlichen Lebens sollen überwunden werden.
Deim ihr Beruf ist es, und diese Aufgabe kann Niemand für sie
übernehmen; das allseits aufgeregte Bewusstsein muss a» ihr sei«*
uen Halt, und den kräftigen innerlichen Antrid) zur sittlichen
Lösung der Schwierigkeiten finden. Soll die Religion diesem Be-
rufe gewachsen sein, so müssen vor Allem ihre Lehrer ein klares
Gedächtai&nrede auf MurlietHeke, vou AK i^chinidt. |7;|
Verstäoidniss dieser Aufgabe und der Mittel und Kräfte haben,
w<eldie die Religion aufbieten kann; sie müssen es zur wissen-*
schaftlichen Einsicht in den Glauben und seine Wirkung auf die
LelüensverhäUnisse gebracht , sie müssen ihr Bewussisein init seinem
Inhalte geeinigt bab^n und diese von ihnen errungene Einheit dem
Volke m^ttheilen können-, sie müssen im Stande sein, ihre Ueber-
zeugong jederzeit ^u rechtfertigen, und die geistig durchdrungene
Errungenschaft des kirchlichen Bewusstseins in iher wahren Grösse
und Lebendigkeit fort und fort auf die Gegenwart ausströmen zu
lassen, sie müssen es verstehen^ die freien Geister durch ein eini-
ges, von ihnen allen frei anerkanntes, selbst gewolltes, selbst
erzeugtes kirchliches Baiid zu umfassen. Wie könnten sie sieb
aber eina Wirkung xon dem versprechen ^ was sie selbst unerkannt
lassen, wenn sie den Geist, seine Bedürfnisse und sein Yterlangeii
niQ^it in Einheit geizen kpnnen ? Alle Verfassungsreformen der Kirche
werden nichts , helfen, wo nicht jene Bedingung erfüllt, wo nicht
der substantielle Inhalt des Glaubens als eine klar erkannte und
mit Freiheit finexkannte Macht in's Bewusstsein eingetreten isl.
Niemand hat klarer die eben erwiesene Nothwendigkeit ein«'
gesehen, Niemand hat erfolgreicher der Ausführung dieses Planes,
durch den die Theologie wieder mitten in die Gegenwart und in
ihren Einfluss auf die vielen Lebensinteressen gestellt werden sollte,
vorgearbeitet als Marheineke; und so kann es nicht anders sein,
als dass die von seinen Gedanken ausgehende Anregung erst in der
Zukunft ihre' reichen Früchte tragen, dass sie erst in der gefähr-
lichsten Krisis ihre ganze Macht und Tiefe entfalten wird. Haben
nicht alle Richtungen der Theologie, frei oder gezwungen, all-
mählich diesem Zuge folgen müssen , dessen Nothwendigkeit jener
grosse Denker sich zum klaren Bewusstsein erhob; bricht sich
nicht in ihnen der auf Rechtfertigung und Begründung dringende
Gedanke mehr und mehr Bahn, suchen sie nicht alle mehr oder
weniger sich mit den letzten Gründen der Erkenntniss zu ver- ,
mittein; ringen sie nicht alle, Gott wieder lebendig zu ergreifen,
und aus den Schranken der Subjectivität sich zu befreien; ver-
langen sie nicht alle, sich mit dem gegenwärtigen Bewusstsein aus-
zusöhnen und auf die mannigfaltigen Lebensformen wieder Einfluss
zu gewinnen? Unverkennbar gibt die grosse Mehrzahl unserer
Theologen diesem Zuge nach, und hat unter Anderem auch ein
173 ^'^ phttofophiiche Geiellichafl zu Berlin: etc.
detttlicheres Verständniss vcb dem Streben Marheineke's erlanget,
daher sein Hinscheiden im ganzen Bereiche unserer deutschen pro-
testantischen Kirche tief empfundenen Schmerz verursacht hat.
Nur ein schwaches Bild, m. h. H., von der wissenschaftlichen
Bedeutung des Dahingeschiedenen, nur einen dürftigen Schattenriss
der lebendigen und reichen Anschauung, welche Sie, seine Freunde,
von seiner Persönlichkeit, seinem Wirken und Streben in Ihren
Herzen aufbewahren, habe ich in den Worten niedergelegt, die
seinem Andenken gewidmet waren. Dürfen wir uns der Ueber-^
Zeugung freuen, dass der Unvergessliche trotz seines irdischen
Scheidens als der geistig Fortlebende der Gegenwart und der
ferneren Entwickelung angehört, so liegt darin vor Allem ftir uns
selbst die Aufforderung, sem Leben und Wirken durch Wort und
That fortzusetzen, in seinem Geiste fortzudenken, sein Andenken
in Schöpfungen zu erneuen in der Philosophie und Theologie, vne
sie seinen Grundgedanken entsprechen und wie sie den verwickei-
teren Aufgaben der Zukunft werden gewachsen sein. Uns selbst
müssten wir vergessen haben, wenn je die Zeit sein Gedächtniss
aus unseren Seelen verwischte!
X.
Die Berliner Akademie der IVlissenseliafteii
und die Phllosoplile«
Miscelle von • • ♦.
Herr Trendelenburg, durch den die Akademie für die
ehrwürdigen Reste der philosophischen Vergangenheit einen Con-
servator mehr gewonnen hat, sagte in seiner Antrittsrede, die er
in der Sitzung zur zweiten Geburtstags -Säcularfeier Leibnitzens
hielt: „dass es der Akademie mit der deutschen Philosophie eigen
gegangen sei ,^ und will diess dadurch begründen, dass, „während
ihr La Mettrie mit seiner materialistischen Philosophie aufgedrängt
worden sei, sie Fichte, Solger und Hegel nicht zu den Ihrigen
gezählt habe.^ Wir wollen das Urtheil des neuen Mitglieds der
philosophisch r historischen Klasse nicht sehr urgiren, wenn er be-
merkt, man müsse zugeben, „Hegel gähre noch immer in der
Philosophie.*' Wahrlich der Schatten seiner eigenen Grösse muss
dem jungen Akademiker alles Licht genommen haben, um einzu-
sehen, was mit Händen zu greifen ist, dass da von keiner blossen
Gährung die Rede sein kann^ wo alle Fortentwickelung in dei*
Philosophie und die Fassung undi Gestaltung der mit ihr am nächsten
verwandten Wissenschaften einzig und allein die Hegel'schen Ideen
zum Ausgangspunkte nimmt. Während also die Hegel'sche Philo-
sophie in ihrer weiteren Ausbreitung mehr und mehr ein Gemein-
gut der deutschen Nation, wenigstens ihres gebildeten Theils,
geworden ist, fähit die königliche Akademie der Wissenschaften,
hier in Uebereinstimmung mit andern wohlbekannten Remühungen,
welche der Wahrheit und Wissenschaft, ihre Rahn vorzeichnen zu
\^\ Hie philosophische. (•eselUchaft zu Berlin:
können meinen, fort^ allen speculativen Einfluss solcher Art sich
möglichst fern zu halten.
Doch wie^ sollte man mit einem Haie Gerechtigkeit für die
Philosophie von einer Gesellschaft envarten können, die, obgleich
von einem der grössten Philosophen gestiftet, ihrem Ursprung so
untreu wurde, dass einst ihre philosophische Klasse sich selbst in
eine historisch -philosophische auf- und untergehen liess, weil ihre
drei Mitglieder sich selbst für keine Philosophen hielten oder hal-
ten konnten! Fichte wurde Nicolai geopfert, Hegel nicht aufge-
nommen, weil Schleiermacher in der Akademie sass. Warum ist
es der Akademie denn aber aucb/mit Solger so eigen gegangen?
Und hat die neueste Wahl nicht dieselbe Abneigung gegen specu-
lative Philosophie bewiesen? TEs ist nach Verstärkung um etliche
Stimmen den historischen und philosophischen Freunden des Herrn
Trendelenburg endlich gelungen, die Wahl desselben durchzusetzen,
nachdem bei einem früheren Vorschlage ikn gemeinschaftlich mit
Herrn Gabler, Hegels Nachfolger auf dem Lehrstuhle der Philo*-
Sophie, das Loos getroffen haben soll, und zwar mit noch ,einer
Stimme weniger, als dieser, in der Minderheit zu bleiben. Wir
erfahren, dass Herrn Gabler diessmal zwei Stimmen zur erforder-
lichen Zahl gefehlt haben. Sollte seinen Freunden im Interesse
der speculativen Philosophie und des heutigen Standes der Wjs<-
senschaft seine Wahl auch später noch etwa gelingen, so würden
wir es ihm dennoch verdenken, wenn er zur Annahme einer sol-
chen Ehre, deren früher die Heroen der Wissenschaft nicht ge-
würdigt worden, sich durch Rücksichten bestimmen liesse. Hat
doch selbst Herr Trendelenburg diese Ehre in semer fiedie als be-
denklich für ihn ausgesprochen! Unserem Ermessen nach ganz
ohne Grund, da, wenn man ein Heros der Wissenschaft sein mttss,
um von der Akademie ausgeschlossen zu sein, sdner Aufnahme
kein Hinderniss im Wege stand, — um so mehr, als er noch jetzt
der Akademie erklärt, er wolle nichts mit der Speculation, son-
dern nur mit der Historie zu thun haben.
Diesem entschiedensten bösen Willen der Gesdlschaft gegen
die Philosophie, der sich auch in Siinem jüngsten Mitgliede nicht
verkennen lösst, suchte zwar der würdige Secretär derselben in
seiner Beantwortung jener Antrittsrede entgegenzuarbeiten: „Die
Wissenschaft in ihrer Freiheit und Ganzheit verlange nicht bloss
die Beriiner Akad. d. Wiss. u. d. PhüoBophie. j[75
Empirie; sondern als ibr Anderes auch die reine Philosophie, den
Begriff. ** So wünschle er, wiewohl gewiss vergeblich, von dem
neuen Mitgliede, eine Thätigk^it in diesem Sinne. Und auch für
die Vergangenheit unternahm er es, so gut es gehen mochte, die
Akademie von Fetndsettäft gegen die Speculation frei zu sprechen:
„Die Akademie hat das Bestreben gefühlt, der Speculation ein
Feld zu eröffnen^ indem sie einen hochherühmten Philosophen. zu
ihrem Mitgliede gezählt, und so jetzt, ohne verletzt zu werden,
den Vorwurf anhören köBiien, jene drei Grossgeister nicht auf-
genommen zu haben.^ Als Gans und Michelet ihr also jenen
Vorwurf machten, wurde sie verletzt; nun ihr eigenes Mitglied
es ihr ins Gesicht sagt, muss sie ihn natürlich hinnehmen. Ge-
schickter konnte die ungeschickte Wendung nicht parirt werden.
Mehr als eine Wendung ist aber auch diese Entschuldigung nicht,
und konnte es nicht sein. Das scliien auch der geehrte Redner
selbst zu fühlen, indem er mit seiner Ironie auf die Thatlosigkeit
des „hochberühmten Philosophen" anspielte. In der That, erst
gleich nach Hegel's Tode, als Herr von Schelling bereits seit
längerer Zeit die ächte Speculation abgeschworen und sich der Er-
fahrung, Historie und Tradition ergeben hatte,, wurde er für wür-
dig angesehen,' einer Akademie anzugehören, in welcher ja auch
die PhUosophie sich der Historie verkaufte.
Durch den Eifer dieser Ernennung scheint die Akademie nun aber
auch das Aeusserste, was ihr möglich war, Tür die Philosophie gethan zu
haben; so dass sie nunmehr schon einen speculativen Ueberfiuss zu be-
sitzen meint. Als Nahegebrachter und Einheimischgewordener musste
Herr von Schelling, wie man vernimmt, um wirkliches Mitglied sein und
bleiben zu können, sich aufh zu wirklichen, wenigstens jährlichen Vor-
lesungen in der Akademie verbindlich machen und entschliessen; — die
obenerwährte, der Akademie wohl nicht unwillkommene Thatlosig-
keit dieses einzigen „Speculativen'' in ihr, musste aufhören. Aus-
ser einem einmal in öffentlicher Sitzung von ihm gelesenen philo-
sophisch-mythologischem Vortrage über den Janus und dessen
tiefgeheime Bedeutung, welche den Philologen unbekannt war»
einem Vortrage, für welchen ihm übrigens aus einem hohen Munde
das Prädikat „ungeheuer gelehrt'' zu Theil geworden sein soll,
hat indessen von seiner sonstigen Betheiligung an den Arbeiten
und Verhandlungen der Akademie bisher nicht viel verlauten wol-
f^A Die philosophisch« GetellBchaft zu B<9rliii: eic.
len-, wie er auch aller persönlichen BetheiUgfung bei den in Frage
kommenden Wahlen sich enthalten haben soll — Es scheint, dass
Herr von Schelling nnd die Akademie gegenseitig keinen grossen
Gefallen an einander finden.
Die Akademie ist auch in der ganzen gelehrten Republik wegen
dieser ihrer Misologie, wegen dieses Bestrebens, blosse Erfah-
rungswissenschaflen anzubauen (und dahin wollen viele Akademiker
das vorhin Angeführte erklären, dass sie noch ,,ganz wissen-
schaftlich^ sei}, so übel angeschrieben, dass es ihr diessmal nicht
zuerst begegnet ist, ihre Prbisau%abe aus dem Gebiete der Philo-
sophie unbeantwortet zu sehen. Denn welcher Philosoph wird ihr
eine Arbeit jahrelanger iStudien anvertrauen, da jene Grossgeister,
deren Gedanken unter uns nicht bloss mehr gähren, sondern durch
die Zeit gekeltert zum Göttertrank der Wahrheit abgeklärt worden
sind, weder im Leben einen Sitz in ihr erhalten, noch im Tode
Anerkennung finden konnten?
II.
Kritiken.
Jahrb. f&r spccabil. Philos. I. 3.
13
I.
Die freie Theologie ^ oder Plillosoplile und
Clirlsteiitliiint In Streit und Frieden«
Von A. Emanuel Biedermann« Tüb. b* Fues. 1844, 273 S. 8.
Die literarische Thätigkeit der speculativen Theologie, welche
im vorigen Decennium einen so kräftigen Aufschwung nahm, ist
in den letzten Jahren eine sehr spärliche geworden. Ja, man
glaubte schon durch die neueren Abweichungen der Speculation —
Entwickelungen kann man sie nicht nennen — von den entgegen-
gesetztesten Seiten her sich zu der Ansicht berechtigt, jene ganze,
mit soviel Begeisterung verkündigte Gestalt der Theologie nur als eine
temporäre und allein in einer Zeit des üebergangs mögliche Ver-
knüpfung sich widersprechender und innerlich feindlicher Elemente
zu betrachten, welche jetzt durch Ziehung ihrer eigenen Conse-
quenzen und durch das Hervorbrechen der von Haus aus ihr im-
manenten und früher nur verdeckten Negativität vollständig in der
Auflösung begriffen sei. Ob wir gleich diese Meinung nie getheilt
haben, so haben wir doch mit um so grösserer Freude ein Buch
gelesen, das schon in seiner Ueberschrift die Verheissung trägt
und dieselbe auch durch seinen Inhalt rechtfertigt, vom Streit zum
Frieden hindurchzudringen, durch die schärfste Kritik hindurch zu
einer nicht abstracto negirenden , sondern begreifenden Erkenntniss
des innersten religiösen Lebens, als einer in sich selbstständigen
absoluten Sphäre des Geistes, zu gelangen.
Die Schrift zerfällt in fünf Abschnitte. Der erste untersucht
„die Stellung der Philosophie im Gesammtleben des Geistes,^ wobei
das Verhältniss der Philosophie zur Religion vorläufig und im All-
Semeinen bezeichnet wird. Der zweite und dritte, „Stellung der
eligion im Gesammtleben des Geistes^ und „das Prinzip des Chri-
stenthums^ bilden den Kern der Abhandlung, ihnen wird desshalb
unsere Artzeige vorzugsweise sich zuwenden. Der vierte und
fünfte, „die Theologie^ und „die Kirche,^ bestimmen die wissen-
schaftliche Fassung und die praktische Durchfühfrung der im Vorigen
gewonnenen Resultate.
12»
4gQ Die |)lii1osophische Gesellschaft zu Berlin:
Die Philosophie wird von vorn herein bestimmt als die Be-
ziehung des Geistes auf sein eigenes Wesen, als die Thatigkeit
des Geistes in ihrer Reflexion auf sich selbst: eine Bestimmung,
welche natürlich nicht im subjectiv- idealistischen Sinne zu nehmen
ist, sondern im speculativen , insofern nämlich das Ich als denken-
des in dem Besonderen der Erscheinung das Allgemeine erfasst
und so als die Identität der subjecliven und objectiven Allgemein-
heit, als concrete Vernunft, als wirkliche Intelligenz in aller Er-
kenntniss, mit sich seihst zusammengeht. Der Verfasser gelangt zu
dem Resultate nicht auf dem Wege der gewöhnlichen phänomeno-
logischen Dialektik, sondern durch eine höchst einfache Reflexion
aus dem alten Satze, dass Gleiches überhaupt nur für Gleiches sein
könne: in der Philosophie denkt der Mensch, für ihn sind ateo
auch nur die Gedanken seiner Objecte, das Ich kann sich als All-
gemeines auch nur zum Allgemeinen verhalten. So klar und ein-
fach diese Bestimmung erscheint, so muss sie doch, um den Idea-
lismus des philosophischen Denkens, gegenüber der neuerdings ver-
kündigten, sensualistischen „Philosophie der Zukunft,^ aufrecht zu
erhalten, immer aufs neue hervorgehoben werden; vollstilndig be-
gründet und bewiesen wird sie freilich erst im ganzen System der
Philosophie und wie überhaupt der Anfang erst am Ende sich als
absolute Berechtigung bewährt, so lässt sich auch der Prozess des
Erkennens zuletzt erst aus der absoluten Veriniltelung der Idee
begreifen. Diess zeigt sich sogleich an der weiteren Bestimmung,
welche der Verfasser jener scheinbar einfachen Definition gibt.
Das Object der philosophischen Thatigkeit ist das Allgemeine. „Diess
ist näher wieder das Allgemeine des menschlichen Wesens, das
menschliche Wesen als allgemeines; also, da diess ebenfalls die
Bestimmung des Subjects ist , verhält sich dieses m der philosophi-
schen Thatigkeit mit Bewusstsein zu sich selbst: alle Philosophie
ist Selbstbewusstsein des Geistes in seinem allgemeinen Wesen.
* Das Allgemeine des Geistes aber umfasst das Allgemeine, den Ge-
danken, das Innere, Ideelle der gesammten Welt, die überhaupt
für den Menschen ist; denn ohne diess wäre sie gar nicht für ihn
und könnte nicht für ihn sein und es nie werden.^ Jedenfalls war
auf diesen inhaltsvollen Satz, welcher auch für das philosophische
Begreifen des religiösen Prozesses von der höchsten Bedeutung ist,
hier aber wie aus der Pistole geschossen erscheint, wenigstens mit
einigen erklärenden Worten eijizugehen. Es war darauf hinzu-
weisen, wie vermöge der objectiven Dialektik der Wirklichkeit alle
allgemeine Bestimmungen, alle Prinzipien, welche in der Natur in
besonderen Gestalten vereinzelt ausgeprägt auftreten und eben dess-
halb durch ihren immanenten Widerspruch über sich hinausweisen,
im Geiste concentrirt sind und erst durch ihre harmonische Ver-
knüpfung die Form der absoluten Allgemeinheit, das Ich, möglich
machen; wie also im Geiste die gesammte Wirklichkeit in allen
ihren Momenten sich reflectirt und das Ich so in seiner umfassen-
den Totalität über allen Schranken des gegenständlichen Daseins
steht, weil diese in ihm umfasst sind; wie ebendesshalb in der
Biedcrinonn, die freie Theologie, von Holber^. ^Qj[
Erkenntniss der Wirklichkeit kein Object als allgemeines in die
Yermittelung des Selbstbewusstseins eintreten kann» was nicht als
an sich seiendes Moment in ihm enthalten ist, alles Erkennen also
nur ein Heraussetzen des immanenten Inhalts, nur Beziehung auf
das eigene — menschliche — Wesen ist und das Selbstbewusst-
sein in aller scheinbaren Verendlichung durch die Aufnahme des
gegenständlichen Inhaltes nur immer tiefer in sein eigenes Wesen
hinabsteigt. Allein auch bei der Betrachtung dieser Dialektik des
Selbstbewusstseins wird man schliesslich wieder auf den Begriff
der absoluten Yermittelung gefiihrt, welche wie das Prinzip so auch
concreto Totalität ist. Denn jene inhaltsvolle Synthesis des Selbst-
bewusstseins, welche hier als Ausgangspunkt der Philosophie auf-
gestellt wird, kann nicht unmittelbar selbst als Prinzip aufgenom-
men werden, da sie ja selbst, wie die Momente, welche sie in
sich vereinigen soll, ein empirisch Erscheinendes, wenn auch un-
mittelbar Gewisses, Unbez weifelbares iis|t; sondern sie muss aus einem
absoluten, alle Erscheinung, also auch die Synthesis des Selbstbe-
wusstseins setzenden^ Prinzipe hergeleitet werden, in welchem
diese Beziehung zur gegenständlichen Wirklichkeit an sich schon
gegründet und präformirt ist, aus der allgemeinen Identität der
subjectiven und objectiven Sphäre. Von diesem Ausgangspunkte
des absoluten Selbstbewusstseins bestimmt sich nun leicht im All-
gemeinen das Verhalten der Philosophie zu den übrigen Lebens-
gebieten. Alle gehören ihr an; aber nicht in dem Sinne, dass sie
in ihrer Selbstständigkeit angegriffen und in Philosophie aufgelöst
würden, sondern allein in dem Sinne, dass alle von der Philosophie
begriffen, d. h. in's Element des Gedankens erhoben werden können.
Was aber das theoretische Bewusstsein selbst betrifft, so ist auch
hier die Philosophie nicht in dem Sinne absolut, dass alle andt^ren
mit ihr auf gleichem Boden stehende Formen abstract und äusser-
lich in's Denken aufgehoben würden, vielmehr behalten alle als
nothwendige Stadien im steten Kreislauf des Bewusstseins ihre
selbstständige Stelle, aber alle sind In der Entwickelung des Gei-
stes Vorstufen der Philosophie und können weder ihrer Form,
noch ihrem Inhalte nach für das denkende Begreifen eine Schranke
bilden. Es fragt sich demnach in Bezug auf das Verhält niss der
Philosophie zur Religion: ist die letztere im Gesammtleben des
Geistes ein selbstständiges Gebiet mit specifischem , gegen alle an-
dere sie abgrenzenden Charakter, oder steht sie als Gestalt des
theoretischen Bewusstseins auf gleichem Boden mit der Philosophie?
„Religion — heisst es im Anfange des zweiten Abschnitts,
welcher jene Frage zu beantworten sucht — ist das geistige Ver-
hältniss, in das sich das endliche Subject zu einem Anderen als
zu einem Unendlichen setzt, ^welches es das Göttliche nennt.'' —
Schon an dieser zwar noch durchaus abstracten, aber doch allge-
mein zugestandenen Bestimmung treten die Momente hervor, durch
deren nähere Betrachtung sich der Begriff der Religion bestimmter
und concreter gestaltet. Das erste Sfoment, das wir kurz das
metaphysische nennen wollen, geht dadurch hervor, dass der In-
fg2 ^^^ l^hilofophifche Geielltchaft xu BerUn:
halt, das Unendliche, zum Begriffe selbst geschlagen wird, indem
die Trennung von Form und Inhalt auf geistigem Gebiete unzu*
lässig ist. Das zweite Moment, das psychologische, enthält die
Bestimmtheit des menschlichen Selbstbewusstseins, welche soeben
nur ganz allgemein als „Verhältniss zum Unendlichen^ ausgesprochen
ist. Beide Seiten sind, wie gesagt, Momente von einander, so dass
sie sich gegenseitig fordern und ergänzen und erst in ihrer Iden-
tität zum concreten Begriife der Religion zusammengehen, so dass
also in jedem das andere schon an srch mitgesetzt ist. Das meta-
physische Moment hat die Bedeutung, dass die Beziehung des Sub-
jccts zum Absoluten als durch das Absolute selbst vermittelt zu
denken ist, was man gewöhnlich als Offenbarung bezeichnet. Wir
wollen diese Vermiltelung in ihrem Verlaufe mit wenigen Worten
anzudeuten versuchen, wobei wir die Erkenntniss der metaphysi-
schen Idee und ihrer Dialektik im Allgemeinen voraussetzen. Die
absolute Ideaiitäi bildet nämlich, indem sie in der Fülle ihrer Mo-
mente mit der gegebenen Naturbasis zur substantiellen Einheit zu-
sammengeht, den göttlichen Lebensgrund, die idelle Substanz, die
unendliche Anlage des menschlichen Subjects: ein Gedanke, wel-
cher in allen Religionen, in der Lehre von dem, dem Menschen einge-
schaffenen göttlichen Ebenbilde auftritt. Aber beide Seiten, das
göttliche und natürliche Element, liegen nicht äusserlich neben
einander, sondern wie sie auf höheren Stufen der Entwickelung
die eine, volle, concreto Persönlichkeit bilden, so sind sie auf der
Anfangsstufe der menschliehen Existenz nur in der Form der In-
differenz, in unmittelbarer, substantieller Einheit da, so dass das
ebenbildliche Moment nur als Potenz in dem natürlichen enthalten
ist. Aber diese Form der Unmittelbarkeit und blossen Möglichkeit
des göttlichen Elements im Menschen ist nothwendig, damit es*
nicht bloss beim Sein des Absoluten im Menschen — einem unauf-
gelösten Widerspruche — bleibe, sondern zum wirklichen Wissen
des Absoluten, also zum religiösen Verhältnisse kommen könne.
Der Geist wäre nicht wissend und wollend, wenn er nicht sich
selbst dazu erhöbe, also zuerst in der Form der Unmittelbarkeit
erschiene. In der Entwickelung aber setzt er sich wirklich als
die Duplicität, welche in substantieller Weise ursprünglich in ihm
präformirt . ist. So erhebt sich der Geist aus der substantiellen Ein-
heit mit dem Absoluten zum wirklichen Wissen desselben, die
Offenbarung des Absoluten entzündet das Wissen von ihr, und
erst damit wird der ursprüngliche göttliche Lebensgrund zur wirk-
lichen Manifestation, wobei das Selbstbewusstsein als dialektisches
Moment gesetzt ist. Es ist also die absolute Idealität selbst, wel-
che im Wissen des endlichen Geistes auf allen Stufen der reli-
giösen Entwickehmg ihre Energie offenbart; sie ist als die inuna-
nente, das religiöse Verhältniss. setzende und tragende Macht zu
begreifen, und nur die verständige Betrachtung hält die schöpfe-
rische That des Absoluten und die menschliche Vermittelung ab-
stract auseinander, während doch in Wahrheit die Offenbarung des
Absoluten und die freie subjective Bethäligung der göttlichen AU-
Biedenmuin^ die freie Theelogie, von Molberg j[g3
genieinbeit im Menschen sich gegtetiseitig fordern, Form und Itihall
der Offieiriiarung sich also i^lechthin einsprechen müssen. —
Werfen wir von hier ans einen Bück auf die vorliegende ünter-
sochnng des Herrn Yerfdssers, so ftllU sogleich auf, dess Herr B.
jenes metaphysische Moment gar nicht, nicht einmal als ein vor-
auszusetzendes erwähnt und sich nur auf das eweite, das psycho-
logische, den Prozess des religiösen Selbstbewusstseins einlässt,
welcher doch nach unsei^er obigen Bemerkung von dem Prozessö
des Absoluten losgelöst gar nicht zu begreifen ist. Sein Verhält-
AKis zu Peuerbach^ dessen^ Einseitigkeit eben in der abstracten
Fixirung der Dialektik des Selbstbewussts uns besteht, bleibt dess-
halb beim ersten Anblick durchaus unbestimmt, ja Mehrere-, die
Rieht genauer zusahen ^ versicherten, das ganze Buch stehe prin-'
zipteli auf Feuerbach'S' Standpunkt Wir theilen die Stelle^ auf
welche es hier ankommt, vollständig mit. „Hat nun aber der
Denkende in der Philosophie, erkannt, dass an den Geist durchaus
Niohts herankommen, in irgend einer Beziehung in Yerbältniss zh
ihm treten, überhaupt für ihn sein kann, das nicht auch von seiner
eigenen Allgemeinheit «umspannt wird und so selbst zum mensch-'
Kdien Wesen gehört: so wird er auch von vom herein sagen
müssen, dass auch das andere Glied des religiösen Verhältnisses,
das Göttliche, zu dem der Mensch in der Religion sich in Beziehung
setzt, Nichts sei, das über des Menschen allgemeines Wesen hin-
ausliege. Vielmehr liegt das Resultat nahe, dass das Göttliche,
wenn es dem endlichen Menschen gegenüber bestimmt werde als
das Ewige^ Unendliche, an dem es wie den Grund, so auch das
Ziel seines Daseins habe, gerade das allgemeine, sdiöpTerische
Wesen des Menschen (und — nach dem Frühren (?) — damit
auch der ganzen Welt, die für den Menschen ist), im Gegensat/s
tm Summe der einzebien Menschen so gut wie zu jedem Einzelnen
seihst, sei. In diesem Sinne ist allerdings die Theotogie Anthropo-
logie. Wenn man von> diesem Fund bei Feuerbach, der ihn als
ein Ei des Coluinbus aufstellte, so viel Aufhehens machte, so
konnte das nicht sowohl dem Kern der Sache gelten, denn damit
konnte es in der neueren Speculalion* seit Kant vernünftiger, conse-
quenler Weise gar nicht anders werden, als vielmehr der Art und
Weise, wie Feuerbach es angriff u. s. w.*' Hier muss man aller-
dings in Zweifel sein, ob diess eine vollständige oder nur die
Anerkennung des wahren, aber einseitig fixirten und darum wieder
unwahr gewordenen, Moments in Feuerfoach sei, dass nämlich der
menschliche Geist, nach seiner Totalität gefasst, alle Momente der
absoluten Idealität in sich concentrirt und so die wahrhaft negirte
Endlichkeit ist, womit allerdings, wie Herr B. amieutet, der Fort-
gang vom subjectiven zum absoluten Idealismus ausgesprochen ist;
dieses Moment wird^aber, für sich festgehalten, unbegreiflich und
unwahr. Das religiöse Selbstbewusstsein hat nämlich allerdings die
Dialektik des Selbstbewusstseins überhaupt zur Voraussetzung:
Nichts kann gewusst werden und in die innere Vermittelung de:^
Selbstbewusstseins eingehen, was nicht an sich dem Wesen des
184 ^« yhilofQpliMGhie GefeNfciuA zu Berlui:
Geistes immaQent isl: eine Bestimmuog, wdche, wie wir schon
oben sahen, nicht im Sinne des sobjectiven Idealismus za ver*
stehen ist, sondern daraus, dass die Vernunft selbst die Identität
des Subjectiyen und Objectiven ist und zwar näher so, dass die
Prinzipien, welche in der objectiven Welt auseinanderfallen, im
Selbstbewusstsein ideell vereinigt sind. Die Philosophie hat dem-
nach allerdings das Recht, audi die Sphäre des Ewigen, wie sie
die Vorstellung einseitig objectiv auffasst, in die Bewc^ng des
religiösen Selbstbewusstseins hineinzuziehen, das Nebeneinander
beider und ihr Verhältniss der Relation zur wirklichen Identität
aufzuheben d. h. beide als Faktoren desselben Prozesses zu fassen.
Also auch das Moment des Ewigen in der Religion ist nur schein-
bar unabhängig vom Selbstbewusstsein, in der That aber von dem-
selben selbst gesetzt und erst dadurch für dasselbe; das Absolute,
von dem das Selbstbewusstsein sich selbst als ein empirisches, er-
scheinendes unterscheidet,, umfasst das wahrhaft Allgemeine des
Menschen, den gediegenen Inhalt und die Idee seines Wissens und
W^ollens. Das Vorstellen des Absoluten ist das Erfassen cheser
wesentlichen, inhaltsvollen Allgemeinheit des Selbstbewusstseins,
das Insichgehen des Geistes aus der Unmittelbarkeit und Aeusserlichk^t
seiner Erscheinung; die letztere ist damit als ein Secundäres, Un-
wahres, Ungöttliches, jener wesentlichen Allgemeinheit, als der
ewigen, an und für sich seienden gegenüber gestellt. Somit hat
also die Bemerkung, in seinen Göttern male sich der Mensch, und
die Vorstellung des Absoluten entspreche überall der Bestimmtheit
des menschlichen Geistes, seinem VerhäUnisse zur Naturbasis und
der Ent'wickelung der sittlichen Idee, seine vollkommene Richtigkeit.
Dennoch aber wird dieses psychologische Moment durchaus unwahr
und führt gerade Wegs zur Negation der Religion, wenn es ab-
stract fixirt und als die ganze Wahrheit festgehalten wird. Wird
nämlich der religiöse Prozess allein und ausschliesslich auf die
Identität des menschlichen Selbstbewusstseins zurückgeführt und
dabei stehen geblieben, so übersieht man, dass die Dialektik des
Selbstbewusstseins nur begriffen werden kann aus dem Prozesse
der absoluten Intelligenz, dass allerdings vom Subjßcte Nichts reli-
giös objectivirt werden kann, was nicht an sich in ihm ist, aber
ebenso Nichts im Subjecte sein kann , was nicht erst aus der Fülle
der absoluten Idealität und durch die Vermittelung derselben in
ihm gesetzt und ihm durch die schöpferische und erhaltende Thälig-
keit des Absoluten, als ursprüngliche Mitgift verliehen ist. Feuer-
bach wird eben dadurch , dass er dieses letztere Moment weglässt,
oberflächlich und unphilosophisch. Wenn nun die Speculation beide
Momente zu vereinigen weiss, so ist für sie auch die Vorstellung
des an und für sich seienden Absoluten keineswegs eine Illusion,
da in Wahrheit das ewige allgemeine Wesen des Geistes nur in
Einheit mit seinem absoluten Grunde und als aufgeschlossene Offen-
barang desselben begriffen werden kann. Herr B. lässt aber jeden-
falls das metaphysische Moment zu sehr zurücktreten, wenn gleich
wir keineswegs behaupten, dass er es üba'haopt aufheben wcdte;
• Biedermann, ^ freie Theologie, ron Holberg. |g5
wie er ja auch selbst die fundamentaie Differenz Feuerbachs von
Hegel im Folgenden angedeutet hat. Es ziehe sich, sagteer, durch
Feuerbach's Auffassung der Religion ein doppelter Grundfehler.
Eiiunal spanne Feuerbach den Gegensatz gegen die vorstellungs-
massige Fassung und Hypostasirung des ,5ewigen ideellen schöpfen*
sehen Sein's^ so weit, dass er in der Religion die endliche Sub-
jectivität zum Primitiven, Wesentlichen und das Göttliche nur zu
einem Produkte derselben mache. Allerdings. Und zwar hebt
Feuerbach jenes ideelle Moment nicht nur bei der Betrachtung der
Religion auf, indem er sie aus endlichen Bedürfnissen deducirt und
„pathologisch^ behandelt, sondern er hebt es im Prinzipe seiner
Philosophie auf^ indem er an die Stelle des schöpferischen Abso-
luten die Unendlichkeit der menschlichen Gattung setzt und über
diese hinauszugehen, ausdrücklich für Illusion erklärt. Wie freilich
der Einzelne, welcher als solcher äusserlich bedingt ist, doch zu-
gleich unendlich allgemein sein könne, wie diese Unendlichkeit der
Gattung, welche doch die Bedingung ihrer Existenz sich nicht
selbst gibt, sondern auf einer gegebenen Basis sich erhebt und
stets mit der Einzelnheit, Endlichkeit behaftet ist, begriffen wer«-
den könne, ohne auf die sie setzende Idealität zurückzugehen,
bleibt unerklärlich; erklärlich aber ist es, wie aus diesem Prinzip
einer nur gemeinten, subjectiven, sich selbst verlierenden Unend-
lichkeit jene neueste sensualistische Philosophie der „gebildeten
EmpGndung^ hervorgehen musste. Der zweite Grundfehler Feuer-
bach's ist nach Herr B. der, dass, so sehr er die Religion ein
praktisches Verhalten des Gemüths nennt, er sie dennoch immer
und immer wieder unrichtig theoretisch auffasst. Hiermit sind wir
bei dem Kerne der vorliegenden Abhandlung angelangt, bei der
näheren Untersuchung des psychologischen Moments im Begriffe
der Religion, bei der Frage nach dem specifischen Charakter des
religiösen Selbstbewusstseins und seiner inneren Bewegung. Wir
wollen es versuchen, die wesentlichen Ergebnisse dieser Unter-
suchung in seiner Weise zu reproduciren.
In der theoretischen Thätigkeit verhält sich das Ich als reine
Allgemeinheit losgelöst von allem unmittelbaren Inhalt uud setzt
als solche jedes Object, auf das es sich bezieht, als Allgemeines
in sich hinein; der Geist weiss also in der wirklichen concreten
Erkenntniss Alles, also auch das Absolute — denn von dem Ver-
hältniss zu diesem ist hier die Rede — als mit ihm in vermittelter
Identität stehend, er ist in dem Wissen des Absoluten bei sich selbst.
Doch wäre auch hier die Vernichtung des Unterschiedes, d. h. die
Aufhebung der reinen ii) sich allgemeinen Idealität, als eines für
sich zu denkenden Moments nicht weniger, als der sogenannte
philosophische Theismus, abstracto Verstandesansicht und Verkennung
der speculativen Dialektik, welche die Einheit zweier Momente nur
auf der Basis ihres realen Unterschiedes zu Stande bringt. Anders
ist das Verhalten des religiösen Selbstbewusstseins. Hier ist es
nicht die reine Allgemeinheit, das im Unterschiede von seiner gan-
zen concreten Fülle sich selbst erfassende Ich, sondern das irgend-
j^Öß ^^ phtlotophiichd Geielkdi«!! ztt Berlin:
wieeifäUte, dasconcret ^esialtele, erscheinendeich, das rait seinem
besonderen Inhalte . onmittelbar zusammengeschlossene Selbstbe-*
wusstsein, das ,, unmittelbare Selbstbewusstsein ,^ weiches sieh zur
göttlichen Allgemeinheit verhält. Unter dem ,,unmttte)baren Selbst-*
bewusstsein^ verstehen wir nicht etwa bloss den zufällig bestimnrir*
ten, individuellen Gemüthszuständ, sondern die mit der Substanz
des objectiven Lebens getränkte und erfüllte, concreto Lebensge-
stalt des Ich, welche in stufenmässige/ Ent Wickelung erwachst und
also bei den einzelnen, auf dersc^lben Stufe der Bildung stehenden
Individuen im Wesentlichen identisch ist. Diese den einzelnen In^
dividuen gemeinsame Basis ist dann durch die besondere, persön-
liche Anlage und Entwickelung, durch die individuelle äussere und
innere Erfahrung, durch die unmittelbare Gefühlsbestimmtheit wie-
der mannigfach -^individuell gefärbt: aus diesen beiden Seilen er-
wächst das unmittelbare Selbstbewusstsein , so dass einmal vori
allgemeinen Stufen des religiösen Bewusstseins und innerhalb dieser
wieder von unendlich verschiedenen individuellen Formen desselben
die Rede sein kann. Darin aber , dass das unmittelbare Selbstbe^
wusstsein, allgemein betrachtet, seiner Substanz nach alle Sphären
und Thätigkeiten des wirklich menschlichen Lebens in sich um«^
fasst, da es aus dem Reflex derselben in's Subjeet erwachsen ist^
liegt zugleich der absolute, d. h, alle Gebiete des Lebens gleich**
massig berührende und auf das Göttliche beziehende Charakter der
Religion. Es wäre zu wünschen gewesen, dass H. B. über die
Bedeutung des unmittelbaren Solbstbewusstseins, das doch auch in
seiner Untersuchung eine so grosse Rolle spielt, sich aiisführlich
erklärt und sodann auch die Genesis der Religion in demselben
nachgewiesen hätte. Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist also
das, was man wohl auch Gemüth nennt, wenn man darunter nicht
das bloss Partikulare versteht, sondern die ungetheilte Totalilät
des subjectiv- geistigen Lebens, die Verschlingung aller inneren
Lebensmächte; auf dieser Basis erhebt sich das religiöse Yerhältniss
und ist dadurch wesentlich bestimmt: Religion ist das unmittelbare
Bestimratwerden des Gemüths, des persönlichen Lebens durch das
Göttliche, „die Reflexion des Bewusstseins vom Absoluten in's un-
mittelbare Selbstbewusstsein, oder — die gleiche Bewegung vom
anderen Ende aus gesehen die Reflexion des unmittelbaren
Selbstbewusstseins in das Bewusstsein vom Absoluten, kurz: prakti-
sches Selbstbewusstsein des Absoluten.^ Und zwar liegt diese
Bewegung im Wesen des unmittelbaren Selbstbewusstseins selbst
begründet. Denn in demselben ist ja die subjective Allgemeinheil
des Ich an sich mitgesetzt, als die den concreten Inhalt zur ein-
heitlichen Gestalt zusammenschliessende Macht, und eben desshaU>
ist es ihm unmöglich, bei sich selbst* stehen zu bleiben und sich
in sich zu befriedigen , sondern kraft seiner subjectiven Allgemein-
heit fühlt es sich zuj/leich als erscheinendes, beschränktes, end-
liches und hat desshalb den unverwüstlichen Trieb und vermag es
auch, zur absoluten Allgemeinheit hinauszugehen und mit ihr in
Beziehung zu treten: aber eben weil es andererseits nicht reine
Biedermann, die freie Theologie, von Holberg. f^^
Allgemeinheit, nicht reines denkendes Ich, sondern erscheinendes,
mit seinem unmittelbaren Inhalt unzertrennlich verwachsenes ist,
kann seine Beziehung zur göttlichen Allgemeinheit, zum Absoluten
nicht die im Unterschiede Ideell und widerstandslos sich ver-«
mittelnde Identität sein — wie diess beim denkenden Ich in der
rein theoretischen Beziehung der Fall ist — sondern sich allein ia
der Form der Relation, des Verhältnisses und zwar des prakti-
schen Verhältnisses darstellen. Denn „praktisch heisst Alles, was
eine unmittelbare Beziehung aufs Einzelne, Concrete hat, theore-
tisch, was auf das Allgemeine als solches geht." Oder, um für
„praktisch" die treffende Bezeichnung Zeller's zu gebrauchen, die
Religion ist ein pathologisches Verhällniss; denn pathologisch heisst
die Thätigkeit des Geistes, welche in der Beziehung auf das persön-
liche Leben ihr Motiv und Ziel hat, wie Freundschaft, Lie^e u. s. w.
Pas unmittelbare Selbstbewusstsein vollzieht also, indem es sich
zum Göttlichen verhält, damit ein Urtheil an sich selbst, fasst das
Göttliche nur in lebendig wirksamer Beziehung «^auf seine eigene
unmittelbare Gestaltung, kennt das Absolute nur, indem es an ihm
seine eigene Verneinung oder Bejahung hat, besitzt es nur, indem
es sich selbst an ihm niisst, hat es sich nur gegenüber dadurch,
dass es sich stetig in dasselbe reflectirt; beide Seiten, das End-
liche und Unendliche, sind nur dadurch verschieden, dass sie zu-
gleich praktisch für einander sind , kurz: Religion ist persönliche
Erfahrung des Göttlichen. Es enthält also die Religion nach
dieser Bestimmung ein theoretisches Moment, denn sie ist nicht
ein ruhender Zustand, unmittelbare Gefühlsbestimmtheit, Passivität,
sondern Prozess, Vermiltelung von Gegensätzen, und zur Ent-
gegensetzung gehört eben die Thätigkeit des Bewusstseins; allein
die Stellung dieses theoretischen Moments im religiösen Prozesse
möchten wir anders bestimmen als Herr Biederman. Ihm ist Reli-
gion „ein praktisches Verhallen mit theoretischer Voraus-
setzung." Damit ist ausgesprochen, dass das Bewusstsein vom
Absoluten allein und für sich genommen, zwar keine religiöse Be-
deutung habe, sondern erst durch seine Reflexion in's Innere Mo-
ment des religiösen Prozesses werde, wohl aber in seiner Beson-
derheit dem letzteren vorausgehen und zuvor als ein fiir sich be-
stehendes von der theorelischtm Thätigkeit des Geistes producirt
werden müsse, um dann erst in*s unnuttelbare Selbstbewusstsein
reflectirt werden zu können. Das theoretische Moment wird so-
nach vom religiösen Selbstbewusstsein nicht producirt, sondern
nur aufgenommen. Wir glauben, dass dieses Nacheinander zweier
Akte, einmal das theoretische Setzen des Absoluten und dann die
Reflexion dieser fheorie in's Subject, vielmehr als ein Ineinander
2u fassen sei, so dass das unmittelbare Selbstbewusstsein, indem
es das Bewusstsein des Absoluten producirt — und es vermag
diess, weil es das Ich, die Alliicmeinheit zu seinem Hintergrunde
hat — eben darin zugleich jene Reflexion desselben in sich voll-
zieht; beides ist zugleich und mit einem Schlage da. In und mit
dem Setzen des Absoluten schlägt dieses zugleich energisch in's
|gg , Die philosophisch^ Gesellschnft zu Bi^rliii:
Selbstbewusstsein ein. Nach unserer obigen Expasition fordert
diess das Verhältniss beider Glieder mit Nothwendigkeit. Denn
das unmittelbare Selbstbewusstsein setzt, eben weil es ein end--
Iiches und unmittelbares ist, das Absolute gar nicht rein und ob-
jectiv theoretisch, sondern immer zugleich praktisch d. h. als ein
solches, auf welches es, indem und sofern es gesetzt ist, zugleich
negativ oder positiv bezogen ist. Ebenso wie in der Horal das
Gute in seiner wesentlichen Allgemeinheit nicht zuerst erkannt und
dann erst vom Subjecte realisirt wird, sondern beide, die concrete
Erkenntniss und die praktische Realisation zugleich und ineinander
sind und sich gegenseitig bedingend in innerer Dialektik erwachsen,
so hat auch in der Religion jede Seite die andere an sich selbst.
Dass freilich, empirisch betrachtet, die Vorstellung des Absoluten,
wie sie vom inneren religiösen Prozesse losgelöst und selbstständig
objectivirt ist, immer zuerst dem Subject überliefert wird, noch
ehe dasselbe die Religion wkklich in sich erfährt, soll damit nicht
geleugnet werden;, doch muss der wahrhaft und lebendig religiöse
Mensch das Gottesbewusstsein in der inneren praktischen Vermit-
telu^g sich selbst erst als seine eigenste That von neuem erzeugen.
Dass darum aber nicht jeder Mensch seine besondere Privatreligion
habe, ist schon oben bei der Bestimmung des unmittelbaren Selbst'- .
bewusstseins angedeutet. — Ist nun die Religion ihrem allgemeinen
Begriffe nach Jas innerlich -praktische Verhältniss des concreten
Subjects zum Absoluten, so wird das religiöse Leben überall in
zwei Hanptstadien verlaufen, welche wir im Allgemeinen, ohne
näher darauf einzugehen, als Gegensatz und Efnheit, Zwiespalt und
Versöhnung bezeichnen können — ein indifferentes Nebeneinander
beider Seiten ist undenkbar — so^ dass im Gegensatz die Einheit
präformirt und in der letzteren der erstere, als aufgehobener —
als Unterschied — bewahrt ist» Diese allgemeinen Bestimmungen
werden in jeder einzelnen Religion in einer speciüschen Gestalt
und Färbung auftreten , und eben die Bestimmtheit der prakti-
schen Vermittelung bildet das Prinzip dej bestimmten Reli-
gion.
Nach dieser Auffassung erscheint die Selbstständigkeit des reli-
giösen Gebiets in dem Gesammtleben des Geistes und insbesondere
gegenüber der Philosophie hinlänglich gesichert. Das Denken ist
eine unpersönliche Funktion, farblos, objectiv; als Denkender bin
ich nicht dieser Einzelne, sondern allgemeines Subject. Die Reli-
gion dagegen hat Interesse , wenn auch kein endliches; sie will den
ganzen concreten Menschen, umfasst alle Fülle und Tiefe der Per-
sönlichkeit. Gegenüber der ewig sich gleichen, lust- und leidlosen
Ruhe der Theorie ist sie das Innige, Belebte, Wechselvolle; sie
hat Furcht und Liebe, Kampf und Frieden, Vernichtung und Selig-
keit. Und in diesem Sinne kann man sagen, dass der Glaube höher
ist, als alle Vernunft.
Demnach bietet die Religion in ihrer Erscheinung eine Seite
dar, durch welche diese ihre Selbstständigkeit wieder gefährdet
und eine CoUision mit der Philosophie unvermeidlich scheint. Jede
BiederniHnn, die freie Theologie von Holberg. |g9
Religion besitzt nämlich einen Kreis eiffenthümlicher Vorstellungen,
deren Bedeutung wir jetzt näher in's Äuge zu fassen haben. . Vor
allen Dingen werden wir schon nach dem Vorigen behaupten müs-
sen, dass gegenüber dem inneren praktisch -religiösen Prozesse
die Vorstellung ein Secundäres ist, welches erst in jenem seinen
Ursprung hat. Zwar fanden wir ein theoretisches Moment schon
in der praktisch -religiösen Erfahrung selbst; aber dieses wurde in
der Totalität der letzteren noch als Flüchtiges getragen, in der
Vorstellung dagegen wird dasselbe und die ganze innere Dialektik,
in welcher es auftritt , dem Geiste gegenständlich. Indem nämlich
in den besonderen religiösen Zuständen und Erfahrungen d^s Ge-'
müth selbst als das eine, mit sich idenlische sich erhält, so löst
es sich damit von seinem eigenen religiösen Inhalte los und hat
den Trieb, seine innere Erfahrung objectiv anzuschauen und in
einer Reihe von Vorstellungen sich gegenüber zu stellen. Ferner
aber war ja in der praktisch -religiösen Vermittelung selbst auch
der Unterschied des Subjects vom Absoluten schon gegeben, und
es ist somit ein noth wendiger Fortgang, denselben von der inne-
ren Praxis, in welcher er sich innerhalb der religiösen Erfahrung
bethätigte, loszulösen und als solchen, als objectiven zu setzen.
Dass sich sodann, wenn die Vorstellung einmal objectivirt ist, die
verständige Consequenz und Reflexion einmischen und sie weiter
gestalten, auch wohl speculative Elemente hinzukommen, leugnen
wir nicht; doch ist darin nicht der Ursprung der religiösen Vor-
stellung zu suchen. Wie dieses vielmehr in der inneren religiösen
Vermittelung selbst liegt, so erklärt sich daraus zugleich, wie es
gerade die Vorstellung und allein diese ist, in welcher der reli-
giöse Gehalt erscheint; denn es ist ja nicht das denkende Ich,
sondern ebenfalls das Gemüth, welches, hier nach aussen hin, sich
thätig erweist. Hat nun die Vorstellung hier ihre Genesis, ist sie
nur der Niederschlag des religiösen Prozesses, der objective Wi-
derschein desselben im Bewusstsein, so wird auch danach der
Standpunkt ihrer Beurtheilung zu nehmen sein. Die Vorstellung
ist allerdings Theorie, aber eine solche, die wesentlich mit ihrem
Ausgangspunkte, dem religiösen Interesse, behaftet ist, nicht die
freie, absolute des denkenden Geistes, sondern durch xlasGemüths-
leben, von dem sie ausgeht, gebunden und bestimmt; nur dieses
will sie zur Anschauung bringen. Von ihrer Wurzel losgerissen,
kann also die religiöse Vorstellung gar nicht verstanden werden;
isolirt und als rein theoretische Bestimmmung betrachtet, muss sie
noth wendig als inadäquat und einseitig erscheinen, kann sie un-
möglich nach ihrem Rechte beurtheilt werden. Eben daraus erklärt
es sich, dass die religiöse Vorstellung den Inhalt des Absoluten,
nicht nach seiner Totalität, wie die Philosophie, sondern nur nach
den Momenten erfasst, nach welchen dasselbe in praktischer Be-
ziehung zum Selbstbewusstsein steht; denn das theoretische In-
teresse geht nnr so weit, als das religiöse. An den Momenten der
Lehre von derTrinität, deren Gestalt allein daraus zu erklären ist,
lässt sich diess genau nachweisen, wie schon Vatke hierbei von
^1^90 ^'^ |)hi1osaphii;rlie (leneilsr.hnft zu Berlin:
einem ähnlichen Gesichtspunkt ausgrgang^on ist, vorausgesetzt, dass
inan*das dritte Moiuenl, den lieiiigen Geist, nicht in der abstract-
verständigen Regulirungf der Kirchenlehre, sondern in seiner bib-
lischen Fassung- als das versöhnte, einheitliche Selbstbewusstsein
der Gemeinde nimmt. Und dieser innere Zusammenhang zwischen
der inneren praktisch -religiösen Vermittelung und der Vorstellung
wird auch von dieser selbst fortwährend thatsächlich gesetzt. Der
Vorstellung wird fortwährend ihre Objectivität wieder genommen,
sie wird in's Innere, aus dem sie zuerst entspningen, wieder hin-
eingezogen, übt eine Wirkung aufs Selbstbewusstsein und wird
erst dadurch im eigentlichen Sinne religiöse Vorstellung. —
Trotz dieses ursprünglichen Zusammenhangs müssen wir anderer-
seits, um das Wesen der Religion in seiner Selbstständigkeit nicht
zu verkennen und unsere früheren Bestimmungen aufzuheben , fest-
halten, dass die Vorstellung, als objective, zur wirklichen Religion,
d. h. zur praktischen Vermittelung mit dem Absoluten in einem
relativ äusserlichen Verhältnisse steht, wie wir sie denn oben schon
als ein Sccundäres bezeichnet haben. In der Vorstellung erscheint
der religiöse Inhalt nur, während er im Selbstbewusstsein, wie er
es muss, um wirklich ein religiöser zu sein, als lebendiger und
energischer sich bethätigt und darin, in diesem Erfahrenwerden,
seine ursprüngliche, wesentliche Form hat. Und zugleich liegt
darin der Grund, dass die Vorstellung als solche, wenn gleich der
naturgemässe, doch nicht der allseitig entsprechende und die ganze
Tiefe des religiösen Inhalts entfaltende Ausdruck der inneren
praktischen Vermittelung sein kann, was beim ersten Anblick ein
Widerspruch zu sein scheint. Das religiöse Selbstbewusstsein geht
nämlich in seinen höchsten Gestalten, als Liebe, Friede, Versöhnung-
u. s. w., wie sie im Christenthum sich vollenden, dazu^fort, die
beiden Seiten des religiösen Verhältnisses zur wirklichen, persön-
lichen, unmittelbar erfahrenen und erlebten Einheil zusammen-
zufassen, eine Einheit, welche die religiöse Vorstellung in ihrem
Elemente nie vorstellig machen und begreifen kann, sondern nur
das Denken, welchem beide Seiten von vorn herein als Momente
gelten. Denn gerade über den Gegensatz, dessen Aufhebung die
Religion selbst in ihrem innersten Heiligthume vollzieht, kommt
die Vorstellung ihrem Wesen nach nie hinaus. Die Religion selbst
aber ist von dieser Endlichkeit der Vorstellung wesentlich frei,
weil in ihr das theoretische Moment nicht selbstständig ist, sondern
nur in der Totalität des inneren praktischen Prozesses sich be-
thätigt; vielmehr wird darin die Einseiligkeit der Vorstellung fort-
während praktisch und gemüthlich ergänzt und aufgehoben. Vom
Dogma, in welchem wesentlich das theoretische Interesse als selbst-
ständige Reflexion über. die Vorstellung auftritt, gilt diess in noch
höherem Grade. Trotzdem z. B., dass die Kirchenlehre, um bei
dem obigen Beispiel zu bleiben, den heiligen Geist in die rein
ideelle, transscendente Sphäre hinübergeboben ha^, ist doch das
religiöse Gemüth , unmittelbar gewisi?, vom heiligen Geist erleuchtet
und durchdrungen zu sein, wenn es auch diesen praktischen Besitz
Biedermtinn , die freie Theologie, von Holberg. |9|
nicht theoretisch adäquat' zu fassen vermag. — Wir müssen also
dem Verfasser Recht geben, wenn er stets auFs Neue hervorhebt,
Religion sei nicht religiöse Vorstellung, mit der letzteren die erstere
nicht aufgehoben, die Form der Vorstellung sei nicht die dem reli*
fifiösen Inhalt immanente, von ihm unabtrennbare, w^eil dieser seine
Existenzform als bestimmtes religiöses Selbstbewusstsein für sich
selbst habe. Zugleich aber dürfen wir, um diesen Gegensatz
nicht zu w^eit zu spannen, nicht vergessen/ dass, Avenn einmal das
religiöse Selbstbewusstsein durch sich selbst, dazu fortgeht , seinen
Inhalt zu objectiviren , dieser dann noth wendig in die Form der
Vorstellung tritt, nicht bloss weil wegen der Theilung der Arbeit
die philosophische Erkenntniss nur für Wenige offen steht und so
die Vorstellung die äusserlich allgemeine Form bleibt, sondern
wegen des inneren Wesens der Religion selbst. Denn wenn auch
der Denkende an die Stelle der Vorstellung die Gedankenbestimmung
setzt und dabei dennoch die Bestimmtheil seines religiösen Lebens
sich wesentlich gleich bleibt, weil mit der Auffassung des Abso-
luten auch die Auffassung seiner selbst, des concreten Subjects,
sich entsprechend verändert (vgl. S. 67.), so geht doch diese Ver-
änderung aus philosophischem, nicht aus religiösem Interesse hervor;
hätte er nur das letztere, so würde er auch bei der Vorstellung
sich beruhigen.
Das Wesen der Philosophie ist, zu begreifen. Fragt es sich
also nach dem Vefhältniss der Philosophie zur Religion, so ist diese
Frage identisch mit der andern: welche Methode befolgt die Philo-
sophie, um zur begreifenden Erkenntniss der Religion zu gelangen?
Erst wenn diess festgestellt ist, wird sich entscheiden lassen, ob
und in welchem Sinne eine bestimmte Philosophie gegen eine
bestimmte Religion — denn die religiöse Thätigkeit überhaupt
ist nach unseren obigen Bestimmungen als eine nothwendige, von
allen anderen unterschiedene Weise der Selbstverwirklichung des
Geistes unvertilgbar — entweder positiv oder negativ sich verhalte.
Das Erste und die Bedingung alles Weiteren ist diess, dass die
Philosophie das Prinzip der Religion, also die Bestimmtheit der
inneren praktischen Beziehung des unmittelbaren Selbstbewusstseins
aufs Absolute begreife. Diese ist von der Philosophie im Elemente
des Gedankens zu erfassen, d.h. die bestimmte praktische Vermitte-
Jung der Seiten des religiösen Verhältnisses auf die entsprechende
gedankenmässige Beziehung der Momente des Geistes zurückzu-
führen. Dass damit Nichts der Religion Widersprechendes geschieht,
worüber diese sich etwa zu beklagen hätte, liegt schon darin,
dass sie selbst eine absolute, nothwendige Thätigkeit des geistigen
Lebens ist. Als solcher liegen nämlich der Religion, — wir haben
diess oben als sich von selbst verstehend vorausgesetzt — wie
alter wesentlichen Wirklichkeit der Natur und des Geistes, reine
Gedankwibestimmungen zu Grunde; diese bilden ihre ideele Sub-
stanz:, und nur dadurch sind alle ihre Gestalten der Partikularität
und Zufälligkeit entnommen, haben A%enieinheit, den Trieb der
EntWickelung und die Möglichkeit, erkannt zu werden. Aber diese
^M Die philosophische Gesellschaft zn Berlin:'
reinen Denkbestimmongen sind nicht als solche in der Gestalt des
Gedankens die Religion — in dieser ihrer rein gedankenmässigen
Fonii denkt sie vielmehr nur die Philosophie «— sondern die Reli-
gion ist diese bestimmte, von allen anderen unterschiedene Sphäre
des Geistes erst dadurch, dass die an sich abstracte Gedankenbe-
vv^^ung auf einer bestimmten Basis sich vervrirklicht, in der uns
bekannten eigenthümlichen Gestalt und Erscheinungsform auftritt.
Indem also die Philosophie den reinen Gedankengehalt des religiösen
Prinzips heraussetzt, muss sie zugleich, will sie nicht abstracter
Formalismus bleiben und nicht bloss Gedanken, sondern die Reli-
gion selbst erkennen, die wesentliche, allgemeine Form des reli-
giösen Selbstbewusstseins, so weit diese eben nicht bloss der ein-
zelnen Person als deren individuelle und für das religiöse Leben
dieser Person allerdings berechtigte Eigenthümlichkeit angehört,
als unabtrennbare, die Religion constituireude Seite begriffen. Alle
Erscheinung aber kann nur durch Vermittelung der Empirie be-
griffen werden, und somit muss der Philosoph selbst religiös sein,
will er nicht von der Religion wie ein Blinder von der Farbe
reden. Diess ist das Eine. Sodann aber richtet sich die philo-
sophische Erkenntniss auch auf die religiöse Vorstellung als der
objectiven Darstellung des religiösen Prinzips. Und zwar ist hier
das Erste, den Gehalt der bestimmten Yorstellunff als aus der
Sraktisch- religiösen Erfahrung entsprungen, also die religiöse
edeutung desselben aufzuzeigen; denn die Vorstellung will ja
nicht ein rein theoretisches Interesse, sondern ein religiöses —
dieses freilich im Elemente der Theorie — befriedigen. Von die-
ser Seite hat demnach die Forderung der modernen Theologie, dass
alles Betrachten und Begreifen der religiösen Vorstellung von den
sogenannten „unerschütterlichen Thatsacheu^ des Selbstbewusstseins
seinen Auc^ng zu nehmen und diese zu bestätigen habe, aller-
dings ihre Berechtigung, nur dürfen jene Thatsachen nicht als fixe
und unmittelbare empirisch aufgenommen, sondern müssen aus dem
Prinzipe der Religion d. h. aus der Bestimmtheit des christlichen
Gemüthslebens hergeleitet werden. Bei Strauss ist eben diess die
wesentliche Einseitigkeit, dass er weder auf das Prinzip des Chri-
sten thums zurückgehl, noch auch, was unmittelbar damit zusam-
menhängt, die Vorstellung nach ihrem religiösen Werthe auffasst;
ihm ist sie nur Produkt einer endlichen, aber rein theoretischen,
selbstständigen Thätigkeit, er behandelt sie so, als hätte er Ge-
stalten einer endlichen Philosophie vor sich und bringt ihren Her-
vorgang aus der Tiefe des Selbstbewusstseins, durch den sie wesenf-
lich bestimmt ist, nicht in Anschlag. Mit der Auffindung ihres
religiösen Werthes ist aber das Begreifen der Vorstellung noch
nicht vollendet. Es kommt zweitens auch hier darauf an, den re-
ligiösen Gehalt, weil er theoretisch ausgeprägt ist, auch gedanken-
mässig zu fassen d. h. die Bestimmungen der Vorstellung durt^h
philosophische Analyse auf die entsprechenden Gedankenbestimmungen
zurückzuführen, welche darin in theoretisch -endlicher wider-
sprechender Weise umfasst sind, wobei natürlich wiederum wie
Biedernifiiin, (lie freie Theolorgie, von Holberf. j[^^
oben beiiii Selbstbewusstsein die Erkenntniss der Form des vor«
stellenden Bewusstseins in seinem cigenthümlichen Charakter nner«
lassliche Bedingung ist. Dass eben wogen der theoretischen End-
lichkeit der Vorstellung die negative Krilik die nothwendige Kehr-
seite jenes Geschäfts ist, bedarf für den, welcher jenes in seiner
Nothwendigkeit erkannt hat, keines Worts. Nach allem dem wird
sich eine bestimmte Philosophie zu einer bestimmten Religion ^in
dem Falle positiv verhalten, wenn sie die Bestimmtheit der praKtisch-
religiösen Beziehung desSubjects zum Absoluten als die dem Wesen'
des Geistes, der im Denken erfasstcn Vermittelung seiner Momente
entsprechende s. z. s. als praktisch -speculative erkennt. Wenn
sich aber das Denken so mit dem Prinzipe einer Religion in Einheit
weiss, weil diese auf dem Boden des Gemiiths dasselbe vollzieht,
was die Philosophie im reinen Denken, so kann auch die theo-
retische Fassung der Momente, welche die Philosophie an die Stelle
der Vorstellungen setzt, Nichls dem Wesen der Religion selbst
Widersprechendes enthalten, und sie wird so wenig zerstörend auf
das religiöse Leben einwirken, dass dieses vielmehr erst dadurch
s»ehien absolut entsprechenden, durchsichtigen theoretische^ Aus-
druck gewinnt. Unser Verfasser hat kraft seiner Auffassung der
Religion auch dieses Verhältniss mit entschiedener Klarheit in*8
Reine gebracht, nur hätten wir gewünscht, dass er auf den reinen
Gedanken, auf die ideelle Bewegung, welche, wie den übrigen
Sphären des Geistes, so auch dem j)raktisch- religiösen Prozesse
zu Grunde liegt und darin das Treibende und Mächtige ist, ge-
nauere Rüchsicht genonunen hätte.
Die Frage nach dem Verhältniss der Philosophie zur christ-
lichen Religion fasst sich also in der anderen zusammen: was ist
das Prinzip des Chrislenthums? Der Verfasser weist zuerst, ge-
i^tützt auf ^eine bisherige Untersuchung, die landläufige Meinung
zurück, welche den Kern und das Wesen des christlichen Glaubens
in einem Kreise bestimmter Vorstellungen von Gott und göttlichen
Dingen sucht. Obgleich er nun , wie schon oben , den inneren
nothwendigcn Zusammenhang des religiösen Prozesses und der Vor-
stellung auch hier zu sehr zurücktreten lüsst, während doch in der
letzteren der Glaube sich selbst erscheint und also auch seinem
wesentlichen Inhalte nach in ihr mitgesetzt sein muss, so müssen
wir doch, da die Vorstellung eben nur die secundäre endliche Er-
scheinungsform der Religion ist, zugeben, dass es nicht genüge,
einige Jiomente der Vorstellung von andern als das "Bleibende*
von <Iem „Vergänglichen*' zu sondern. Besteht vielmehr das spe-
cifische Wesen der Religion i;i der praktischen Vermittelung de^
Subjects mit^dem Absoluten, so ist das wahrhaft Christliche nichts
Anderes als die Bestimmtheit dieser Vermittelung, wie. sie mit dem
historischen Auftreten des Chrislenthums in's Selbstbewusstsein trat.
Diese Bestimmtheit allein ist das Prinzip des Chrislenthums , das eine,
in allem Wechs«»! der Erscheinung mit sich identische Wesen des-
selben, die schöplVrische Macht und die Seele aller seiner concreten
Gestaltungen. Da aber kein empirisch gegenwärtiges Selbstbe-
Jahih. fiir sptculat. Philo», f 2. -JQ
19^4 ^^ phil09O|^liiMii* ^esdfiPduill e« Berlin:
wasstsein dasPrinftip in absoluter Webe in sidi Erstellt, dei ferner
die religxoße VorsieHung imioer nnr^ der einseitige und mit dem
Widerspruch behaftete Reflex desselben ist, so. kann auch das Prin-
zip nicht einfach empirisch aufgenommen, sondern durch die em-
5 irische Erscheinung hindurch in seiner Reinheit und Idealitat nur
urch das Denken, durch philosophische Analyse der concreten
religiösen Gestaltungen erkannt werden. Doch wird auch diess
noch nicht genügen; vielmehr setzt jene Analyse, will sie mit ob-
jectiver Gewissheit das Wesen aus der Erscheinung herausfinden,
etwas Anderes als ihre absolute Bedingung voi'aus. Das ist die
philosophisch -historische Untersuchung, welche , von dem BegriflTc
der Religion überhaupt ausgehend, durch Erkenntniss des immanenten
Widerspruchs der dem Christenthom historisch vorangehenden re»
ligiösen Gestaltungen, das Prinzip des Christ enthiuns, als die noth-
wendige Lösung jenes vorangehenden Widerspruchs, ia seinci*
reinen Allgemeinheit vor und abgesehen von aller empirischen
Erscheinung erfasst. Wenn überhaupt jede Gestalt der Wirklich-
keit wie des Begriffs nur dadurch in Wahrheit erkannt wird, dass
man den specifischen Gegensatz aufzeigt, welchen sie lost, dass
man sie als Aufhebung eines bisher unaufgelösten Widerspruchs
begreift, so kann diess offenbar nur so geschehen, dass man von
der Erkenntniss der begrifflich und historisch vorangehenden Er-
scheinung, ii^elche eben jenen Widerspruch als unaufgelösten, als
treibende Negativitat enthält, seinen Ausgang nimmt, kurz^ dass
man die zu begreifende Gestalt in ihrer nothwendigen historisch-
dialektischen Genesis erfasst. Nur so gewinnt man das die Er-
scheinung setzende Prinzip in seiner absoluten, von alter Erschei-
nung losgelösten Allgemeinheit. Der Verfasser scheint dieses Mo-
ment nicht in der Bedeutung anzuerkennen, welche wir ihm vin-
diciren möchten. Er drückt sich darüber S. 82. ziemlich kurz und
unbestimmt so aus: „Damit aber das mit Jesu neu aufgetretene
religiöse Verhältniss in seiner Bestimmtheit besser hervortrete,
müssen wir auch den historischen Hintergrund, aus welchem es
hervortrat, erkennen u. s. w.** Dennoch schlägf er in der That
diesen Weg ein. Der Verfasser gibt demzufolge eine Darstellung
der religiösen Vermittelung auf dem ^Standpunkte des Judenthums
und weist darin den immanenten und das Christenthum als seine
concrete Negation hervortreibenden Widerq;)ruch nach, wobei
wir nur gewünscht hätten, dass das theoretische Moment, das Be-
wusstsein vom Absoluten als abstracter Subjectivität in noch engere
Verbindung mit der Bestimmtheit der religiösen Vermittelung selbst
gesetzt wäre, da es ja erst in und mit dieser producirt wird und
die Bestimmtheit des religiösen Verhältnisses an der Bestimmung
des Absoluten sich ausprägt. Den Widerspruch nun, über welchen
das Judentbum nicht hinauskoipmt, dass nämlich das endliche Sab-
ject, obgleich es sein Wesen ist, zum Absoluten sich zu erheben,
dennoch von diesem als abstrsct geistigem immer wieder in seine
Endlichkeit zurückgeworfen wird, bezeichnet der Verfasser concrot
-nach dem Vorgange des Paulus als das Verhältniss der Knechtschaft.
Bi«derRitHB, 4i9 freit Theo]o|^d, v«B fiotberf. ^^^
Dieser Widerspruch aber fcaiin im Judenthume aeUMl, so lange
jenes religiöse Verliällniss «och als ein posUives ^gilt, nicht m
dieser seiner unmittelbar über sich hinausweise ^ den <jestalt zvofi
Bewusstsein kommen, sondern nur so, dass die Schärfe des Gegen-
satzes durch eine solche Vei'mittelung abgestumptit und ausgeglichen
wird, welche ihn zugleich in seinem Wesen und Priiyzipe unbe-
rührt stehen lässt und die ihm immanente Negation nicht aufhebt,
sondern nur verdeckt. Eine solche wird angestrebt in ,dem Verr
hältniss des Bundes; also eine Aufhebung des Gegensalzes, eine
Gegenseitigkeit, aber noch im Elemente der Differenz sich bewegend
und so noch mit der Schranke behaftet, welche die conqrete EiUr-
heit der abslract sich gegenüber stehenden Seiten unm<)|rlich macht«
Diess tritt noch klarer hervor in der Bedingung rfes Sandes von
Seiten des Menschen, der Erfüllung des Gesetze^. Das Geseilt,
wenn der Standpunkt desselben rein gefasst wird im Unterschiede
von dem der concreten Freiheit, macht den Unterschied des göttlichen
und menschlichen Willens, nicht ihre Einheit zum Prin:^ip, es wird
von aussen an den Menschen heraiigebraeht und tödtet den Willen,
indem die einzelnen gesetzmässigen Hamiluiigen nicht Offenharur^'en
der freien Innerlichkeit, der lebendigen Einheit des Wülen« sind.
So kann die Erfüllung des Gesetzes und die daraus benv^iirgehende
Gerechtigkeit vor Gott den von vorp herein gesetzten Wiider-
spruch nicht aufheben ,- die I<ast der Endlichkeit dem Menschen nicht
abnehmen, es bleibt bei der resultatlosen Bewegung «u ^ott hin,
die doch nie wirklich bei ihm anlangt, ^^ein abstract geistiger Zu-
stand, nicht Aneignung des Absoluten zum eigenen concreten In-
halt als ewiges Leben,'' ein Widerspruch, weldier in seiner Ent-
wickelung als unerträglicher Schmerz und al^ die Sehnsucht nach
der Erlösung zum Bewusstsein kommen musste. Nichtis Anderes
als die Aufhebung dieses Widerspruchs, doch «o, dass er als Mo-
ment aufbewahrt ist, ist das Prinzip des Christenthums in seiner
reinen begriflTlichen Fassung. Und zwar ist -^ nach unserer .Qbig<>n
Unterscheidung des metaphysischen und psychölogisohqn Moments
im Begriffe der Religion — zuerst im speculativen Bqgriffe des
Absoluten die Möglichkeit jener Aufhebung nachzuweisen, weil
erst diese im endlichen Selbstbewusstsein die Wirklichkeit der
Aufbebung begründet. Ist das Absolute seinem Wesen uacb nicht
abstracto, sondern concrete Subjectivität, so ist damit auch die
concrete Vermitlelung des Selbslbewusstseins mit demselben mög-
lich gemacht. Diese neue , den Widerspruch aufhebende Vermttte-
lung tritt somit wirklich im Selbstbewusstsein auf als ^^in notb-
wendiger Fortschritt, es ist die concrete, nicht substantielle, son-
dern persönliche Einheit beider Seiten des religiösen Prozesses,
die Einheit nach der Differenz, das Verhältniss der Kindschaft» der
wirklichen Lebensgemeinschaft mit "Gott: im SdbstbewFusstsein jQhriati
zuerst verwirklicht, von den Gläubigen objectiv angesßb^ut als
ursprüngliche Einheit für seine Person und subjectiv ii^bt a|is
gegenwärtige Bestimmtheit des Selbslbewusstseins, als V^^bnuQg
mit Gott. Beide Momente sind in Eins zusammenzufassen; jenes,
«IK>
Die |r1iJlo«opbiMiie (jeselKscIiHrt in Beruft:
,die Uberzeugungsvolle Annahme von der Einheit des GöUlkhen
und Menschlichen in Christo — wie man sich das nun naher denken
mochte — ^ wird erst wirklich ein Moment im religiösen Processe,
wenn es zugleich Besitz des Selbslbevvusstseins ist; beides ist
gegcnseitiff bedingt, nur von den Gläubigen wird Christus in
Wahrheit hegriffen, weil ergriffen. Dieser innerliche Prozess tritt
nun als ein schlechthin neuer in die Vorstellung heraus, kann alier
als wirkliche concrele Einheit beider Seilen von der Vorstellung,
ihrem Charakter nach, nicht ohne Widerspruch gefasst werden, und
dieselbe bewahrt sich von Anfang an in diesem Widerspruche und
durch diesen Widerspruch hindurch. In Christo sind beide Seiten,
die göttliche und die menschliche zu einer geistigen Wirklichkeit
vereinigt; für die Vorstellung, welche an dem schroffen G(»genüber
beider festhält, hat desshalb jene Vei'einigung unmittelbar einen
übernatürlichen Charakter. Ebenso ist subjecliv in der Vermillelung
des Glaubens jene Einheit, wenn auch in getrübter Erscheinung,
vorhanden, desshalb konnte für die Vorstellung „was an der über-
natürlichen Person Christi natürlich war, dem natürlichen Menschen
nur auf übernatürliche Weise kommen.^ So ist stets das, was für
das endliche theoretische Bewusstsein den Charakter des Ucbor-
natürlichen hat, gerade das specifisch Christliche; was im Selbst-
bewusstsein und der inneren Erfahrung offenbar und gegenwärtig
erlebt wird, wird in der Vorstellung nothwendig- zum Mysterium,
das credoy quia absurdum findet hier seine Erklärung und relative
Wahrheit. Dass aber jene religiöse Vermitlelung selbst, wie sie
mit dem Christenthum in's Selbstbewusstsein tritt, die allseitig dem
W^es^n des Geistes entsprechende sei und also auch dem theoreti-
schen Bewusstsein absolut gewiss und durchsichtig werden könne
und müsse, ergibt sich, wenn wir diese Verniittelung in ihre ein-
zelnen Momente zerlegen. lü dem Verlauf derselben tritt i) her-
vor: ihr Ausgang, das Bewusstsein der Nichtigkeit, Sünd-
haftigkeit und Verdammlichkeit des Menschen Gott gegenüber;
2) ihre Mitte, welche aber für sich noch kein religiöser Zustand
ist : das Bewusstsein ^er objectiven, ausser dem Subject und aboro-
sehen von ihm für Alle rein durch göttliche Liebe geschehenen Er-
lösung; 3} ihr Schluss, das Selbstbewusstsein der auch für das
Subject wirklichen Erlösung; — Momente, welche in der Totalität
des christlichen Lebens flüchtig getragen und erzeugt^ werden, so
^dass 'das eine von dem andern bestimmt, das Bewusstsein der
*^ünde von dem Bewusstsein der Erlösung und umgekehrt , jedes
nur vöni anderen aus begreiflich ist und bald das eine, bald' das
andere mehr oder weniger als das Beherrschende des Selbstbe-
wüsstseins erscheint. Dass aber dieser Verlauf und das absolute
Verhälthiss der Momerite des Göistes, wie ös die Philosophie im
reifien Denken begreift als den Prozess der Idee, welche das End-
liche zur Einheit mit sich aufnimmt und so concrete Geistigkeit ist,
^im PfinZipe mit einander stiihmen, dasS, trotz des absoluten un-
1 vertilgbaren Unterschiede beider Sphären, dort religiös dasselbe
Biedt^rmann, die frei> Tlieotogi«, von Holberg^. f^*J
erfahren, was hier philosophisch gedacht wird, ergibt sich aus
dieser Darstellung von selbst.
Um aber diese Allgemeinheit und Healitüt des christlichem
Prinzips, in welcher eis von seiner eigenen historischen Erschei-
nung wesentlich frei ist, noch fester zu begründen, geht der Ver-
fasser näher auf die Entwickelung der Christologie ein, wobei zu-
gleich die Bewegung eines religiösen Inhalts durch die verschiedenen
Stadien seiner Herausarbeitung in's theoretische Bewusstsein an
einem schlagenden Beispiele hervortritt. Die Vorstellung, weil ihr
Inhalt noch nicht BegriiF, d. h. die Energie des Sichverwirklichens
und Sicbgestaltens ist, vermag es ihrem Charakter nach nicht, ein
Prinzip als solches in seiner Allgemeinheit zu erfassen, sie
fasst es vielmehr als unmittelbar seiendes, das Allgemeine ist für
jBJe zugleich ein unmittelbar Einzelnes, Idee und Geschichte fallen
ihr unmittelbar zusammen. So auch hier: die historische Person
Christi ist selbst Prinzip, die Einzelnheit zugleich Allgemeinheit.
Darin aber hätte der Verfasser zunächl die relative Berechtigung
und vernünftige Tendenz der 'gläubigen Vorstellung nachweisen
müssen, die Tendenz, überhaupt auf das Prinzip zurückzugehen,
die Gewissheit, dass die Geschichte von der Idee durchdrungen,
das Prinzip in seiner historischen Erscheinung gegenwärtig sei:
eine Gewissheit, welche aber, da das vorstellende Bewusstsein
wesentlich Anschauung ist, zu dem Bedürfniss wird, das Prinzipi
ohne kritische Scheidung des historischen und ideellen Elements,
unmittelbar in seine erste historische Erscheinnng aufgehen zu
lassen. So nothwendig diess ist, ebenso nothwendig wird vom
gläubigen . Selbsibewusstsein das Object der Anschauung wieder in
die Innerlichkeit reflectirt und ihm damit die feste Einzelnheit
wieder abgestreift. Obgleich also dem religiösen Bewusstsein
die Anschauung Christi als dogmatischer Person unmöglich genom-
men werden kann, so muss doch auf der anderen Seite zugegeben
werden, dass philosophisch der absolute Hervorgang, die Offen-»
barung des Prinzips aus der Fülle der schöpferischen Idealität von
der historischen Vcrmittelung zu scheiden sei, in weicheres zuerst
geistige Wirklichkeit gewann; jenes allein gehört der Dogmatik,
dieses der historischen Betrachtung an. Die Nolhwendigkeit dieser
Unterscheidung, wie sie im Begriffe des Prinzips liegt, wird nun
thaisächlich in der dogmalischen Entwickelung der Christologie
offenbar und als solche gesetzt. Wir müssen es uns versagen,
diese schlagende, lebendig und zwingend vorwärts drängende Ent-»
Wickelung des Herrn Verfassers näher zu verfolgen; nur bei dem
Resultate bleiben wir einen Augenblick stehen. Es leuchtet näm-
lich sogleich ein, wie die Idee der Gottmenscheit, die Einheit
beider Seiten als Entelechie, hier durch den bestimmen Begriff der
Religion, welcher der ganzen Untersuchung zu Grunde lie^t, von
dem Schwankon und der unbestimmten Allgemeinheit befreit ist,
welclie ihr bei Strauss noch anhaftet. Von letzterem wird nämlich
das Gebiet der Religion von der concreten Verwirklichung der
Idcö in allen Sphären des Geistes rficht bestimmt unterschieden.
Denn Wenn' Siraiias, nnt di^ Treitmfifg V6^ Idee und Erschoinungf
zu begründen, darauf hinweist, dass Chriislus doch nicht aHe Mo-
mente, in welchen sieh ^ie AUgeefteiAlfteit der Mee durch Aufnahme
eines concreten Inhalts al» Besonderheit verwirkliche, an sich zur
Erscheinung gebracht habe, dass er z. B. niebt Künstler, nicht
Philosoph u. s. w. gewesen sei, sa ist dabei übersdw»n, dass Ao
christologische Mee die Idee aHein nn Eltnnente der Religion ist, nichl
aber, wie eben von Strauss geschieht, mit der concrett^n Ver*
wirklichung des Geistes in der Totalität aller seiher Montenle nn--
mittelbar zu verwechseln sei. In dieser concreten Besonderun^
der Id^e, welche wesenlltch an die Individualität gebunden isi,
ci^änzen sich nämlicH die Individuen allerdings, stellen die idfc
nur in einer bestimmten Gestalt^ mit einer Schranke und Negatioi)
dar; herben wir aber mit Herrn B. die Religion von allen anderen
Gebtt^ten des Geistes als eine selbststänHige, absolute Sphäre unter-
seliieden,, als die duf aHen Stnfen geistiger Entwickelung, in alten
Gestalten des Empirischen Selbslbewusstseins sich vollziehende
prabtisehe Vermillelung mit Gott, so ist dHmit ausgespi^ochen, dass
dit»se Veniriltelun^, d. h. die reale Mee, weil sie abgesehen von
«Her feesonfb?rheit und ohne Rfirksicht auf die versckiiedene con-
rretp Erfüllnng des Selbst bewusif^seins die eine, volle, mit si<*h
identische ist, nicht erst als Ergänzung der Einzelnen zur Totalität
zu Stande komme, dass vielmehr in ihr der Einzelne als solcher
schrankenlos vmd für sich selbst absolut sei. Mag auch die Rea-
lität der religiösen Idee im Individuum in ihrer Erscheinung inuner
eine getrübte sein, so ist doch die Form der Ehnzelnheit als solche
für sie keine Schranke, bedarf keines Supplements; diegs ist nur
dann der Fall, wenn man die cliristologische Idee mit den wesent-
lich concreleren des heiligen Geistes und der Kirche verwechselt,
in welchen allerdings erst die gesetzte Beziehung aller geistig(*n
Sphären aufs Absolute und die Verklärung aller Besonderheiten
den Inhalt ausmacht. — Der Verfasser stellt nun im Folgenden der
speculativen die gewöhnliche ethisch -historische Auffassung der
Persönlichkeit Christi -gegenüber. Er zeigt, dass in dieser, welche
die Person Christi nicht, wie die kirchliche Vorstellung, als einzelnen
Menschen, uelchor zugleich absolut allgemeines Subject, Gott selbst
isl, sondern wesentlich als menschliches Subject , nur mit göttlichen
Prädikaten, in ethischen Bestimmungen, also nicht streng als dog-
matische Person auffasst, und dennoch andererseits jene speculätive
Unterscheidung der Idee und der einzelnen Wirklichkeit, der Ein-
zelnheit der Idee und der Einzelnheit der Erscheinung, des Meta-
physischen «nd des Historisclien von sich abweist, weder den In-
halt des Glaubens, welcher nur das Allgemeine, unmittelbar Gött-
liche sein kann, und welcher in der kirchlichen Vorstellung von
Christo unmittelbar ausgeprägt war, ersetzen könne, noch die
historische Betrachtung zu ihrem gebührenden Rechte kommen
lasse.
Wie nun die Philosophie in der Kritik der Chrisologie die
■endliche Foitn des theoitetischen Bewosstseins negirl, dagegen den
RicileriiiiiDB, die freie Tbeelogie, Ton H<»lberg» 109^
religiöseil Gehalt und des inneren treibenden Gedanl^eft darin an-
erkennt, ebenso ist für alle Momente der religiösen Vorstellung
mit der Kritik zugleich das wahrhaft positive Begreifen gesetzt.
Scheidet ferner die Philosophie in der Totalilüt der religiösen Er-
scheinungen das theoretische Bewusstsein als den noch vorstellungs-
massigen, relativ iusserlichen Reflex der inneren praktischen Yer-
mttielung des Selbstbev^usstseins von dieser letzterem als dem
walu^en Prinzipe des. Ghrislenthums und erkeniU. sie, dass diese
dem Geiste nothwendige und seinem Wesen ent^rechende Ver-
mittelung — der christliche Glaube im eigentlichen Sinne — auf
allen Stufen des theoretischen Bewusstseins, auch auf der des
philosophischen, die eine mit sich identische bleibe, dass also auch
der Philosoph, will er anders im vollen Sinne des Worts Mensch
sein, religiös sein mässe, so scheint uns in dieser Ansicht der
Dinge, wie wir es schon im Eingange unserer Anzeige vorläufig
aussprachen, eine wahrhafte, durch Kritik gereinigte Vermittelung
zwischen Religion und Philosophie gegeben zu sein. Praktisch ge-
wendet aber ist diese Erkenntniss das Fundament einer vernünftigen,
d. h. nicht in religiöse Indifferenz zerfliessenden Toleranz. Ist die
Religion eia auf allen Stufen des Geistes nothwendiger, alle Ge-
biete desselben duchdringender Process, die alle Momente des per-
isönlichen Lebens auf das Unendliche beziehende Thätigkeit, so ist
Bie damit als das Centrum des Menschen anerkannt, als die inner-
lich das absolute Urtheil an ihm vollziehende Macht, welche nicht
mit irgend einem endlichen , relativen , sondern mit absolijitem Mass-
stabe, nämlich nach seinem praktischen Verhalten zu Gott, den
Wertli oder Unwerth des Menschen bestimmt. Von einer Toleranz,
die die Religion als Nebensache bei Seite setzt, kann also hier
nicht die Rede sein. Aber der Schwerpunkt der Religion liegt
lüclit in irgendwelchen Ansichten von Gott uud göttlichen Dingen
für sich genommen, sondern in der Wirkung derselben aufs Selbst-
bewusstsein, darin, dass der Inhalt des Glaubens praktisch erfahren,
die Vorstellung in's Innere umgebogen, das objectiv Angeschaute
lebendige Wirklichkeit im Selbstbewusstsein sei. Ist dieser innere
Prozess vorhanden, so mögen die Formen, in welchen er ausge-
sprochen wird, für sich betrachtet und nach ihrem theoretischen
Wer he sehr unbestimmt, sehr verworren, sehr dürftig sein, sie
drücken für das Individuum, welches sie gebraucht, in der That
mehr aus, als sie scheinen, und wir^ auch der religiöse Inhalt je
nach der verschiedenen Geislesbildung in verschiedenen Kategorien
gefasst, deren theoretische Richtigkeit allerdings nach theoretischem
Maasstabe zu messen ist,, so ist er doch in der innecen Erfahrung,
also religiös genommen, derselbe, wirkt im Individuum dasselbe,
schliesst dieselbe absolute Vernichtung oder Befriedigung in sich.
„Gottwohlgefälligkeit im gow<)hnlichen Rationalismus, Gemeinschaft
mit Gott im Schieiermacher'schea Sinne u. s. w. heisst je nach der
Verschiedenheit des theologischen Bewusstseins, die Verwirklichung
des christlichen Glaubens im Selbstbewusstsein. Es ist alles die-
s^elbe Vermiltelung, nur verschieden theoretisch gefasst und aus«
200 ' ^'^ phitoffophisclie Gcidlscfisri zu RiTtiii: etc.
fedrückt, je nachdem das Bewosstsein sich dieselbe zu veroregen-
stindlichen weiss: praktisch religiös ist es dieselbe/
Wir glauben durch die Betrachtung der drei ersten Abschnitte
des vorliegenden Buchs, in denen die Grundanschauung desselben
sich zusammenfasst, unsere Leser auf die Bedeutung desselben
nicht bloss für die Entwickelung der spcculativen Theologie, son-
dern auch für die Erkennthiss des theorelischen Verhiltnisscs der
jetzt sich drängenden theologischen und religiösen Richtungen und
für die Einsicht in das geziemende, pers()nliche und praktische
Verhallen ihrer Vert^eter tu einander, hinreichend aufmerksam ge-
macht zu haben. Und wenn wir auch nicht hoffen können, dass
die Friedensworte des Verfassers gerade jetzt in dem Gewühle dos
theologischen Marktes Anklang finden werden, so wird doch wenig-
stens seiner Gründlichkeit und Ehrlichkeit die verdiente Anerken-
nung nicht versagt werden dürfen.
Pr, Helberii,
IL
Kriti^ebe jni^icelieu mnv Politifc.
1.
"Wor wenigen Monaten bracht« die Vossische Zeitung
einen Artikel 0" ^i** ^ des Blattes) über Polen, der, noch ehe
der kurze Kampf des Krakauer Drama ausgespielt hatte, den
schwachen Widerstand auch mit dem Schwerdte des Geistes nie-
derdrücken sollte. Dem Grundsatz huldigend, dass unter den
Waffen das freie Wort verstummen muss, aber sein Gewicht in
die Wagschale legen' darf, wenn das Geklirr derselben aufgehört
hat, fühlen wir uns gedrungen, diesen Artikel nicht ganz mit
SliHschwei^en tn übergehen, indem wir die Frage aus dem Tum-?
ntelplatz einer politischen Zeitung in das Gebiet dieser Annaien der
AMssenschaft hineinziehen, und eine aus den Prinzipien der Welt-
gi»scliichte geschöpfle Antwort erst jetzt ertheilen.
Dass auch wir in den Schicksalen Polens die „starke Hand der
Wellordnung^ erkennen, wollen wir dem Verfasser um so weniger
bestreiten , als wir diesen Gedanken vielmehr auszuführen versuchen
niöchloii. Um so weniger können wir eiber mit' ihm darin über-
(Hnsfinimen, diese Schicksale der Nachbarschaft zweier mächtigen
Völker zuzuschreiben. Der Gesichtspunkt des Rechts — und das
Hecht des Weltgeistes ist das höchste — duldet es nicht, das
Schicksal eines Volkes anders, als aus seinem eigenen Geiste ab-
zuleiten. Fast alle Völker der Christenheit sind aus der Lehns -
aristokratie des Mittelalters durch die die Privilegien einzelner
Stände zerbrechende Allmacht der absoluten Monarchie befreit wör-r
den. Das ist der historische Werth dieser Staatsform in der Ent-
wickelung des Menscbengeistes. In Polen ist aber die Aristokratie
der allein herrschende Stand geblieben. Um also dieses Volk dtni
normalen _ Prozess der europäischen Menschheit durchmachen zu
lassen, hat der Weltgeist es von drei absoluten Monarchien um-
schlossen, die ihm den erwähnten Prozess als einen äusseren ge-
waltsam auferlegten, da er sich« wegen des ungebändigtcn Frei-r
heitssinncs der Einzelnen , nicht aus dem inneren Geiste des Volkes
entwickeln wollte. Das ist die weltgeschfchtlidhe Bedeotang der
Theilung Polens. Den VoUfiihrern dieser That ist damit die „mo--
ralische Verantwortlichlceit,'' die, wie der Verfasser sagt, „sich
auf ihren HSuptem laorerte,^ unbenommen.
Ausser dem wellhistorischen hat die Frage aber noeh einen
völkerrechtlichen Gesichtspunkt; und hier könnten die Polen Man-
dies zu ihren Gunsten anrühren. Algier, Otaheiti und Ostindien,
die der Verfasser erwähnt, stehen nicht in gleichem Range nsit
einer grossen christlichen Nation, welche das internationale Völker*
recht Europa^s für sich in Ansp^ruch nehmen könnte. Und dann,
selbst die Vergleichung, wenn ste ernstlich gemeint sein sollte,
zugegeben, so haben die Englander doch den Indiem vielfach ihre
nationalen Regtertmgen unter etngebomen PHrste«, die Franzosen
den Otaheitiem ihre Königin Pomare gelassen. Wodurch könnten
nun die theilenden Michlc, die eben hierin, durch die geschicht-
lichen Umstände gezwungen , weiter gehen mussten, ihre moralische
Verantwortlichkeit erleichtem? Bben dadurch, dass sie den Pro«
zess der Auflösung des Mittelalters, der in den unabhängigen
Staaten vor sich gegangen isl nsd noeh geht^ auch in Polun zu
befördern unternähmen. Preussen gelit hierin mit edlem Beispiele
voran; und die ReguUrung der bäuerlichen VerhIUnisse im Gross«
h^rzoglhum ist die Grundlage davon, die polnische Nationalität aus
dem polilischen Bewusstsein Eines Standes zum Siehwissen des
Volksgeistes zu erheben. Die traurige und so schwer gesühnte
Unwissenheit des galizischen Adels über sein eigenes Verhältniss
Im seinen Bauern, die den Verfasser nur zu Sarkasn»en veranlasst,
ist eine geschichtliche Begebenheit von einem tragischen Ausgang,
der die Zeitgenossen erschüttert hat und eine moralische Verant*
worttiehkeit in's Ungeheuerste steigern müsste. Wenn aber Preus-».
sen schon vor dem letzten Aufstand zeigte, was der Ueberwinder
thun muss, statt zu deeimiren und im Status quo zu lassen, so ist
die erste bleibende Folge der Bewegung, dass Oestreich und selbst
Russland j^mstiich daran zu denken anfangen, wie die Lage der
bäuerlichen Grundbesitzer zu verbessern sei. Die wahre Eman^
cipation des Volkes muss aber von innen heraus gestaltet werden;
so dass es hauptsächlich die Aufgabe des polnischen Adels selber
ist, durch Ablösung der Frobndienste und Heranbildung der
Pflichtigen zu freien Bürgern, sich der Ansprüche auf Nationalität,
die das Volk nicht verloren hat, auch würdig zu zeigen, Dazu
gehört aber ein eigenes Staatsleben, geschweige die ungestörte
Ausübung der Ri^ligion.
Wie Hesse sich nun die Gerechtigkeit, die Polen doch nicht
vorenthalten werden soll, mit dem historischen Gesichtspunkte
vollendeter Thatsaeben zu einem Vergleiche bringen? Den christ-i*
Ucfaen Gesichtspunkt aus dem Auge gelassen, würde schon die
ruhige Erwägung politischer Rücksichten die Frage zu lösen im
Stande sein, die in einer Zeit, wo die Ideen so erstarkt sind«
nicht mit Blut scheint zur Lösung gebracht werden m sollen»
kritisdi« Ni»c«ll«Q Kur Politik, van Miclielet. 203
Vitfere Zeit ist eine beruh^eBde, aussCHmende, ocganisirende.
Selbst VölkerindtviduttitläteR, die der Weligeist schon dem Unter«-
^aoge geweiht 2a haben schien, sie steigen aus ihrem Grabe her-
vor, um wiedvr einen Platz in der grossen europäischen Familie
eiAzunebmen: Griechenland, Belgien, Serbien h. s^ w. Sie sind
selbstständig oder einem Doppelsoepter Unterworten. Und nachdem
ihre Nationalität, ihre Einheit als eines Ganzen sicher gestellt ist,
können sie friedlich die socialen Verbesserungen bei sich durch«-
f Uhren, \\ndche der Wekgeist dem gegenwärtigen Zeitalter gönnt.
Es wäre vermessen, hier politische Pläne und Vorschläge aufs
Tapet zu bringen. Aber wurden die theilenden Mächte, das Land
petnischer Zunge, wie Belgien, zu Einem neutralen Gebiet erklärend
und in Einen Staatskorper vereinend, der sich einem ZoUverbande
mit andern anschliessen dürfte, nicht den Muth haben können, die
polnische Nationalität aus ihrem Grabe zu Krakau, wo sie sich so
eben abermals in ihrem Blute gewalzt hat, zum politischen Leben
auferstehen zu lassen, dessen doch alle übrigen Völker in ver*
sckiedenem Maasse und F<Nrmen geniessen ? Ist der Verstoss Polens
gegen den Wettgeist denn unsiUinbar? Lässt die moralische Ver-
antwortlichkeit, vor der, nach dem Verfasser, schon die grosse
Itfaria Thercfsia Scheu hatte, sk;h nicht mildern? Dürfen nicht
desto sicherere Hoffnungen auf das Gcmüth eines christlichen Königs
der Gegenwart gebaut werden? Das sind Fragen, die sich der
Verfasser hätte vorlegen sollen, statt über ein unglückliches Volk,
d4?ssen Existenz er für eine Unmöglichkeit hält, den Stab zu
brechen. ~ Haben die Griechen aber nich( länger, als drei Jabrhun-
d<*rte unter dem tyrannischen Drucke barbarischer Herrscher ge-
seufzt? und doch hat ihnen endlich die Stunde der Befreiung ge-
schlagen. Wäre es nicht — um mich der Zahlen der Statistik des
Verfassers zu bedienen — an der Zeit, und die Gelegenheit eben
die schickliche, dass die Führer von „einhundert und zwanzig Mil-
lionen Deutschen und Russen,^ ja die Führer Europa's das Schick-
sal von „zwanzig Millionen Polen^ auf einem feierlichen Congresse
lieriethen, um den Stoff zur Unzufriedenheit in diesem Volke, die
doch wahrlich nicht so ganz grundlos ist, für immerzu entfernen?
De 1a Pairie et de T Aristokratie moderne, par le com te Auguste de
Cieszkowsku Paris, 1844-
Die Geistesrichtung meines edlen Freundes ist in der letzten
Zeit dahin gegangen, von rein metaphysischen Fragen sich zur
Anwendung derselben auf das Leben zu wenden , um die Gründung
der Gesellschaft der Zukunft vorzubereiten. Dass wir uns in einer
Periode der Auflösung, Negation, des Uebergangs und Werdens
befinden, sieht Jeder ein; Aber, ruft er am Ende seines Buches
aus (S. 161}: „Es wäre wohl Zeit, das kritische Zeitalter der Re-
volutionen zu schliessen, um in das der organischen Evolutionen
einzutreten.^ Diess ist der Grundgedanke aller seiner Bestrebungen.
20 f« Die pkiloMphtf«.*!»» (^üdlsclHirt zn Berlifi:
Ohne 2u den' hödisten Prinsipien heraarsusteig^en, fasst er in
lU'icksieht auf das vorltegeade Probtem den ge9d)enen Zustand der
fnuizösisoken Nation ins Auge, an die er sich auc^ aus rein prak-
tischeui Gesichtspunkte paränetisch zu wenden scheint. Freilich
wird die grosse Nation etwas eifersicbtig darauf sein, dass ein
Ausländer sich in ihre Geschäfte mischt und ihr gute Lehren gebrn
will! Bekommt nun seine ganze Argumentation hierdurch schon
ein concretes Ansehen, scheint dadurch nun aber audi die Allge-*
meinheit seiner Behauptungen beschränkt zu werden, setzt er selbst
ms andern Prämissen des Zeitgeister^ auch eine andere Schlussfolge
ads mügiich: so ist es doch gerade das Schöne seiner Argumente,
iiber die gegebene Materie mit dem den höchsten Prinzipien der
Vernunft absolut Angemessenen Ubereinzustimuien, und diesen Gegen-«
stand so vorbereitet zu haben, ('ass seine Bestimmungen unmitteU
bar die Grundlage einer Gesetzgebung bilden können, die dem
Staate der Zukunft würdig wäre»
Um es mit einem Worte zu sagen, der Grundgedanke seines
Werkes ist, dass die Aristokratie nur eine Aristokratie des Ver^
(lienstes sein könne. Wie es die erste Aristokratie der Welt der
Zeit nach sei, so müsse es auch die letzte sein, zu der das sociale
lieben wieder zurückkehren müsse, nachdem die erbliche Aristokratie/
welche die mittlere Zeit eingenommen habe, rechtlich und that-«
sJichlich untergegangen sei. „Früher genügte es,^ sagt er, „Ari-.
.stokrat zu sein^ jetzt muss man es werden. Einst bestand der
Blirgeiz eines Emporkömmlings (]in der guten Bedeutung des Wor-
tes) darin, adelig zu werden. Von nun an wird eines Adeligen
Bhrgeiz darin bestehen, Emporkömmling zu sein^ (S. 142 — 1^}.
In derThat, habe ich meinen edlen Fnnind richtig verslanden,
so will er, dass die Besten (oi ao/^xo/), und zwar die durch
Tugend, Wissen, überhaupt Verdienst Ausgezeicimeten , die Herr-
schenden im Staate seien. Sorgt der Laiidmann dätür, die rohen
IVodukte der Natur zu gewinnen, der Städter, sie zu verarbeiten;
so ist es die Aufgabe des dritten Standes, welcher der erste ist,
die geistigen Bedürfnisse, welchen nur durch künstlerische und
xvissenschaftliche Bildung beizukommen ist, zu befriedigen. Diese
Aristokratie der Wissenden und Guten ist seit Plato und Arisloteh's
dem Menschengeschlechte als das Ideal der wahren Staatsverfas-
sung hingestellt worden; und es scheint seiner Erreichung näher
iils je zu sein. Die Reconstituirung einer veralteten Institution
durch gan>; abgelebte Einrichtungen Ringt immer dann an, in der
Wirklichkeit versucht zu werden, wann deren Realisirung eine Un-
möglichkeit geworden. Was aber ein Stand der bürgerlichen Ge-
sellschaft ist, muss auch zu einer politischen Standschaft kommen.
Darin liegt hauptsächlich der Unterschied der Deutschen und Fran-
zosen in Rücksicht der politischen Verfassung. Und wirft man es
dorn deutschen Liberalismus vor, das französische Constitutions-
wesen in Deutschland eingebürgert zu sehen; so braucht er nur
g;»trost zu antworten, dass ei- sich, fern von aller Nachahmungs-
siicht d(T Franzosen, gerne mit Rcicli:;ständen im Sjqne der dcul-
Graf Y. Ciefizkowski „de 1« Pnirie etc.,** von fÜichelet. 205
sehen Standsciiftflsrechte zafrieden geben wolle. Wältrend di^v
dritte SIttnd des Mitte(al(ers sich aber jetzt in Bauer und Bürger
auseinamlergelegt hat, so hat sich der erste und zweite fAdci und
Geistliclikeit), als Stand der geistigen Bildung der Regierer in
Einen allgemeinen Sland zusammengezogen. Lassen wir nun auch
jene beiden niederen Stände, wie wir es wegen der Verwaudt-
schafl ilirer Bescliäftigungen müssen, wieder als Einen aullreten,
so erzielt sichv hieraus die Nothwendigkeit des Zweikammersystems.
Denn da die Gesetzgebung das Aussprechen des .allgemeinen Wil-
lens als allgemeinen ist, so mussauch die Nation als Ganzes, d.h.
als in ihre Glieder organisirt, daran Tlieil nt^limen. Diese Gliede-
rung bildet aber den Gegensatz dieser beiden Stönde, der als das
demokratische und das aristokratische Element in der Gesetzgebung
unterschieden werden kann.
Wie nun durch den Demokrat ismus der Wahl die Dcpulirten-
kammer^ so müssen die Senatoren durch den Aristokratismus der
Cooptation zu Gesetzgebern erhoben werden, lieber das arislo-
hi*atische Prinzip des Senats bemerkt unser Herr Verfasser Folgen-
des: „Alle localen, particularen, divergenten und exclusiven Inte-
ressen sind in der Deputirtenkannner repräsentirt. Müssen hier-
nach nicht die aligemeinen und substantiellen Interessen in der
anderen Kammer vertreten werden? Und das ist die Vertretung
des administrativen Elements und der Staatspolitik im Schoosse des
Parlaments. Gebe man der Aristokratie der Intelligenz in der S«»-
natorenkammer einen speciellen Kampfplatz, so zu sagen einen
Abfluss ihrer Thäligkeit, so wird man sie regeln und organisirefi,
während sie eine feindliche und umwälzerische Richtung m hnnm
wird, wenn man sie ausserhalb des politischen Lebens stellt" (S. 18.,
73., 75).
Dass die Cooptation aber ein adeliges Institut ist, leidet keinen
Zweifel. Die Kammer würde (S. 66.) nicht nur die Richlerin und
strafende Macht der höchsten Beamten sein; sie würde auch die
höchste politische Belohnung ertheilen, dem grössten Ehrgeize das
würdigste Ziel. Da die Interessen beider Kammern verschieden
sind, so muss auch die Entstehungsart eine verschiedene sein. Die
Ernennung durch die Krone ist der allersehlechtesle Modus; denn
die Kanmier hört damit auf, eine selbstständige Vertretung zu sein.
Und der Herr Verfasser sagt sehr gut, dass in der jetzigen PairÄ-
kammer der Franzosen die Illustration einzelner Notabilitäten an
der Schlechtigkeit der Institution erblasst; statt, wäre die Institution
gut, das Ganze die Einzelen heben müsste (S. 38). Ich war dafür,
dass der allgemeine Stand aus seiner Mitte gewissermaassen den
Kern zur gesetzgel>endeR Gewalt abschickte. Die Dialektik, womit
mein edler Freund die Cooptation als die wahre Mitte zwischen
ErbUchkeit und Wahl hinstellt, ist aber so schlagend, dass ich
mich seinen Argumenten füge, und mich nicht enthalten kann, den
ganzen Gang seines Räsonuemeuts ausführlich und mit vollkom-
inener Beistimmung hier hinzusetzen, t (S. 126 — 137.)
20g Dm plHluiO|ihi^e (äftelf^Huifl zw RrrliB >:
^s hat bishi^r Knrei Prinbipiea gegeben, im eiie wahrhrfW
Pairie zu eonstituiren, die ErUichkeit und die Wahl; nach Zeit
und Umständen sind beide gut, wie das englische Oberhaus und
der amerikanische Senat beweiseh. In Frankreich muss man zu
einem neuen Prinzip seine Zuflucht nehmen. Die Cooptation ist
nun die unmiltelbare Consequenz und das nolhwendige Complement,
ja die Synthese der zwei vorhergehenden Prinzipien. Es vermeidet
also ihre Einseitigkeilen, und verknüpft ihre Vorzüge, die sich
nun nicht mehr ausschliessen.^
„Der Charakter und die Vortheile der Erblichkeit sind: der
aristokratischen Versammlung eine unabhängige Existenz zu ver-
schaffen; nur aus sich selbst entspringend, behält sie eine Gleich-*
Massigkeit der Gesinnnungen und Handlungsweise, die sie besonr-
ders geeignet macht, Stabilität in die inneren und äusseren Ver*-
hältnisse des Landes hineisfiEubringen.^
„Der Charakter und die Vorzüge der Wahl sind, das Ver-
dienst an die Stelle der Vorrechte der Geburt, das bewegliche,
fortschreitende Element an die Stelle des conservativen und reactio-
nären zu setzen, überhaupt dem altgemeinen Geiste der Massen
den Sieg über den Partheigeist der Kasten zu verschaiTen.^
„Im neuen Prinzipe convergiren diese Gegensätze, indem sie
durch diese Verbindung zugleich in^ einem ganz neuen Lichte ar-
scheinen. Die gleichmässige Festigkeit der Richtung ist nicht mehr
einer kleinen Anzahl von Familien anvertraut, sondern verjüngt
sich aus der ganzen Nation. Eine moralische und coliective Erb-
schaft tritt an die Stelle der physischen und individuellen, — kurz
die Erbschaft nach dem Geiste an die Stelle der Erb-
schaft nach dem Fleische. — Die Erbschaft der Personen
macht einer wahren Erbschaft dT Gesammtheit Platz; und diese
bezweckte man doch allein bei der persönlidien Erblichkeit. Es
werden also fortan nicht bloss Traditionen fortgepflanzt, sondern
Kenntnisse, Geist und Verdienst. Die Erblichkeit ist in den Zu-
stand der Wahl übergegangen.*
„Machen wir jetzt den entgegengesetzten Weg und das Wi-
derspiel des so eben Gesagten. Die Cooptation ist offenbar selbst
eine Wahl. Aber der politische Körper, der aus dieser Wahl her-
vorgeht, ist nicht der Mandatarius eines Anderen, hängt weder
von den beweglichen Wellen der Volkswahl, noch vom veränder-
lichen Hauche der executiven Gewalt ab^ er reproducirt sich selbst,
.wie bei der Erblichkeit, und die Wahl hat deren Vorzüge, ohne
,an ihren Mängeln Theil zu nehmen. Der Zufall der Geburt macht
der klaren Erkenntniss des Würdigsten Platz. Die Aristokratie ist
./selbst demokratisch geworden; und die stabilste Gewalt geht aus
der Beweglichkeit der Wahlurne hervor."
Freilich kann man gegen dieses neue Prinzip gewichtige Ein-
wände machen. Dem Verfasser sind sie nicht entgangen; und er
sucht sie zu entkräften, indem er „Garantien gegen den so con-
stituirten Senat" beibringt. „Könnten nicht," wirft er sich fS. 105.3
ein, alle Wahlen das Gepräge der Parteilichkeit tragen, und die
(irui Y. C?ic«£k« wsWi ,<!« 1« Pmrie ele.,^ run Michelet. 20T
Pairie sich 6(9 kamer mehr . in eine eim$piii||e Richtui^ verliefen.^
Ein I^iirsgeback fallt in der Oekonomie dw Politik des Verfassers
fort. „Wählten die P^irs nicht nach Yerdieasl^, antwortet daher
mein edler Freund zuerst (S. 106.)) ^so würde die Pre^e solche
Wahlen brandmarken.** Die Pairie wäre aber in ihreui Rechte.
),Slait eine solche Majorität zu brechen,^ entgeg^net er ferner,
„könnte man sie weichen lassen, wie die englische Aristokratie bei
Gelegenheit der Emancipation der Katholiken, der RefoiiBbill^ u. s. w.
iß, 107.) Wie unendlich langsam sind aber dann diese äugen««
scheiulichsten Missbräuche, die von diesei* Pairie als die wahren
Palladien der Freiheit von Kirche and Staat init dem glänzendstei^
Erfolg verfochten wurden, abzuschaffen ! ^Der öSentliche Geist,'^
sagt der Herr Verfasser drittens, „ist allmächtig, sobald er leben-
dig wird.^ Wofür dann aber eine Constitution? Der Tod (S. 110.)
scheint mir auch kein hinlängliches „Correcliv.'^ Denn wenn auch
die „zurückgebliebenen^ Pairs aussterben, so kann die Wahl durch
eine Erbschaft nach dem Geiste immer untenlessen herangewachsene
Zurückgebliebene in den Schooss des Senats aufnehmen. Auch ist
le'm Bestätigungsreeht der Krone,. obue welclies die vom Senat Ge-r
■iwähUen nur Sitz, nicht Stimme haben sollen fS. 114.), bloss ne-r
^4tiv; denn es kann wohl bindern, dass die neue Majorität si<;h
^erstarke, ist aber unfähig, sie zu brechen. Die Verweigerung
di^ Budgets endlieh (S. 121.} trifft nur di^Mrnister und einen vaa
thnen gewählten, nicht unseren cooptirten Senat; es sei den^|
^ss die Deputirtea die vom Staate ausgesetzte fiente der Senatoren
verweigern könnten. Da diess aber die Haupigarantle der Unab-r
häügigkeit des Senats ist, so wäre damit die .ganze Institution vpr-y
sichlet. Diese Garantien scheinen also nicht genügend.; auch sio^
-e» deren zu viele, als dass sie gut sein könnten. v
Wollten wir (da in der Gesetzgebung doch nun einmal das
demokratische Element vorwalten muss, wie in der Adminislralioii
das aristakratische und in der executiven Gewalt das monarchische}
^inen neuen Vorschlag zu dem mit so vieler praktischen Sicherheit
^erfassten Werke unseres Herrn Verfassers machen, so wäre es
^er -<.da ja auch ein absolutes Veto der Krone gegen den coury
stauten Willen beider Kammern praktisch undenkbar ist - , deoä
Senat etwa halb so viel Mitglieder als der Abgeordnetenkarn-*>
mer zuzugestehen, und wenn er zum -dritten Mal ein von den De-^
putirten angenommenes Gesetz verwirft, die beiden Kammern al$
•Eine votiren zu lassen, damit die sich so ergebende Majorität ihren
Ausspruch zum definitiven Gesetz erheben könne.
Die Ueberflihru|ig des philosophischen Gedankens in das Leben
ist auch der Zweck der Schrift des Dr. Märcker: ,,Die Willens-
freiheit im Staatsverbande." Sie ist eine Uebersicht und Er-
läuterung der aristotelischen Rhetorik, die der Verfasser zu dem
Ende gibt, diese Kunst wieder aufzuzwecken, um dadurch die
208 ^'^ phi1o«4»phiiiche (itsellscbiift zu Berlin:
Wieder^ifebnrt der !europä]Schen Menscliheit zu politischer Freiheit
und Selbstständis-keit einzuleiten. „Gleichwie die Rhetorik,^ sagt
er (S.51 — 52.5 ^im Verhältniss zu den anderen philosophischen
Wissenschaften wiederherzustellen ist, so muss sie auch als in-
tegrirendcr Theil der Politik wieder aur^^enominen werden; denn
als solchen betrachten sie die Alten durchaus, da sie von der Po-
litik die richtige Erkenntniss haben, dass sie ein Verhältniss Den-
kender zu Denkenden sei, nicht aber das Erheben einer einzigen
bevorzugten Intelligenz über die Häupter von Millionen willenloser
Geschöpfe, denen dieselbe sich allein hestimineud gegenüber
stellt. Als Mittel zur Seelenleilung freier Menschen werden wir
die Rhetorik erkennen, sowohl in der Wissenschaft, als besonders
in der Praxis.*
4.
Als ein philosophisches Curiosum ist es wohl erlaubt, die
Aufmerksamkeit dieser Gesellsciiaft einen Augenblick auf „die Phi^
losophie eines Eremiten,'' William Gravely, zu richten, d»
uns den«„Grundriss einer höheren Philosophie'' auf 63
Mitteloctavseilen für „zwei Thaler Courant" darbietet. Ein wahr-
haft kostbares Geschenk! Es kommt von einem Manne, der ge-
wiss auf sein Selbstdenken stolz ist; denn er coquettirt etwas^
wie Schelling, mit seiner Heterodoxie. Der Widersacher, ruft er
pathetisch aus (S. 45.}, ging so weit, „dass er in den Priestern
des sogenannten Christenthums sogar die Urwesenheit als ein We-
sen bezeichnete, dessen Blutdurst in dem Blute Christi theil weise
liur ftir diejenigen gesättigt sei, die an Christum glaubten." Auch
erklärt er auf der folgenden Seite die ewigen Strafen für theo-
logischen Unsinn. Nichts desloweniger verläuft er sich in einen
theogonischen Prozess der phantastischsten Art, wo offenbar die
Offenbarungen der Schelling'schen Offenbarungsphilosophie ihre
Frücdte getragen haben, da kaum zu vermuthen ist, dass der Ur- ,
({uell dieses Grundrisses bis zu Jakob Böhme's Mystik heraufsteigen
sollte. Mag Schelling an diesem Zerrbilde den Spiegel seiner eige-
nen Verirrungen erkennen, in sich gehen und davon ablassen!
Oder sollte er sie wirklich als ein erfreuliches Zeichen der Zeit
betrachten wollen, dass seine Mission eines reitenden Engels für
die Philosophie in Erfüllung zu gehen beginnt?
Die höhere Philosophie ist unserem Verfasser nun die Darstel-
lung des Positiven im Ursein (S. IV.); und dennoch soll (S. 12.)
der Mensch nicht wissen, was die Thäligkeit des Absoluten vor
dem Beginn des Daseins gewirkt habe; auch soll (S. 15.) der Geist
nur durch Verneinung erkannt werden.
Das Lange und Breite von der Sache ist, dass in zeitlicher
Ühterschiedenheit zunächst ein Urzustand der höclislen Prinzipien
geschildert wird, welches ungefähr auf die Trinilälslehre der
älteren Hegelianer vor der ßrschaffuog der Welt hinausläuft. Dar-
auf folgt in der Zeit „eine zeitbeginnliche Urschöpfung;" was eine
kritisch« Miscellen, von Michelet. 209
mm^
Schelling'schc Dämonologie vorstellt; und erst drittens kommt die
sinnliche Schöpfung herein. Der Vater heisst die Urwesenheit.
Der Sohn ist unmittelbar aus ihr hervorgegangen; „das im Sohne
der Urwesenheit von ihr ausgegangene Urebenbild ihrer selbst
wird auch der selige Geist genannt" fS. 40.} Die erste aus dem
Sohne der Urwesenheit entsprungene Ebenbildlichkeit wollte sich
nicht ihrem Willen hingeben; und das ist der Fürst dieser Welt.
Bei Jakob Böhm ist Lucifer der Erstgeborene Gottes. Hier tritt die
Gottheit zum Teufel in das Verhältniss von Grossvater und Enkel;
und man rauss gestehen, der Widersacher ist noch immer hin-
länglich hoher Abkunft. Um die Nachgeborenen zu retten, ent-
äusserle sich die Seele des Erstgewordenen ihrer Herrlichkeit,
dieselben durch ein allgemeines Naturgesetz (^den Lebensmagnetis-
lauar der Natur) an sich zu binden. „Durch dieses Gesetz ward
der Erstgewordene zum allgemeinen Naturgeist, zum Herrn, Diener,
und Träger der Natur" (S. 38). Es ist nach Schelling die zur
kosmischen Potenz gewordene zweite Person der Gottheit. Bei
unseren! Verfasser ist sie die Elohim, während der Sohn in seinem
Urständ Jehoya sein soll.
Endlich schöpft man Athem; es kommt ein Kapitel: „Allge-
meine Grundlinien der Entwickelung des socialen Lebens" CS. SO).
Es ist nur vier Seiten lang, und die Quintessenz in dem Satze
enthalten: „Alle Staaten beruhen auf der Verkehrtheit und Wider-
sprüchlichkeit der menschlichen Natur, die ohne den Zügel des
Gesetzes bis zum Canibalismus ausartete. Wie lief muss da die
menschliche Natur gesunken sein! In den Priestern schildert der
Antagonist den tiefen Verfall der Menschheit als eine weise Ein-
richtung der Gottheit, und macht diese dadurch zum Urheber des
menschlichen Elends, wozu eine grosse Lügengabe erforderlich ist"
(S. 53 -543.
Ohe jam satis est^ pueri, sai praia biberuni.
5.
Hieran schliesst sich ein Aufsatz aus dem „Neuen Repertorium
für theologische Literatur und kirchliche Statistik," besonders ab-
gedruckt unter dem Titel: „Schelling und die Theologie.*^
Der Verfasser hat es zu vertreten, wenn es in allen Verjüngungen
Schellings „nur Eine Entwickelung dieses Genius von 1792 bis
heute" sieht: nämlich „die dem deutschen Geiste nothwendige Ent-
wickelung aus Aufklärung, Kriticismus, Rationalismus, Subjectivis-
mus durch Objectivismus und Idealismus zum innerlich erfassten
und durchgeisteten — nicht Dogmatismus, sondern Positivismus
des Christenthums." Das Schiboleth der Richtung, welcher der Ver-
fasser angehört, ist damit ausgesprochen. Aber eigenthümlich ist
die Art, auf die er zeigen will, „dass dieser königliche Geist sich
an der Spitze der Widergeburt des deutschen, aus den Trümmern
der Welt sich zu Gott emporrichtenden Vaterlandes erhielt." Nach
des Verfassers eigener Computation habe sich nämlich seit Schel-
Jabrb. für spcculnt. Philos. I. 3. |^
210 ^^ philoftophisfhe GesellsrTinft sa Berlin: etc.
lings Auftreten in Berlin 26 Schriften, unter Anderem von Mar-
heineke, Paulus, Rosenkranz, Michelet, Frauenstädt u. s. w. gegen
ihn ausgelassen, die ein „unwürdiges SchauspieP um ihn her auf-
Seßibrt haben. „Das Vaterland muss darüber trauern; denn
lese Sudeleien haben es mit Schmach bedeckt. Zum Glück nur
sind die lautesten Hunde die ungefährlichsten.* Dagegen tritt Jkeine
Seele fiir Schelling in die Schranken! Und wie i^rklärt diess der
^rfasser? „Das ist diese Zeit mit ihrem nach Aussen gekehrten,
^rch Leidenschaft zerrütteten Angesicht; würden wir nicht noch
in einer Periode geistiger, und wissenschaftlicher Tyrannei leben,
der gegen Schelling erregte Scandal wäre nicht möglich gewesen.*
Der Verfasser vergisst, dass, wenn das Vaterland so beschaffen
sei, es auch über diesen Scandal — freilich aus einem anderen
Grunde — - nicht trauern konnte. Voraus ersieht nun aber der Ver-
fasser den gewissen Sieg dessen, der dieses Aergerniss gegeben?
„Wusste Schelling, dass er in eine Wüste komme, war er darauf
gefasst, dass die Hungernden und Dürstenden ein grosses Geschrei
gegen ihn erheben würden? Wir sind davon überzeugt. Dann
aber kann er nur auf die tieferliegenden, zumTheil noch schlum-
mernden Kräfte der Zeit und auf den Geist der Zukunft siph ver-
lassen haben. Und wahrlich, er hat sich darin nicht getäuscht;
sein prophetisches Auge hat richtig gesehen." Also ' wenigstens
das Geheimniss, warum seine Philosophie der Offenbarung noch
immer Geheimniss bleiben soll, ist endlich offenbar geworden I Die
jetzige Generation, die wie hungernde Hunde ihn anbellt, soll
kein Stück vom Brode des ewigen Lebens bekommen. Die noch
ungeborne Generation ist allein würdig, das ungeborne System zu
geniessen und zu benützen. Den Ruhm, ein solches noch einst zu
geben, will Schelling sich aber doch im Leben vorweg nehmen.
Und dieses Spiel, man bedenke, spielt er seit 40 Jahren, man kann
nicht sagen ohne Glück!
Site fielet.
IIL
Herr t. Drleberg und die Pliyslker«
Kritische Miscelle.
Äer rüstige Kampf des Herrn v. Drieberg gegen die Phy-
siker fängt -an, für diese eine bedenkliche Wendung zu nehmen*
Schon erheben sich Stimmen für den als Dilettanten Verschrieenen;
schon wagen Physiker von Profession sich auf den Kampfplatz,
weil sie den Angriff doch ehrenhalber nicht langer ignoriren
können. Der richtige Blick, der einst Göthe leitete, die Newton'-
sche Farbentheorie umzustürzen, hat auch Herrn v. Drieberg^ zur
Widerlegung Toricelli's geführt. Beide Männer stützen sich dabei
auf die Lehren der Griechen, die eben einer reinen Naturanschau-
ung näher standen, als der durch metaphysische Kategorien bereits
eingenommene Verstand der modernen Physiker, wiewohl ich, was
die Theorie von der Elasticität der Luft betrifft, auch den Griechen
nicht ganz Recht gebe.
Zwei Punkte sind es nun, die bei dem vorliegenden Streite
sehr wohl zu unterscheiden sind: der eine ist die Widerlegung
des Luftdrucks durch Herrn v. Drieberg; der zweite seine Er-
klärung des Barometers durch eine andere Naturkraft. Das Erste
hat Herr v. Drieberg in's vollständigste Licht gesetzt. Wie gewiss
er aber auch seiner Sache ist, so ist er doch zugleich überzeugt,
dass die Physiker die Wahrheit noch hundert Jahre unterdrücken
werden. Wohl möglich! Was kümmert das aber den Wahrheits-
forscher? Das Zweite gibt Herr v. Drieberg selbst als eine blosse
Hypothese, die nicht unantastbar sei; und hier würde ich mir eine
Modification in der Auffassung anzubringen erlauben. Hätten wir
aber auch Beide Unrecht, so würde die Falschheit unserer Er-
klärungen doch nicht die Richtigkeit des Luftdrucks beweisen, da
das Barometer immer noch eine andere Erklärung zuliesse. Doch
zur Sache! Vergessen wir aber dabei den Wahlspruch Göthe's
nicht, dass, wenn die Philosophie sich in den Streit mischt, auch
sie dahin sehen muss, dass Alles, was sie behauptet, im Ange-
sichte der Natur wahr sei.
14*
212 ^^^- philosophische Gesellschaft m Berlin :
Herrn v. Drieberg's Hauptargument ist darum so schlagend,
weil es aus den eigenen Prämissen der Physiker folgt. Ein Körper,
sagen sie, verliert in einem flüssigen Medium so viel an seinem
Gewichte, als der Theil des Mediums wiegt, den er verdrängt.
Ist er z. B. so schwer als Wasser, so ruht er im Wasser: schwe-
rer, so sinkt er, d. h. drückt nach unten: leichter, so steigt er,
d. h. drückt nach oben. Wasser in Wasser, Luft in Luft ist also
ohne Druckkraft; Fallkraft und Steigekraß heben einander auf.
Luft inXttfl ist also in vollkommenem Gleichgewicht: sie drückt
wohl als Ganzes auf etwas Anderes, aber ihre Theile drücken sich
nicht in sich. Müssten wir sonst auch nicht durch den ungeheueren
Luftdruck so vieler tausend Pfunde unser armes Gehirn so platt
gedrückt sehen, wie ein Brett? Denn dass der Druck ebenso
vieler Pfunde von unten uns retten isoll, vergleicht Herr v. Drie-
berg sehr gut mit einem Schraubenslock , der uns um so gewisser
zerquetschen müsste. Und doch merken wir von diesem Unsinn
der Theorie, Gott sei Dank, nichts! Wollen die Physiker nun
hier auch im Angesichte der Natur Recht behalten? Um es zu
behalten, erwiedern sie: Wir würden den Druck schon merken,
wenn unser Kopf luftleer wäre. Die luftigsten Hirngespinnste sind
freilich darin geblieben! Die Hypothese des Leeren ist aber auch
so eins der eingesteiften Vorurtheile des Verstandes, die ein
witziger Physiker (bei Herrn v. Drieberg, §.74, S. 101 der dritten
Auflage}, dessen Manier wir als die eines unserer geachte tsten
Collegen zu erkennen glauben, seine „Steigbügel* nennt, ohne die
er, als guter Cavallerist, nicht Schule reiteii könne. Bändigen kann
man damit allerdings das edle Boss der Natur; man wird ihm dann
aber nicht folgen wollen, wohin es uns trägt. Aus diesen Steig-
bügeln also die Physiker zu heben, darauf kommt es einzig und
allein an.
Die Erwähnung des Leeren führt mich auf den zweiten Punkt.
Anziehende Elasticität, sagt Herr v. Drieberg hier sehr gut, muss
für die Erklärung der Barometererscheinungen an die Stelle des
Luftdrucks treten: nur dass Herr v. Drieberg, um die Anziehung
zu erklären, nicht, wie der Grieche Heron, seine Zuflucht zu den
Atomen hätte nehmen dürfen, weil sie derselbe Gallimatbias als das
Leere sind, der ebenso wenig Stich hält Angesichts der Natur.
Göthe hat nun in tiefem Natursinne ein inneres Leben der Atmo-
sphäre erkannt, einen Wechsel von Zuständen derselben in ihrem
Vcrhältniss zur Erde; und lassen wir auch in der Göthe'schen An-
sicht fallen, was der unklaren Form der Darstellung angehört,
nämlich eine Verschiedenheit in der Anziehungskraft der Erde auf
den Dunstkreis, so würden die Barometererscheinungen etwa folgende
Erklärung zulassen. Das Schweben der Quecksilbersäule in der
Bohre lässt sich allerdings so fassen, wie Herr von Drieberg es
thut: nämlich als ein Angezogensein des Quecksilbers durch die
Saugkraft der sehr expandirten Luft über ihm. Der meteorologische
Prozess ist aber ein Wechsel zwischen Spannung und Erschlaffung
der Atmosphäre. AUe Ausdünstungen zehrt die Atmosphäre in
' Herr ron Drieberg und die Physiker, von Miehelet. 213
sich auf, und gewinnt dadurch eine grössere Spannkraft, Intensität
und Dichtigkeit. In diesem Zustande grösserer specifischer Schwere
steigt die Owecksilbersäule, weil sie in dem schwereren Medium
leichter wird , und also von der ausgedehnten Luft über ihr stärker
angezogen wird. Der andere Zustand ist der der Wasserbildung,
wo die Atmosphäre, aufgelöst und zersetzt, ein geringeres Gewicht
zeigt; hier fallt die Quecksilbersäule, weil sie in dem leichteren
Medium eine grössere Schwere erlangt, mit der sie der erwähnten
Anziehung mehr Widerstand leisten kann. Auf die Frage, warum
das Barometer auf hohen Bergen fallt, antwortet Herr v. Drieberg:
Vielleicht ist die Luft darum unten dichter, weil sich die schweren
Theile daselbst sammeln. Das ist freilich nur eine tautologische
Erklärung. Ich möchte daher hinzufügen; weil die Prozesse der
Verdunstung der Erde und der Wolkenbildung in den unteren
Regionen der Atmosphäre Stoff finden, so ist hier der Sitz dieses
Gegensatzes von Spannung und Erschlaffung, Zusammendrückung
und Ausdehnung der Luft. Je höher wir aber im Dunstkreis
steigen, desto mehr entfernen wir uns von dem Ausdünstungspro-
zesse der Erde, desto geringer wird also auch die Intensität der
, Atmosphäre sein.
Ich wiederhole es, diese Barometererklärung könnte falsch
sein; nichts destoweniger hat Herr v. Drieberg die Absurdität des
Luftdrucks mit sonnenklaren Beweisen zu Boden geworfen. Ja,
die Erklärung des Barometers durch die Physiker und die des
Herrn v. Drieberg könnten möglicher Weise (was hier aber aus-
zuführen, der Raum verbietetj*, als zwei verschiedene Formeln
einer und derselben Sache , sich auf einen und denselben Ausdruck
reduziren lassen. Das wird der glückliche Ausweg sein, den die
Physiker zuletzt einschlagen werden. Immer müsste der Luftdruck
in Luft stillschweigend von ihnen aufgegeben werden, wie die
Zusammensetzung des Lichts, der Wärmestoff und so viele
andere Dinge; den Luftdruck auf einen anderen, nicht in Luft be-
findlichen Körper läugnet aber Herr v. Drieberg gar nicht.
inielielet*
IV.
JLesthetllL*
Die Idee der Scköiihdt und det Kunstwerk« im Lichte unserer Zeit.
VOÄ
Verlegt yon M. Simion in Berlin. 1845. 8. S. SlH 390.
^»ie Aösthetik/ sagt Herr Mundt S.35., „wird es jetzt be-
sonders mit der eigertthümlichen Erkenntniss des menschlichen
Setbstbewnsstseins in der Form der Kunst zu thun haben, und sie
wird vorzufifsweise auszuführen haben, wie, durch welche Organe
und in welchen Formen diess Selbstbewusstsein ein künstlerisch
schaffendes wird.^ Ein guter Gedanke ! Herr Mundt Tühlt es, dasS
unseren Systemen der Aesthetik noch ein wesentlicher Bestandtheil
abgeht, nämlich die Phänomenologie des künstlerischen
Geistes. Das könnte aber unseres Erachtens nur die Arbeit eines
Mannes sein, der — selbst mit Dichtergaben ausgerüstet — auf
dem Boden der gründlichsten philosophischen Durchbildung stünde
und zugleich über eine reiche Anschauung der Kunstgeschichte zu
gebieten hätte. Denn es gilt hier nichts Geringeres, als den abso-
luten Geist der Poesie in seinem Mittelpunkte zu ergreiren und
seine ewige Entfaltung aus dem Urgründe der gesammten Mensch-
heit zu offenbaren. Es handelt sich hier um das philosophi-
sche Weltgedicht, in welchem alle Stimmen des poetischen
Bewusstseins sich zur Harmonie auflösen sollen, um die ästheti-
sche divina comoedia^ die vor keinem Abgrunde der Anschau-
ung und des Gedankens zu erbeben hat und die Kraft in sich trägt,
alle Läuterungsprozesse des Genius zu begleiten, um endlich an
seiner Seite in das Empyreum göttlicher Schönheit einzutreten. Wer
fühlt den Beruf in sich, diese Messe des absoluten Dichtergeistes
zu lesen und die Ferver's der gesammten Kunstgeschichte zu einem
solchen Feste aller Seelen za versammeln ? Wen der Geist dazu
geweiht hat, der zaudere nicht, zu thun, was seines Amtes ist^!
Wie nachhaltig ein Werk dieser Art nicht bloss auf die äst-
hetische Kritik, sondern auch auf die Produktion einwirken müsste,
Muudt's Aeathetik, vod G. Zimmermann. 215
leuchtet wohl Ton selbst ein, und wir pflichten dosshalb dem Ver-
fasser bei, wenn er an jener Stelle fortfahrt: „Dadurch wird frei-
lich die Wissenschaft von der Produktion nothwendig auch auf die
Produktion selbst zurückwirken müssen und eine Zukunft derselben
anzuerkennen haben. Denn diese wissenschaftliche Begründung des
produktiven Thätigkeitstriebes muss^ diese produktive Thätigkett
vorzugsweise als eine ewig lebendige und unversiegbare nach-
weisen, und wir werden daher von diesem Standpunkte aus die
Kunst nie als etwas Vergangenes, sondern als ein jedem vollkom-
menen menschlichen Bildungszustande nothwendig und wesentlick
Angehöriges betrachten müssen.^ Mit der letzteren Bemerkung tritt
Herr Mundt den bekannten Aeusserungen in der Einleitung zur
HegeFschen Aesthetik entgegen und macht die ewige Berechtigung
der künstlerichen Schönheit dem wissenschaftlichen Gedanken gegen-
üb^ geltend. Doch geht er offenbar viel zu weit, wenn er aus
solchen Aeusserungen, die gar nicht im Zusammenhange mit dem
ästhetischen Systeme HegeFs stehen, Consequenzen für die ganze
Stellung dieses Denkers auf dem künstlerischen Gebiete zieht.
Denn so wenig der Philosoph sich durch die von Hegel aufgestellte
Metaphysik des Schönen befriedigt finden kann, so, entschieden
wird er die im zweiten und dritten Theile der Hegerschen Aesthe^
tik auftretende geniale Druchdringung des Concreten,.
sowohl hinsichtlich der historischen Entfaltung der in der Kunst
veranschaulichten Weltansicht, als auch in Bezug auf das System
der einzelnen Künste und der Dichtgattungen anerkennen und be-
wundern. Ein Mann, der mit dieser Pl^tik der poetischen An-
schauung und zum Theil mit dieser feurigen Begeisterung von
den Produktionen der Phantasie, gesprochen hat, wie Hegel, muss
wohl — seinen sonstigen Versicherungen zum Trotze — ^ einen
tiefen Glauben an die noch immer gegenwärtige, lebendige und
durch die Speculation keineswegs antiquirte Kunst in sich getragen
haben. Wenn aber Herr Mundt S. V. die Behauptung aufstellt:
^der Hegel'schen Aesthetik werde man zwar ihre grossen Ver-
dienste nicht absprechen können, die jedoch rein logische und
dialektische seien, indem der absolute Denker den Organismus des
wissenschaftlichen Gedankens auch auf dem Gebiete der Kunst
durchzuführen und anzuwenden gesucht habe und der Ausgangs-
punkt dabei das vorhandene philosophische ^System in
seinen bestimmten Kategorien, nicht die lebendige Un-
mittelbarkeitdes Völkerdaseins selbstgewesensei, wess-
halb die Kunst bei Hegel nicht in ihrer wahren und unmittelbaren
Freiheit habe zur Anerkennung gelangen können, sondern
hier recht eigentlich hinter die Philosophie zurücktreten müsse,*
so verweisen wir den Verfasser vorerst auf die Darstellung des
orientalischen Geistes im ersten Bande der Aesthetik und fragen
ihn, ob er einen deutschen Geschichtschreiber zu nennen wisse,
dem ein mächtigeres Organ für die Auffassung „lebendiger Un-
mittelbarkeit des Völkerdaseins* zu Gebote gestanden habe, als
unserem Hegel? Sodann machen wir ihn auf die grossartigen
216 Mondt'0 Aesthetik, von G. Zimmermanii.
^unstgeschinhtlichen und ästhetisch- kritischen Partien der Aesthelik
aufmerksam , in denen Winckelmann's Geist , aber durch umfassen-
deres Wissen und tieferen Ernst des Gedankens und der Gesinnung
gereinigt, aus seinem Grabe auferstanden zu sein scheint, z. B.
auf die Abschnitte von dem Pantheismus der Kunst Bd. L S. 457.
flg., von der religiösen Liebe in der romantischen Kunst Bd. II.,
S. 149. flg., von der Liebe als dem romantischen Ideale S. 178.
flg., von dem Wesen der Haierei im dritten Bande, vorzüglich
^. 33. flg , sowie von der geschichtlichen Entwickelung dersdben,
S. 101. %, vom Epos, S. 331. flg., besonders vom homerischen,
und von der Geschichte der Lyrik , S. 466. flg. Dass aber Hegel
'seinen „Ausgangspunkt^ nicht von der „lebendigen Unmittdbai^eit
des Völkerdaseins selbst^, sondern von dem „vorhandenen philo-
sophischen Systeme in seinen bestimmten Kategorien^ nimmt, liegt
ganz und gar in dem Sinn und Geiste seiner Aufgabe, die eine
rein -wissenschaftliche ist und darum ein dilettantisches Hin- und
Herreden, Raisonniren und Phantasiren, wie Solches in ästhetischen
Damencirkeln und theilweise auch in der Mundtischen Aesthetik an
seinem Orte sein mag, nicht zulässt. Es ziemt sogar dem Philo-
sophen, nicht bloss, wie der Verfasser von Hegel meint, seinen
Ausgangspunkt von einem vorhandenen (^vielmehr: von einem
freigeschafienen oder mit Freiheit anerkannten} Systeme zu neh-
men, sondern dasselbe in die kleinsten und verborgensten Fasern
der positiven Wissenschaft eindringen zu lassen und das Gegebene
ganz und gar in den speculativen Gedanken umzuwandeln. Wenn
er dabei bestimmte Kategorien in Anwendung bringt und sich
nicht in flauen und nebulösen Phrasen gefällt, so wird ihn Herr
Mundt desshalb gewiss nicht tadeln wollen. Vielmehr läge es wohl
nur an der Unsicherheit seiner eigenen Kategorien, wenn es schei-
nen möchte, als habe er einen Vorwurf der Art gögen den gros-
sen Systematiker im Sinne gehabt. Glaubt nun der Verfasser
ernstlich, eine strenge philosophische Durchdringung der concreten
Schönheit könne nur dazu dienen^ die letztere in ein schiefes Licht
zu stellen und das Wesen derselben nicht — wie es der Philo-
sophie zukäme — zu verklären, sondern, wenigstens theilweise, zu
vernichten, so begreifen wir überhaupt nicht, wie er auf den Ein-
fall gerathen konnte, selbst eine Philosophie des Schönen zu schrei-
ben, er müsste denn auf gut theologisch die Speculation als
blosse Magd der Kunst und des ästhetischen Lebens betrachten,
wofür sie sich höflichst bedanken würde. Dass sie sich wenigstens
nicht in die Dienste des Herrn Mundt begeben hat, geht aus der
Rath- und Hilflosigkeit hervor, mit welcher er sich in den meisten
Fällen selbst zu bedienen sucht. Seine Ausfälle auf Hegel, dem
er zwar auf dem ästhetischen Gebiete seine „grossen Verdienste*
nicht abstreiten will, machen übrigens einen um so unangenehmeren
Eindruck, als Herr Mundt hinsichtlich der wissenschaftlichen Dar-
stellung, des akademisch-rednerischen Golorits und selbst einzelner
durchaus particulär- eigen thümlicher Wendungen des grossen Philo-
sophen geradezu als Nachahmer desselben auftritt. Schade für
Mundl's Aesthetik, von G. ZimmcrmanB. 217
einen Mann von diesen stylistischen Tiilenten und dieser lebens-
frischen Anschauung, dass er sich so weltvergessen, seine Selbst-
ständigkeit so leicht aufgeben konnte! Wer im Hegel'schen Idiome
reden will, der muss das System dieses Meisters gründlich studirt,
seinen Gehalt sich ganz zu eigen gemacht haben, in dem muss
der Standpunkt HegeFs zum Pathos geworden sein. Uebrigens
wird sich in solchem Falle ein Mann von freiem Streben und ge-
sundem Selbstgefühle nicht anders zu seinem Vorbilde und den von
demselben herausgeschaffenen sprachlichen Stoffen verhalten, als
etwa Aeschylos zum Homer, von welchen jener etwas ganz An-
deres, als Reproduction des poetischen Styles im Sinne hatte,
wenn er behauptete, seine Dichtungen seien Brocken, die er vom
Tische des jonischen Sängers aufgelesen habe.
Was nun die Systematisirung des gegenwärtigen Lehrbuches
anbetrifft, so beschäftigt sich der erste Theil mit der Idee der
Schönheit, der zweite Theil mit dem Kunstwerke als der
verwirklichten Schönbeitsidee. Der erste Theil enthält
nicht bloss die Metaphysik des Schönen, viehnehr handeln
davon bloss 6 Abschnitte desselben, nämlich 1. von der Erkenntniss
der Schönheit, 2. von dem Schönen als Idealismus der Unmittel-
barkeit, 3. von der Idee der Unmittelbarkeit in der Philosophie,
4. von den näheren Bestimmungen dieser Idee, 5. vom Schönen
als dem Charakteristischen, 6. vom Bilde und vom Gedanken. Die
übrigen 2ö Abschnitte greifen in die Phänomenologie des
künstlerischen Geistes (so die Lehren vom Genius, vom Ta-
lent und Genie, von der Phantasie, u. s. w.} und in die ge-
schichtliche Darsteljung der Kunstideale (so die Ab-
schnitte vom symbolisch -mythischen Ideale, vom plastischen Ideale
des Hellenismus, u. s. w«} ein. Der zweite Theil dagegen be-
schäftigt sich noch ausser dem, Kunstwerke mit der Natur-
schönheit und befasst unter dem Begriffe des Ersteren auch die
schöne Persönlichkeit, was nur bei einer sehr einseitigen Auf-
fassung der letzteren möglich ist.
Aus den metaphysischen Partieen theilen wir einige Hauptsätze
mit. S. 54. Die „geheimnissvollen Bewegungen, mit denen das
Schöne die ganze Welt durchdringt, sie weisen — nur auf die
in der Welt unendlich zersplitterte göttliche Idee zu-
rück, die zur wahren Einheit mit der Welt zu erheben, zur vollen
Durchdringung mit der Wirklichkeit zu bringen, überall von den
Bildnerversuchen der Schönheit erstrebt wird , — die Schön-
heit ist selbst dieses Heimathlichwerden der Idee in der Wirklich-
keit, sie ist die als Wirklichkeit gestaltete Idee selbst, gestaltet
mit dem besonderen Zwecke, in die Anschauung zu treten, als
höchster Schein der Wirklichkeit." Ferner S. 57. „Die
Kunst des Schönen hat es mit der Absolutheit der Form zu
thun, in welcher alle Idee aufgeht, aber so, dass sie darin zur
Erscheinung kommt. Denn das ist eben das Schöne, dass die Idee
in die Erscheinung tritt, aber nicht die Erscheinung zerfrisst, wie
es bis jetzt vorzugsweise der Philosophie Werk gewesen. Das
2t 8 Mundt*8 Aesthetik, Ton G Zimmermann.
SchcHie, als diese absolute Form der Wirkliebkeil, wird aber darin
zum eigentlichen Idealismus der Unmittelbarkeit, und wir
haben in diesem Sinne das Schöne vorzugsweise als den Idealismus
der Unmittelbarkeit zu bestimmen.^ Dieses Prinzip, das' der Ver-
fasser S. VI. als ein von ihm „neu aufgestelltes^ bezeichnet, wird
sodann, nachdem er sich über den Standpunkt HegeFs und Schel-
ling's verbreitet und unter Anderem bei dieser Gelegenheit (S. 58.)
einen „giftigen Krebsschaden der HegeFschen Philosophie^ aufgedeckt
bat, von Seite 64. an entwickelt. „Das unmittelbare Leben ist nicht das
endliche Leben, sondern es ist das sich vollbringende göttliche
Leben der Wirklichkeit; es ist die ächte, unversiechliche Quelle
der Thaten und Begebenheiten, die Unmittelbarkeit ist die That
der Gottheit selbst, die That ihrer Verwirklichung.'' Der Verfasser
stellt, wie es nach dieser Stelle scheinen könnte, die Existenz der
Endlichkeit ganz und gar in Abrede; Alles, was ist, präsentirt sich
ohne Weiteres als Leoensentfaltung der Gottheit. Hiermit wären
wir dann über alle Qualen und Widersprüche des Bewusstseins
glücklich hinausgehoben, wir hätten nichts Weiteres zu thun, als
die Frucht des Absoluten, die uns allenthalben in süsser Reife von
den Bäumen der WirUichkeit entgegenwinkte, zu brechen und zu
geniessen. Wir könnten uns dann auch die Mühe des künstlerischen
Schaffens ersparen; denn im Grunde müssten wir doch die ganze
Welt, wie sie da ist, für das freie Dasein der Idee, für reine Er-
scheinung derselben, für schön halten; es käme nur auf uns an,
die Dinge etwas genauer zu betrachtea, und wir würden die Poe-
sie überall schon fix und fertig uns entgegenkommen sehen. Doch
lassen wir Herrn Mundt weiter reden. S. 70. „Das unmittelbare
Leben der Völker ist — weder ihre endliche Wirklichkeit, noch
ihr Naturzustand, aus dem sie herausgedrängt worden durch die
Entwickelung der Geschichte, sondern es ist die sich fortge-
staltende wahre Lebenskraft selbst^'' [die sich aber doch
allenthalben zum Kampfe mit der Lüge, d. h. mit dem Reich der
abstracten, partikulären Endlichkeit, genöthigt sieht], die sich
unaufhörlich dadurch zum Bewusstsein bringt, dass sie sich ge-
staltet, es ist das acht menschliche und geschichtliche Leben,
das sich ganz und gar hat, indem es sich in die Zukunft hinein
entwickelt." Ich dächte doch, nur derjenige habe sich selbst, der
sich selbst zum Gegenstande des Bewusstseins mache; denn diess
ist die einzig denkbare Weise, wie man sich selbst in Besitz
nehmen kann. Auf dieser Selbsterfassung ruht aber die ge-
schichtliche Entwickelung des Menschen , im Gegensatze zur natur-
nothwendigen der Thiere, die eben „in die Zukunft,^ oder, ' wie
man sprüchwörtlich sagt, in den Tag hinein leben. „Jede gewalt-
same und durch Umwälzungen erworbene Erkenntniss ,^ heisst es
weiter, „wieder unmittelbar zu machen, d. h. sie hinein zu ge-
stalten in den Lebensproze^s der Wirklichkeit, diess ist der eigent-
liche Bewegungspunkt jeder Zeit, auf dem sich ihr Schicksal ent-
scheidet." Ganz richtig! Die Philosophie darf nicht bloss im Sy-
stem, im Buche oder Kathederhefte stehen bleiben, sie muss vielmehr in
Mandt's Aesthetik, von 6. Zimmermann. 219
den Staat, in die Gesellschaft, in die Familie u. s. w. eindringen
nnd ihre Resnltate in *LebensIufl umwandeln, die wir einathmen,
ohne uns dessen bewusst zu werden. Auf diese Weise bildet sich
jene Naivität der Freiheit, die mit der zweiten, d. h. ira
Geiste wiedergeborenen Kindschaft der christlichen Ethik yollkom-
men übereinstimmt. „Auf verschiedene Arten," sagt Herr Mundt,
„können die Völker solche Yermittelungen erfahren, aus denen sie
jedesmal, mit Bethätigung aller ihrer historischen Kraft, ihre Un-
mitlelbarkeit Wieder herzustellen suchen werden. Die Vermittelung
durch die Philosophie haben wir schon im Allgemeinen betrachtet,
und die Geschichte der sich abwechselnden und verdrängenden Sy-
steme liefert gerade den nachdrücklichsten Beweis, dass jedes
System der Erkenntniss immer wieder von dem unmittelbaren Leben
weggezehrt wird und darin seinen Untergang zu finden**
[Herr Mundt will sagen: aufgehoben zu werden] „bestimmt ist,
indem es sich in das Fleisch und Blut derselben, in eine hinwan-
delnde C?} Thatsache umbilden muss. Das Höchste, was eine
l^hflosophie zuletzt werden kann , ist doch nur wieder das gestaltete
Leben selbst, die Unmittelbarkeit.* Gut! Die Philosophie soll aller-
dings in diese Unmittelbarkeit übergehen; aber abgesehen davon,
dass es, die Weltgeschichte im grossen Ganzen angesehen, bis da-
hin so ziemlich bei diesem Sollen geblieben ist, so würde selbst
durch ein völliges Aufgehen der philosophischen Resultate in der
Wirklichkeit die Philosophie, als die wissenschaftliche Erfassung
des wahren und ewigen Let)ensgehaltes, keineswegs überflüssig ge-
macht werden, sowie denn auch nicht zu erwarten stünde, dass
sie auf ihrem jeweiligen Standpunkte verharren und nicht, wie es
bis dahin immer geschehen ist, dem wirklichen Leben als Prophetien
und Lehrerin voraneilen würde. ^Darum blühen alle philosophi-
schen Systeme so rasch wieder ab und müssen so rasch ver-
gehen,* [wir behaupten, dass bis jetzt noch kein pbfloBophf«
setaefi System verblüht und vergangen sei, sondern dass sie alle
noch leben], „weil jede menschliche Erkenntniss doch zuletzt wie-
der in Stofl^ sich verwandeln muss, in den Stoff der in göttlicKer
Macht dahinwandelnden Wirklichkeit,* [zu der übrigens der Mensch
mit seinem Denken, sogar der Philosoph, und wenn er auch weiter
nichts, als ein realisirter Einfall des göttlichen Humors wäre, in
jedem Falle mitgerechnet werden müsste.] S. 72. flg. „In allen
wirklich gesunden Lebenszusländen erweist sich daher die Unmittel-
barkeit als das waltende göttliche Lebensgesetz, das seine Be-
friedigung findet in der That und zu sich selbst gekommen ist in
der Gestalt. Das Schöne ist die Unendlichkeit dieser Un-
mittelbarkeit, und nicht bloss die Einheit des Bewussten und
Bewusstlosen im Kunstobjecte, wie es Schelling in seiner Definition ge-
nannt hat. Denn das absolut Unmittelbare, das in der Schönheit
und in der Kunst zur Erscheinung kommt, hat auch stoffartig
gar nichts Bewusstloses mehr an sich, sondern es ist das
gestaltete Bild jener göttlichen Lebenseinheit selbst.
220 Nundt's Aeslhettk , von G. Zimmermann.
in welcher dos Bewusstseln als die treibende Lebenskraft in der
Wirklichkeit selbst gesehen wird.^ Im Schönen also macht es die
Idee an und in der Wirklichkeit selbst offenbar, dass diese nichts
ist, als die Lebensentfaltang der Idee selbst. Das Schöne ver-
gegenwärtigt die absolute Tiefe der Unmittelbarkeit. Der Geist
wird in ihm als in Natur und Sinnlichkeit ganz aufgegangen und
darin bis in die feinsten Fasern lebendig angeschaut. Damit ist
aber die Bewusstlosigkeit des Stoffes nicht aufgehoben, vielmehr
nur die Bedeutung desselben herausgestellt. Eine Blume, ein
Strom, eine Lan(£chaft treten im Kunstwerke als Symbole des
Geistes, als Prophezeiungen der Freiheit auf, — sie selbst aber
erheben sich dadurch nicht über die Stufe bewusstloser Natürlichkeit.
So wird in der Skulptur die architektonische Schönheit des Leibes
zwar in ein Organ umgewandelt, in dem sich die freie Persön-
lichkeit zur sinnlichen Erscheinung bringt; aber die Glieder ab
solche geben dadurch den Zustand der Bewusstlosigkeit nicht auf;
Selbst der freie Inhalt, wie ihn der Meister des Werkes offenbart,
tritt nur theilweise im Bewusstsein aus ihm heraus; er wird selbst
überrascht, wenn er seine Arbeit vollendet vor sich stehen sieht,
und begreift gar nicht, wie das Allei^ unter seinen Händen hat
wachsen können. Der fremde Betrachter sogar muss es sich ein-
gestehen, dass in seinem Inneren durch das Kunstwerk solche
Wirkungen hervorgebracht werden, die er sich niemals in Worten
ausdrücken und klar machen kann, dass er durch die Aufnahme
des Schönen in seinem verborgenen Seelenleben, wohin kein Blick
der Beobachtung und Betrachtung zu dringen vermag, wie durch
geheime Zaubermächte genährt wird. Der Verfasser deutet diess
selbst an, wenn er gleich darauf sagt: „Das Ideal ist allerdings
das Absolute, aber nicht das begriffsmässig Absolute," — also
nicht das Absolute, wie es im vollen Bewusstsein, d. h. im Ele-
mente des reinen Gedankens, sich darstellt, „welches gar keine
Existenz hat," qmd est demomtrandum^ „sondern das Absolute
erschienen," d. h. in der Endlichkeit und Wirklichkeit vergegen-
wärtigt „als das Unmittelbare, welches existirt," soll heissen: als
die Idee, welche unmittelbar existirt. Mit dem sogleich darauf
folgenden Satze: „Das Ideal, welches wir heutzutage suchen und
wollen, es muss ein existirendes sein, und kein anderes kann
und darf uns mehr in allen unseren Zuständen befriedigen," tritt
aber der Verfasser mitten in den Kreis der Weltanschauung hinein,
cUe uns in der HegeFschen Logik eröffnet wird, und' so muss er
sich am Ende doch zu den Ueberzeugungen seines Gegners be-
kennen. Wie wenig indessen der Genius der Dichter bis auf die-
sen Augenblick mit einer solchen Betrachtungsweise der Dinge
einverstanden gewesen ist, das lehrt die Geschichte der Literatur
auf allen ihren Blättern und würde in einer auf der Grundlage
derselben erbauten Phänomenologie des poetischen Bewusstseins
mit besonderer Umsicht entwickelt werden müssen. Dass die Welt
nicht so beschaffen ist, wie sie sein soll, sondern dass „etwas
Mandt's Aesthetik, von G. Zimmerman. 221
krankt im Staate Dänemark,^ sa^t uns die gewöhnlichste äossere
Erfahrung, sagt uns der tiefe Zwiespalt in unserem Bcwusstsein,
sagt uns die Geschichte der Religion und der Philosophie, und die
Kunst darf und kann, als Ofienbarungsform der Wahrheit, von kei-
nem anderen Standpunkte, als von diesem, ausgehen. Doch wir
wollen Herrn Mundt weiter reden lassen: „Das höchste Heraustreten
der Schönheit an einem Menschen, das uns am meisten entzückt,
wird immer jene seine unendliche Unmittelbarkeit sein, jenes
unendliche Henschsein in ihm, das seine Absolutheit durch Augen,
Züge, Gesicht und Bewegung in die unmittelbare Erscheinung hin-
austreten lässt. Wir sind schon früher zu der Bemerkung gelangt,
dass der wahre Begriff der Schönheit zugleich der wahre Be-
griff des Lebens ist. Wenn wir aber den Begriff des Lebens
vorzugsweise dahin bestimmen wollen, dass es das organisch ge-
wordene richtige Verhältniss von freier Bewegung und noth-^
wendigem Gesetze ist, so tritt uns darin zugleich jener sieg-
reiche Organismus der Schönheit entgegen, der das Räthsel dieses
Einsteins von Geist und Materie in sich gelöst hat.^ Das
Leben ist allerdings ein Moment der Schönheit; aber nicht alle
Stufen des Lebens entsprechen dem Standpunkte der Schönheit.
Folglich ist der Begriff des Lebens nur eine einzelne Bestimmung
im Begriffe der Schönheit. Was aber die freie Bewegung betrifft,
so gehört sie bekanntlich nicht allem Leben an, wie sich denn
z. B. die Pflanze lediglich nach dem Gesetze der Nothwendigkeit
entfaltet. Ausserdem hat es die Schönheit nicht bloss mit der
Ausgleichung von Geist und Materie, sondern auch vorzüglich mit
der Versöhnung des Geistes in sich selbst zu thun. „Wie aber,^
heisst es weiter, „die fortschreitende und höhere Naturwissen-
schaft da Leben aufgefunden hat, wo man früher nur todte und
unbewegte Massen gesehen, so wird man. auch, über-
all Schönheit finden, wo man sie sonst in der Welt nicht ge-
sehen, wenn man das höhere Leben der Unmittelbarkeit immer
mehr in seine Erkenntniss aufgenommen.^ Warum das nicht?
Nur wird Herr Mundt mir und Anderen den ästhetischen Abscheu
vor Kröten, Molchen, Ratten, u. dgl. nicht austreiben können^ so
wenig, als wir gewöhnlichen Menschen, deren Enlwickelungsge-
schichie der Aufstellung des neuesten kunstphilosophischen Prinzips
vorausgegangen ist, im Stande sein möchten, uns bei dem An-
blicke dos namenlosen Elendes und Verderbens, in das wir unser
Geschlecht versunken sehen, zufrieden zu geben. „Und eine auf
diese Idee der Unmittelbarkeit begründete Kunst und Kunstbetrach-
tung wird daher Vieles dem Gebiete des Schönen zurechnen müs-
sen, was sonst von demselben am liebsten ausgeschlossen wurde,
und sie wird namentlich auch das Hässliche und die Sünde
selbstalseinen eigenthümlichen Gegenstand der schönen
Kunst zu erkennen haben.^ Das Letztere versteht sich ganz
von selbst, und die Dichter und Künstler haben es sich niemals
nehmen lassen, in das Gebiet ihrer Darstellungen alles dasjenige
222 Mondt'fl Aesthelik, tod G. Zimmermann.
mit herein zu ziehen, was von der Idee abgefallen ist und im Wi-
derspruche mit ihr steht. Denn sie gingen nicht darauf aus, dein
Gebiete der Geschichte, der Sage und Natur bloss den an und für
sich schönen Stoff zu entnehmen, sondern sie strebten danach, den
ganzen Umfang der Wirklichkeit unter das Licht der Idee zu
bringen und dadurch das Existentielle in seinem Verhältnisse zur
Wahrheit zu offenbaren. Was sie verherrlichen wollten, war im
Grunde nur die Idee, und diesem Zwecke konnte der Zerstörungs-
prozess, den das Böse undHässliche in der von der Idee gelenkten
und durchdrungenen Welt erfahrt, ebensowohl dienen, als die po-
sitive Lebensentfaltung eines Daseins, das in der Idee ivurzelt,
von ihr genährt und erhalten wird. In diesem Sinne sagte schon
Göthe von den Griechen: ,)Sie beabsichtigten nicht, das Schöne
darzustellen, sondern das Bedeutende.^ S. 75. bemerkt unser Ver-
fasser, indem er in seinem Vortrage über das Prinzip der Un-
mittelbarkeit fortfährt: ,)Die Ansicht von dem höheren Leben der
Unmittelbarkeit wurde eigentlich schon durch die Naturphilosophie
und zuerst durch dieselbe in Deutschland erweckt. In der Schel-
ling'schen Naturphilosophie war die Einheit von Natur und
Geist das Grundprinzip geworden, und daraus hatte sich d^
eigenthümliche Satz ergeben: dass die Natur „nichts Anderes sei,
als der sichtbare Geist!'' Indem der Natur unbedingte Rea-
lität, wahres Sein und absolute Thätigkeit zuerkanntwurde,
ward darin die erste Stufe zu der grossen Vermittelung der
resammten Wirklichkeit, um die es sich handelt, aufgestellt.''
rVenn man die Erscheinungen der Geschichte und des freien Gei-
stes überhaupt in die Natur hineinziehen will, — was aber dem
Genius der Sprache widerstreitet — so mag man wohl den sicht-
baren Geist allgemein als Natur bezeichnen. Nur wird man als-
dann die Realität der Letzteren bedingt finden müssen, bedingt
nämlich durch den Geist, der sich in ihr verwirklicht. Will man
nun ausserdem nicht in den schlechtesten Pantheismus zurück-
fallen, so wird man wohl zugestehen müssen, dass die Natur oder
Welt der Erscheinung nicht durchweg wahres Sein hat, sondern,
vielfach in Lüge und Widerspruch verstrickt, nur da wahrhaft ist,
wo sie auch in der That als Offenbarung des Geistes auftritt. Ab-
solute Thätigkeit aber kann nur dem Geiste zukommen, der sich
in der Natur und durch sie zur Erscheinung bringt. Was sodann
die „grosse Vermittelung der gesaramten Wirklichkeit" betriflft, um
die es sich handeln soll, so kann davon nicht eher die Rede sein,
.als bis der Zwiespalt der Wirklichkeit in sich selbst mit dem gan-
zen Ernst und 'Tiefsinn, den die Betrachtung dieses Gegenstandes
verlangt, an's Licht herausgestellt ist, eine Aufgabe, zu deren Lö-
sung Herr Mundt sich nicht einmal angeschickt hat. Diess wird man
denn auch sehr leicht aus den folgenden Worten erkennen: „Das
Gesetz des Geistes sollte das Gesetz der Natur sein. Es
sollte also nicht mehr zwei Gesetze in der Welt geben, in wel-
cher Zweiheit der tiefste Bruch des Lebens, die Unfreiheit und die
f,
Mandt^s Aesthetik, von 6. ZimmermAan. 223
Hässlichkeit sich begründet hatte* [M^ Sünde war also dar-
aus entstanden, dass man den Dualismus von Geist und Natur in
sich empfand, und sodann sollte durch die von Schelling eröffnete
Einsicht in das wahre Verhältniss zwischen diesen beiden Momenten
die Macht des Bösen und des Uebcls schleunigst gebrochen werden I],
sondern nur ein Gesetz, in dem sich die ganze Welt zusammen-
fefiigt und darin ihre Freiheit, ihr Glück und ihre Schönheit wie-
ergefunden." Wohl dem, der es über sich gewinnen kann, die
Wirklichkeit durch diese schöne Brille anzusehen und das Alles
für hypochondrische Einfälle zu halten, was Religion, Philosophie
und Kunst im entgegengesetzten Sinne so oft und nachdrücklich
ausgesprochen haben! Was der Verfasser noch S. 76. flg. über
Lebenskunst und Kunst im engeren Sinne des Wortes beifügt, ist
ganz oberflächlich und kann hier füglich übergangen werden. Den
dort berührten Gegensatz zwischen der Idee und dem Bilde bringt
er noch einmal S. 142. flg. in einem eigenen Kapitel zur Sprache,
das einige beachtenswerthe Stellen enthält.
Wir begnügen uns damit, dem Leser diese wenigen Proben
aus den eigentlich metaphysischen Abschnitten mitgetheilt zu haben.
Er wird dadurch zur Ueberzeugung gekommen seinj, dass Herr
Mundt, ein übrigens sehr geist- und kenntnissvoller Mann, dessen
wohlverdienten literarischen Ruhm wir am wenigsten schmälern
vrollen, ganz andere Anstrengungen des wissenschaftlichen Denkens
auf sich nehmen muss, wenn er vor einem philosophischen
Publikum bestehen will. Das Gebiet der Metaphysik lässt sich ein-
mal nicht mit dem Spazierslöckchen durchstreifen, und, ohne sich
mit ihr gründlich und tücfitig vertraut gemacht zu haben, wird
man bei allem Reichthum kunslgeschichllicher Anschauungen und
aller Feinheit der Reflexion, wie solche Eigenschaften — beiläufig
bemerkt — von Herrn Mundt in anderen seiner Schriften weit
glänzender, als in der vorliegenden, entwickelt worden sind,
kein System der Aesthetik für ein Auditorium aufzustellen ver-
mögen, das in seiner philosophischen Bildung über den Gesichts-
kreis akademischer Füchse und ästhetischer Damen hinausgekom-
men ist.
Die geschichtsphilosophischen Beslandtheile des Werkes bieten
manche recht interessante und anziehende Bemerkungen dar, in
denen jedoch kein wesentlicher Forlschritt über die bisherigen
Leistungen zu erkennen ist, während diese Entwickelungen im
Ganzen und Allgemeinen den Charakter des geistreichen und pi-
kanten Dilettantismus an sich tragen. Gewisse Leser werden sich
freuen, in jenem Zusammenhange auch (S. 168. flg.) eine Ab-
handlung über die türkische Blumensprache anzutreffen, die von
Solger und Hegel aus offenbarer Vergesslichkeit übergangen wor-
den ist.
Was schliesslich die Auseinandersetzungen über die verwirk-
lichte Idee oder das Kunstwerk, insbesondere das S. 302. flg.
aufgestellte System der einzelnen Künste betrifil,. so heben
224 Miiiidt*! Aeslhelik, ron G. Zimmermann.
wir dort mit der freudigsten Anerkennung die schwungvollen und
zum Theil wahrhaft tiefsinnigen Bemerkungen über den Geist der
Musik (S. 344. flg.} hervor, die uns zugleich den hinreichenden
Beweis Uefem, dass Herr Muudt, wenn er aus dem Philosophiren
Ernst machen wollte, auch auf diesem Felde sich Lorbeeren er-
werben könnte.
Worms, den 26. Juli 1846.
Dr. Geors Zlmniermaiin.
SclielUng^s Torwort zu IE« Steffens^ naeli-
Selassenen Seliriften.
Berlin^ 1846. S. III. — LXm. (Ans einem öffentlichen Vortrag zu H« Stef-
fens' Andenken, gehalten am 24. April 1845. Mit einigen Erweiterungen.
£s bedarf wohl keines besonderen prophetischen Blicks, um
die Ueberzeugung zu gewinnen, dass wir gegenwärtig in einem
geistigen Gährungsprozesse begriffen sind, aus welchem sich eine
neue religiöse Gestaltung herauszuringen strebt. Von verschiedenen
Standpunkten aus bewegen sich die geistigen Regungen der Gegen-
wart um grosse religiöse Interessen. Es handelt sich nicht um
den Sieg einer besonderen religiösen Richtung, etwa des Rationa-
lismus oder des Supranaturalismus, des Auktoritätsglaubens oder
der Gefühlsreligion, nicht um Katholicismus oder Protestantismus,
oder um Deutschkatholicismus und Neuprotestantismus; in letzter
und höchster Beziehung handelt es sich in der Gegenwart und
nächsten Zukunft vielmehr um Höheres und Grösseres, als der-
gleichen Besonderinteressen sind, welche nur soweit eine allge-
meine, welthistorische Bedeutuug erlangen werden, als sie den
Einen grossen Gedanken des Jahrhunderts sich zum Bewusstsein
gebracht haben und die lebensvolle, allein zukunftkräftige Idee
der Freiheit des Geistes mit selbstbewusster Energie zu ihrem
eigenen Pathos machen. Diese Idee ist aber nichts weniger als
eine hohle Phrase und gehaltlose Floskel, die einer Rotte von
Charakter- und gemüthlosen Schwarmgeistern zur Parole diente;
sie hat vielmehr das Höchste und Tiefste zu ihrem substantiellen
Inhalte, sie ist mit dem Heiligsten, was die Menschheit besitzt,
ihrer Religion und sittlichen Würde, eins und dasselbe. Die AU-
Jegenwart des Ewigen in der sittlichen Menschenwelt, derMensch-
eit göttlicher Geist ist die unverwüstliche Kraft jener Freiheit,
die der Grundgedanke des Christenthums ist.
Ein unbefangener Blick in die religiösen und kirchlichen Ver-
hältnisse der Gegenwart zeigt zur Genüge, dass die von der freien
philosophischen Bewegung der Gegenwart, sei es aus Eigensinn,
Jabrh. für sptculat. Pbilofl. 1.2. jg
226 Schetling's Vorwort zu Steffens'
oder aus Unverstand, sich abschliessende Kirche bisher gänzlich
unvermögend gewesen ist, aus dem Dogmatismus religiöser Vor-
stellungen und Meinungen die Religion selbst zu einer neuen,
lebenskräftigen Form wiederzugdbären. Und doch wird eine solche
freie Regeneration immer dringender gefordert in einer Zeit, wo
auf der einen Seite die hektische Gereiztheit und der zelotische
Fanatismus einer innerlich ohnmächtigen Orthodoxie, andererseits
der irreligiöse Radicalismus unserer socialistischen Sensenmänner
und modernen CuUurpolitiker, welche die Emancipatien von aller
und jeder Religion als die Krone der menschlichen Selbstbefreiung
verkündigen und jeden Funken von religiösem Leben an den Mo-
loch ihrer vermeinthcben menschlichen Emancipation hinopfern, sieb
auf das Schroffste gegenüberstehen. Unter solchen Umständen ist
die Frage nach dem wesentlichen und ewigen Kern des Chri-
stenthums zur eigentlichen Lebensfrage der Zeit geworden. Um
aber das Christenthum der Gegenwart zu begreifen und die ewige
Religion des Geistes in ihrer Reinheit und Idealität zum allgemeinen
Bewusstsein zu bringen, hat die Wissenschaft auf die Vergangen-
heit des Christenthums, auf seine Entstehung zurückzugehen; nur
aus der allseitig entscheidenden Kritik seiner bisherigen Erschei-
nungsformen lässt sich der wahrhaft positive, ideale Gehalt des-
selben mit Sicherheit und Evidenz herausstellen. Das positive
Christenthum ist, weil entfernt, durch die kritischen Bestrebungo«
der Gegenwart gefährdet zu sein, gerade auf dem Wege, in sei-
ner ewigen Wahrheit und Idealität erst recht erkannt zu werden.
jVicht auf Seifen der capricirten Orthodoxie, die das Christenthum
für sich allein gepachtet zu haben meint, ist der walirhaft positive
und conservative Standpunkt, sondern auf der Seite des Fort-
schritts von den beschränkten und unangemessenen, nur relativen
Formen zur lebendigen, absoluten Idee desselben. Nur auf dem
Wege der Negation lässt sich die höchste, absolute Positivität ge-
winnen.
Es ist wirklich eine erstaunliche Naivität, mit welcher gegen-
wärtig noch weit die meisten unserer protestantischen Theologen
und Geistlichen sich fortwährend zu den positiven Resultaten der
bisherigen biblischen und dogmatischen Kritik verhalten und, ohne
über sich selbsft zu erröthen, immerfort beweisen, dass sie Nichts
gelernt und Nichts vergessen haben. Diese guten Leute machen
sich beständig dieTäuschuug vor, die Kritik sei so sehr bloss ver-
neinender Natur, dass die Resultate derselben wenigstens noch vor
dem Volke sorgfältig geheim gehalten werden müssten, wenn nicfct
das ganae historische Christenthum und alles Positive In der Reli-
gion die grösste Gefehr laufen solle.
Im Gegenthefl, ganz ausserordentlich positiv ist Öie Kritik,
und nicht Ihte Negation ist's eigentlich, vor der Ihr zurückb«*«,
sondern gerade von ihrer Positivität, Ihr lieben Leute, wollt Ihr
Nfchts wissen. Was Ihr verwerft, ist «ine viel liöliere Positivität,
als die venneintliche, fiir deren Erhaltung Ihr in die Schranken
tretet. Ihr wollt das historische, das positiv« Christenthum? G«t,
nRchgelassenen Schriften. 227
auch wir wollen ebendasselbe, den ächten, gegenwärtigen ßehall,
den Absoluten Kern des Christenthums, und was wir verschmähen,
das ist nur das imaginäre Christenthum, was Ihr das historische
zu nennen beliebt, ohne einzusehen, dass es mit einem solchen
Historischen schlecht bestellt sein muss, welches der wissenschaft-
liche Ernst der geschichtlichen Kritik aufzulösen vermag. lEine
illusorische Positivität ist es, für die Ihr Euch in hektischer Ge-*
reizthcit vergebens, ja vergebens! heiser schreit, denn wider die
Wahrheit vermögt Ihr nun einmal doch Nichts.
Der wahrhaft historische Christus ist unstreitig das Ziel
der christlichen Religions\^issenschaft unserer Tage. Wie aber als
das wahrhaft historische Christenthum weder das ürchristenthum,
noch auch das zu Kloster Bergen oder z« Trient ajs Christenthum
Festgesetzte gelten kann, sondern nur das im Herzen der Gegen-
wart wirklich lebendige Christenthum; so ist auch der wahrhaft
historische Christus am allerwenigsten die in den ältesten Urkunden
der Ent Wickelungsgeschichte des Christenthums, dem Neutestament-
lichcn Kanon, ausgeprägte Gestalt der Persönlichkeit Christi, sondern
vielmehr die höhere Persönlichkeit des in der Gegenwart seiner
Gemeinde lebendigen Christus. Dieser letztere allein, der wahrhaft
Auferstandene und in der Menschheit fortlebende, zu immer höhe-
rer Verklärung und g<ittlicher Herrlichkeit sich erhebende, ist der
wirkliche und ^vährhafte Christus. Dagegen den unter Pontius
Pilatus Gekreuzigten und Gestorbenen statt des Ld)endigen anzu-
schauen und zu verehren, ist ein unverständiger, nur dem Unge-
bildeten zu verzeihender Götzendienst. Es ist aber Zeit einzusehen,
dass es ein Verrath an der Menschheit ist, die Mehrzahl der Men-
schen fort und fort am Gängelbande von Vorurlheilen und Irrwahn
herumzufuhren und die nach dem Leben und der Freiheit des
Geistes dürstenden Gemüther des Volkes mit phantastischen Ein-
bildungen und hohlen lilusioneji abzuspeisen, anstatt sie zur Selig-
keit des ewigen gegenwärtigen Lebens in Gott, zur freien Be-
friedigung an der vernünftigen Wirklichkeit hinzideiten. Die reli-
giöse Weltansioht, die unsere Weisen und Dichter begeisterte, ist
in der That fähig, die empßnglichen Gemüther der Menschheit ti^
und' nachhaltig zu befriedigen, die keineswegs der Täuschungen
bedürfen, um zu wahrhaft sittlicher That zu erstarken. »^
Die vorstehenden (bedanken, mit welchen Referent unlängst
ein literarisches Findelkind beim Publikura einzuführen Veranlas-
sung genommen hatte,*) erscheinen ihm am geeignetsten, um die
Anzeige der Schellmg'schen Vorrede zu Steffens' nachgelassenen
Schriften einzuleiten, welche mit dem Ansprüche auftritt, ak Beitrag
zur religiösen Selbstverständiguw der Gegenwart zu ffdten. Der
„greise Herakles im Geisteii^ewanle^ tritt wieder einmal als Vorredner'
*) Die Bedeutung des ÜFchristenthums und sein Verbältniss cum Christen-
tfium der Gegenwart» lAlt, einem Vorworte von Or. L. Noack.- Öarm-
»Iftdt (Leske) 1846. .. /'
15*
228 Schelling*f Vorwort zu Steffens'
vor das Publikum, indem er „die Abneigfung gegen jede partielle
Aeusserung über Philosophie Tür diessmal überwindet^ rp. LXI.}
und den zu Steffens' Andenken im vongen Frühjahr gehaltenen
öffentlichen Vortrag als „ein frei vom Herzen weggesprochenes
Wort, das in einer Zeit der Verwirrung über die wichtigsten
Fragen ernstlich Strebenden zu einiger Verständigung und Weisung
dienen könnte^ (p. LVI.), mit „einigen Erweiterungen'' versehen,
für würdig hält, als Vorwort zu Steffens' nachgelassenen Schriften
zu dienen. Das Fragnicntarische darin fsagt er p. LXL f.) sei doch
mehr nur ein Aeusserliches und Scheinbares und übrigens der Zu-
sammenhang der zum Grunde liegenden Denkweise gar wohl ein-
zusehen, wenn man nur guten Willen und die zum Verständniss
jeder Art von philosophischer Darstellung erforderliche Combination
mitbringe und nicht etwa nur das verstehe, worauf sich die gang-
baren , Bezeichnungen anwenden lassen (?• t^^l- fO Makeln wir
nicht lange an der absichtlichen Unbestimmtheit und vagen Allge*
meinheit der in dieser Vorrede ausgesprochenen Gedanken, an der
gesalbten Vornehmheit und pretiösen Haltung derselben, an der
matten, farblosen Darstellung und marklosen Sprache welchen
Eindruck auch die gewaltsam herbeigesuchten Elogen des Corre-
spondenten in der A. A. Z. Nr. 167 f. vom 16. und 17. Junius,
S. 1329 ff. beim Referenten nicht zu verwischen vermochten —
untersuchen wir auch nicht weiter, ob die aphorismenartige, frag-
mentarische Form derselben auf den Charakter einer „philosophi-
schen Darstellung" mit Recht Anspruch machen dürfe; sehen wir
vielmehr zu, was wir an diesem Votum über die religiösen Be-
wegungen der Gegenwart wirklich haben. Im Allgemeinen ist
Referent übrigens keineswegs gemeint, der neuerdings üblich ge-
wordenen Polemik gegen Schclling beizutreten, welche auf eine
ebenso einseitige, ßls ungerechte Weise für die Gedanken des
auch in der Phantastik seiner sogenannten positiven Philosophie
noch bewundernswürdigen Mannes nur ein mitleidiges Lächeln be-
reit hat; wir sind vielmehr der Ansicht, dass in seinen bekannten
Vorlesungen dem phantastischen Irrthume ebensoviel tiefer gei-
stiger Gehalt beigemischt ist; wer jene ersteren Elemente kritisch
auszuscheiden versteht, wird die Käime wahrhaft speculativer Ge-
danken entdecken, die des Veteranen speculativer Instinkt ahnend
herausstellt. Keineswegs findet aber Referent dieses ürtheil über
SchelUng's neueste Leistungen in der gegenwärtigen Vorrede bcf-
stätigt.
Nachdem der Vorredner zu Steffens' nachgelassenen Schriften,
an Steffens und die Zeit seines eraten Auftretens anknüpfend,
über Philosophie und Naturforschung, Naturphilosophie und „jenen
plumpen und monströsen Pantheismus^" mit seinem „austernhäften
Absoluten," einem Gott, der nöthig habe, durch die Natur hin-
durchzugehen, um sich bewusst zu werden, einige allgemeine Be-
merkungen gemacht, die wir hier füglich bei Seite liegen lassen
können, meint er zunächst,^ man gestatte der Philosophie alle Frei-
heit, von ihrem Ausgangspunkt durch folgerechtes Fortschreiten
imchgelasfenen Sehriften. 229
wohin immer zu gelangen, nur wenn sie ganz absichtslos, durch
blosse JVoth wendigkeit der Sache, in Berührung mit der positiven
Religion komme, da solle jene Freiheit nicht mehr gelten und die
Philosophie sich entsetzt zurückwenden, was die schmählichste Be-
schrönkung sei, da es sich ihr nicht vorschreiben lasse, wohin sie
gelangen solle, sondern aliein vorausgesetzt werden müsse, dass
sie als Philosophie in ihrem Anfang schon mit jeder Auktoritat,
welchen Namen sie trage, gebrochen habe und also selbst den
Namen christlicher Philosophie ablehne, und diess nicht nur im
Sinne foimeller Abhängigkeit, sondern auch im Sinne materialer
Uebereinstiuimung, die für sie als Philosophie keine Bedeutung
habe (p. XVI. f.) Was soll nun aber, fragen wir, diess heissen:
die Philosophie kommt ganz absichtslos, durch blosse Nothwendig-
keit der Sache, mit der positiven Religion in Berührung? Wird
hier nicht mit der Philosophie und mit der Religion, insbesondere
derselben als positiver, gleichermaassen Versteckens gespielt?
Offenbar ist doch die Religion, als eine besondere Seite oder
bestimmter als der eigentliche Grund und die lebensvolle Concen-
tration des ganzen Geisteslebens, selbst ein wesentliches Moment,
eine bestimmte Potenz der philosophischen Idee, und im Organismus
der letzteren tritt die Philosophie nothwendig, d. h. durch ihre
eigene substantielle Energie und immanente Dialektik, als Philo-
sophie der Religion auf. Diess ist gar nicht anders möglich. Aus*
serdem aber ist die Philosophie, wie sie nicht als eine Ab-
straction, sondern als wirkliche, lebendige, gegenwärtige sich dar-
stellt, von dem allgemeinen Aether- und der Substanz des Volks-
geistes, dessen Ausdruck und Frucht sie ist, nicht zu trennen;
redet Schelling und reden wir Alle von der Philosophie als der.
unsiigen, so meinen wir doch wohl keine andere, als die aus der
Wurzel des germanischen Wesens organisch hervorgewachsene,
die Philosophie, wie sie als die Blüthe des germanischen Geistes
erscheint. Ist dieser aber vom christlichen getrennt, so dass sich
beide zu einander als äusserliche und fremde Potenzen verhielten?
Keineswegs; vielmehr hat sich die Substanz des Christenthums ge-
rade mit dem germanischen Geist auf das Innigste verschmolzen,
und letzterer war der Boden, auf welchem das Christenthum in
seine unendlichen Tiefen niederging und seinen ganzen Lebensreich-
thum entfalten sollte."^} Ueberdiess ist die philosophische Idee als
die Idee des Ich und die Philosophie als die Wissenschaft des Ich
überhaupt von der christlichen Idee, in ihrer absoluten und ewigen
Universalität, als der Einheit der Menschheit in Gott, gar nicht
wesentlich verschieden, sondern beide an und Tür sich identisch.
Christenthum und Philosophie, beide in ihrer concreten Wahrheit,
können gar nicht in Widerspruch mit einander treten; ebensowenig
aber können dieselben (^wie unser Vorredner voraussetzt) so zu-
fällig und absichtslos mit einander in Berührung kommen. Unsere
*) Vgl. des Ref. Mythologi« und OffeDbariinor. U. ß. S. 216 f.
230 Scbettmg'« Vorwort xu Steffens*
deutsche Philosophie ist, als aus dem germanisch -christlichen
Geiste h^rvorgewachsen, wesentlich und noth wendig christliche
Philosophie.
Was aber das Pochen auf die positive Religion angeht, so
scheint es an der Zeit zu sein, über den Sinn und die Bedeutung
des Wortes ^positiv^ sich auf philosophischem Gebiete ein für alle-
mal zu verständigen) um der gang und gäbe gewordenen Coofusion
zu steuern.
Die Positivität aiif dem Gebiete der Religion hat aber eine
dreifache Bedeutung, sofern zunächst eine unmittelbare oder
empirische Positivität der Religion, in ihrem allgemeinen und
noch ganz unbestimmten Wesen, von der historischen oder
relativen Positivität ihres bestimmten Begriffs und ihrer ge-
schichtlichen Erscheinungsfol-m und endlich von der durch die
historische Dialektik und Negativität des Begriffs vermittelten ab-
soluten Positivität der Idee zu unterscheiden ist. Imersteren
Sirene ist die Religion Überhaupt positiv, sofern sie als ein im
menschlichen Wesen nothwendig gesetztes und hier auf die ewig-
immanente Offenbarung Gottes im Menschen begründetes Verhält-
niss, nämlich die Einheit und Dreieinigkeit des menschlichen We-
sens und Selbstbewusstseins in Gott ist. Die Menschheit, als ein-
heitliches und selbstständiges, mit der Natur zusammengeschlossenes
Ganzes betrachtet, ist in der Totalität ihres an und für sich seien-
den Wesens, in ihrem ganzen Sein und Thun der Ausdruck ihrer
eigenen Idee, ihrer eigenen Autonomie. Das Wesen des Menschen,
das Ich, ist der eine und ewige Grund von Allem, was an und in
ihm ist; in Allem, was er ist, ist der Mensch seine eigene That
und freie Selbstbestimmung und in dieser seiner Autonomie zugleich
auch fUr sich selbst Zweck. Er stellt seine eigene Wesenheit,
sein in sich seiendes Sein auch in der Wirklichkeit dar und legt
alle Seiten seines wesentlichen Inhaltes in seinem persönlichea
Lebensdasein auseinander. Gehört nun die Religion so wesentlich
zur Menschheit, dass dem Menschen allein Religion zukommt, so
ist das mensdiliche Wesen, das Ich, nothwendig auch der Grund
(fundamenfum) derselben, das menschliche Wesen ist der Lebens-
boden, die substantielle Basis der Religion, die Religion ein we-
sentliches Moment der Idee der Menschheit. Auch in der Religion
behauptet die Menschheit ihre Freiheit und Autonomie; die Reli-
gion ist die eigene That des Ich, die Feier seiner Menschheit, ein
durch die freie Selbstbestimmung des Ich Gesetztes und als eine
besondere Seite' desselben mit zu seiner nothwendigen immanenten
Selbstdarstellung Gehörendes.
Diese ihre innere Nothwendigkeit, ihr Begründetsein im Wesen
des Menschen, ist ihre Positivität. Die Religion ist ihrem Ursprung
nach nothwendig und das Ich selbst das sie Setzende. Dass sie
in dieser ihrer ewigen Positivität für den Menschen ist, diess ist
die Wahrheit ihres Geoffenbartseins, als die Einheit ihres Seins und
Gesetztseins im Wesen des Menschen. Dass freilich mit dieser
Auffassung die gewöhnliche supranaturalistische Vorstellungsweise
naQlig(yl9aiß^lX99 Schriften. ^^^
xmi tositiyen und GeQffcmbart^n in 4er Religion, in dem Sinqe
^iner dem Menschen auf übermenschlichem Wege von oben und
iiussen mitgetheilten Religion, ein für allemal entschieden verlassen
^nd als ein solcher Standpunkt bezeichnet ist, der längst antiquirt
und al&. ein kindischer iiberwunden sein sollte, i|nd mit dem die
Philosophie als Religionsphilosophie nichts mehr zu schaffen hat,
liegt am Tage.
Die andere und, als höhere, jene erste in sich schliessende
Forgi der Positivität ist die historische oder relative Posi-
tiv i tat der in einer bestimmten, geschichtlichen Erscheinungsform
auftretenden Religion. In dem Sinne der Einheit des Wesens der
Religion in der Erscheinung sind alle in der Geschichte der Mensch-i
^it auftretende Religionen positive, nämlich relative und be-
schränkte Positionen, endliche Ausdrucksweisen des durch die
Dialektik der Erscheinung sich auseinanderlegenden allgemeinen
Wesens der Religion, das durch die dialektische Macht seiner eige-
ne^ Negalivität über jene Gestalten immer wieder hinausgeht und
zur Idee hinstrebt. So stellt sich die Positivität der Religion als
ein historischer Prozess dar, der den nothwendigen Selbstvermilt-?
lungs- und Selbstverwirklichungsprozess des religiösen Geistes,
sein Zusichselbstkommen und sein Sichaufheben zur Idee der Reli-
gion oder ^u der Religion auf der Stufe ilurer absoluten Vollendung
bildet.
Beide Seiten der religiösen Positivität sind aber, als ihrer
Wahrheit nach aufgehobene Momente, enthalten in der dritten Be-
deutung des Positiven, nämlich in der durch jene fortschreitende
kritische Bewegung, als durch die Negativität des religiösen Gei-
stes, vermittelten absoluten Positivität der religiösen Idee,
welche sich als die immer neue Formen schaffende und ei;ie neue
Wirklichkeit sich gebende Lebenspotenz der Religion darstellt.
Diese letztere Bedeutung der Positivität, welche im Wesentlichen
mit der Qiatholischen) Traditionsidee identisch Ist, ist dem Christen-
tbum zu vindiciren und insbesondere als die höchste und letzte
Mission der Philosophie, auf j^eder Ötufe ihrer Entwickelung, diess
anzuerkennen, dass sie nicht bloss die beschränkte Positivität der
christlichen Idee in ihren vergangenen historischen Erscheinungs-
formen vorauszusetzen und als das Begi^eifen derselben sich äbzu-
schliessen, sondern auf der nothwendigen Voraussetzung und dem
Grunde dieser begriffenen geschichtlichen Formen der christlichen
Vergangenheit eine neue, höhere Form der christlichen Idee her-
auszubilden hat.
Diess ist nun nichts weniger als die Meinung Schellings, der
sich in dieser Rücksicht nicht von der Beschränktheit der suprana-
turalistischen Vorstellung loszumachen und zur freien Höhe der
Idealität zu erheben vermag. „Mit der Offenbarung sich be-
schäftigen, (sagt er p. XXIIIO um sie wieder in Philosophie, d. h.
in das, was unabhängig von ihr gewusst ist, aufzulösen, wäre eiT\
der Philosophie unwürdiges Treiben." Schelling verlangt ein Sy-r
Stern, das die im Christenthum von Anfang an enthaltenen, so viele
232 Schetting'« YorwQrt su Steffens'
Jahrhunderte wie in einem Schrein verschlossenen Schitee zu alt-
gemeiner Geltung und Erkenntniss brächte.^ (p. XX.3 Als ob die
Sehätze der OfTenbarung dem menschlichen Geist nur so von aus-
sen und oben durch den deus ex macfma eingetrichtert wären und
nicht vielmehr schon in Ewigkeit den verborgenen, nur nicht zum
Licht des Bewusstseins erhobenen Grund des menschlichen Wesens
selbst ausmachten! Der Begriff der Offenbarung ist vom
Begriff Gottes einerseits und vom Begriffe des Menschen anderer-
seits nicht trennbar, sondern fällt mit dem wahrheften und voll-
kommenen Begriff des Menschen, sofern dieser die Identität mit
sich selbst in und durch Gott ist, nothwendig zusammen; der
Offenbarungsbegriff beruht eben auf der Einheit Gottes im Men-
^ sehen und ist die objective Seite des religiösen Grund Verhältnisses
selbst, als dessen subjoctive Kehrseite sich die Religion, als Ein-
heit des Menschen in Gott, darstellt. Der Inhalt der Offenbarung
ist nicht sowohl, wie Hegel es fasst, das ewige Wesen oder das
Absolute als sich selbst in seine Inhaltsbestimmungen auseinander
legend, sondern die ewig sich selbst gleiche Gegenwart und un-
veränderliche Einheit des Absoluten im menschlichen Wesen, und
die Form der Offenbarung besteht in der das menschliche We-
sen äusserlich eonstituirenden Einheit von Natur und Geist, in wel-
cher sich das über Natur und Geist ebenso absolut erhabene, wie
in beiden absolut immanent gegenwärtige (d, h. eben offenbare}
Absolute oder Gott realisirt und zu gegenwärtiger Wirklichkeit
schafft. Obgleich Gott von seiner Offenbarung im Universum der
Natur und des Geistes nicht zu trennen und ohne Welt Gott nicht
offenbar ist, sondern die mit Gott in Einem gleich .ewige Welt
nur in Gott und Gott nur in der Welt angeschaut werden kann,
so ist doch Gott in seinem an und für sich seienden Weseifi von
dieser seiner Offenbarung bestimmt zu, unterscheiden und beides —
Gott und die Offenbarung Gottes oder <'ie Welt — sind keine
identischen Begriffe. Indem vielmehr Gott in der Welt offenbar,
d. i. gegenwärtig ist, bleibt er doch in sich selbst vom Zusammen-
hang der Weltentwickelung un ergriffen und unberührt, in seiner
reinen Freiheit verharrend und in seiner reinen, einfachen und
schlechthin bestimmungslosen Identität mit sich keinem Werden
und Wandel unterworfen. In seiner conereten Bestimmtheit ist
hiernach der Begriff der Offenbarung diess, dass das allgemeine
Ich oder die selbstbewusste Menschheit, als die höchste Spitze und
concreto Einheit des Universums, als das lebendige Centrum der
Weltentwickelung, ^ich als Ein in sich geschlossenes Ganzes, als
Eine in sich vollendete Totalität nur in der ewig -immanenten All-
gegenwart des Absoluten erfasst und nur in ihm alß wirkliche,
freie Persönfichkeit festhält. Diese Einheit Gottes in der Persön-
lichkeit des Menschen ist zunächst im ursprünglichen und unmittelbar
mit sich noch einigen und unentzweiten menschlichen Selbstbe-
wusstsein die allgemeine Grundlage oder das Ansich des relifiriösen
Verhältnisses. Indem Gott im persönlichen Ich als diese Einheit
offenbar ist und dem Selbstbewusstsein der Menschheit seinen Halt
nachgelassenen SchrifleD. 23S
gibt, ist der Mensch erst wirkliches Ich, wahrhafte Persönlichkeit,
und als dieses in Gott und kraft Gottes selbstständig und frei sei-
ende persönliche Wesen ist der Mensch die Persönlichkeit Gottes^
göttliches Selbstbewusstsein , göttliche Persönlichkeit. Diese Idee
der ewigen göttlichen Persönlichkeit des Menschen oder die Idee
der Gottmenschheit ist die Idee der Offenbarung.
Ist nun diese Idee der Persönlichkeit, in ihrer Identität mit
der Idee der Offenbarung, die Grundidee des Christenthums, so
ist ersichtlich, dass dieselbe mit dem Grundproblem der Philosophie,
als der Wissenschaft eben des allgemeinen Selbstbewusstseins, zu--
sammenfällt , dass beide denselben Inhalt haben, und dass in der
Philosophie nichts unabhängig von der Offenbarung gewusst, diese
letztere vielmehr in ihrer ewigen Substantialität durch die Philo^
Sophie nur in die Sphäre des freien Selbstbewusstseins erhoben,
also das Mysterium der Offenbarung von der Philosophie und in ihr
enthüllt wird. Das Denken und Begreifen der Offenbarung ist ge-
rade Sache der Philosophie, wie denn schon Solger nachdrücklich
darauf hingewiesen hat, dass es ohne Offenbarung kein wahres,
vernünftiges Selbstbewusstsein und keine Philosophie gebe. Es ist
also ganz laeherlich und unverständig, von verschlossenen Schätzen
der Offenbarung zu sprechen, die unabhängig von der Philosophie
zu allgemeiner Geltung und Erkenntniss gebracht werden könnten,
da ebendiess gerade die Aufgabe der Philosophie ist.
Freilich hat Schelling volles Recht, zu behaupten, dass das
Christenthum nur durch sich selbst, ohne äussere Hülfe und Macht
stark und siegreich sein fp. XXI. und LIV.) und ein frei erkanntes
und frei angenommenes werden wolle, so dass an die Stelle einer
verdumpften Theologie ein von der freien Wissenschaft durch-
wehtes und darum allen Stürmen gewachsenes, dauerhaftes System
treten solle Cp- ^X.) Aber gerade die Religionsphilosophie, als
die zu ihrer Verklärung erhobene Theologie, ist dieses System,
welches indessen zu seiner nothwendigen Voraussetzung die histo-
rische und dogmatische Kritik hat, ohne welche die absolute Po-
sitivität der christlichen Idee, in ihrer von den unangemessenen
Hüllen ihrer bisherigen beschränkten Erscheinung freigewordenen
Gestalt und im organischen Zusammenhang ihrer besonderen Mo-
mente und Inhaltsbestimmungen, für die freie, wissenschaftliche
Erkenntniss nicht herauszustellen ist.
„Enthält das Christenthum (sagt Schelling S. XXII.) unter
blosser geschichtlicher und bildlicher Einkleidung nichts anderes,
als was die Philosophie unabhängig von ihm schon hat, so hat die
Philosophie nichts an ihm, und es ist ihm nur im Weg und müsste
sobald als möglich abgethan werden. Ist aber der Fall der, dass
die Verhältnisse, auf welchen das Christenthum nach seiner eigenen
Angäbe beruht, wirkliche, aber als allgen»eine noch nicht aner-
kannnte Verhältnisse sind, da ist eine grosse Erweiterung der
menschlichen Erkenntniss gegeben.*' Welchen Knäuel von Wider-
sprüchen enthalten diese Worte! Sind etwa die ewigen allgemei-
nen Verhältnisse, auf welchen das Christenthum beruht, etwas
2^ ScbdUUnf*! Vorwort su Sfoff^ns'
anderes, als das reale VerbäUniss des MenstiheB zu Gott, oc|er
das iaimanente Eüisseins des menschlicheo Selbstbewusstseins in
Gott, wekhes eben der religiöse Ausdruck der Idee der Person--
lichkeit, des Ich, also der philosophischen Idee ist? Ist denn die
Philosophie in die Luft gebaut und eine hohle Abstraction? Und
hat sie einen vom ewigen substantiellen Inhalte des Mensohen«*
geistes unabhängigen Inhalt? Wie kann das Christenthum der Phi-
losophie im Wege stehen, da beide denselU'n Inhalt und Gegen-
stand haben und die Bestimmung der Philosophie in der Erkenntniss
des Offenbarungsinhaltes culminirt? Wenn das Christenthum., nach
Schelling, zu .seiner Voraussetzung keine andern Verhältnisse hat,
als durch welche auch die Welt besteht, und wenn also darauf diQ
absolute Allgemeinheit der christlichen Prinzipien beruht (p. XLII.}»
so fragt man billig, ob denn etwa die Philosophie nicht ebendie-»-
^elben allgemeinen Verhältnisse zur wesentlichen und ewigen Vor-
aussetzung hat, ohne die sie nicht möglich wäre? Man siebt
hieraus, wie wenig es dem positiven Offenbarungsphilosophen ge«-»
lungen ist, den unseligen Dualismus, den das vorstellende Be««
wusstsein zwischen dem Inhalte der Religion und der Philosophie
statuirt, zu überwinden und den Gegenstand des Wissens, der
Philosophie, als eins und identisch mit dem begriffenen Inhalt der
Religion oder Offenbarung zu erkennen.
Aber die kirchlichen Dogmen, die religiösen Vorstellungen,
als solche, sind eben nicht so ohne alles Weitere mit dem Christen-
thum selbst und mit der Idee der Religion zu identificiren und zu
verwechseln, wie diess Schelling thut, wenn er vom Christenthum
als der Lehre spricht, welche die Stinune der Jahrhunderte für
sich habe Cp-^O '^öd wenn er sich gegen die Ansicht erklärt, da^
einmal eingeführte, schlechte und rechte Christenthum zwar zum
Schein und der Form nach, als blosse Einkleidung fortbestehen,
aber dabei als blosse schlechte Vorstellung und nur uneigentliche
Wahrheit gelten zu lassen (p. XLV. ff.) Gegen das eingeführte
Christenthum, d. h. dasselbe in seiner bisherigen kirchlichen Er-
scheinungsform, wenn diese als solche für die absolute Wahrheit
ausgegeben wird, hat die Philosophie und Kritik das beste Recht,
sich aufzulehnen, und gegen die christliche Idee ist die yorstellung
mit ihren äusserlich- empirischen Elementen und transscendenten
Abstractionen, selbst in ihrer zur Form des Begriffs erhobenen Ge-
stalt, das Schlechtere und Niedrigere. Mit der Negation und Auf-
lösung der bisherigen Erscheinungsform des christlichen Geistes,
mit der Kritik des bisherigen dogmatischen Christenthums aber zu-
gleich den Untergang des Christenthums in nothwendige -Verbin-
dung zu setzen, als ob beides wesentlich dasselbe sei, diess kön-
nen nur schwache und furchtsame Gemüther. Mit dergldcben
Schreckschüssen vom „Untergang des Christenthunis," vom „Werk
der Zerstörung" (p. XLV.} lassen sich auch nur schwache Nerven,
Weiber, ^ Kinder und Greise einschüchtern. Weit entfernt aber,
vernichtet und aus der Welt geschafft zu werden, ist dasChristen-
thuin vielmehr auf dem besten Wege, in seiner Reinheit und Idea-
nacbgelnssaiieii $i;hriflen. 2Bi
litity in einer aus dem Geiste der Gegenwart an's Licht gebomen
Form erst recht an's Liebt gestellt zn werden, uod selbst die Bnina
Bauer's und Feuerbach's helfen wider Wissen und Wollen lait an
dem neuen Tempelbau des Christenthums der Zukunft.
Wenn aber Schelling fragt, ob der Staat so sehr im Unrecht
wäre, wenn er die Lehre lieber hätte, welche die Stimme der
Jahrhunderte für sich habe, als Meinungen, die von gestern seien
(p. L.}; so beweist er eben damit seinen unkritischen Standpunkt,
auf welchem er die Wahrheit Und Nothwendigkeit der g'escbicht^
liehen Entwickelung eines Prinzips und die absolute Bedeutung der
Negativität der christlichen Idee in der positiven Continuität ihrer
weltgeschichtlichen Entwickelung verkennt. Dieser Vorwurf wird
keineswegs • dadurch entkräftet werden können , dass Schelling an
einem änderen Orte der Vorrede doch wieder behauptet, dass die
Philosophie die Folgen der Refortnation in ihrer ganzen Ausdeh--
nung und bis zu dem Extrem des Deismus, zu welchem sie stufen-
weise gekommen sei, als vorhandene Thatsache und als nothwen-
digen Fortgang voraussetze (p. XVII. S^ Unser Vorredner bewegt
sich gern in Widersprüchen, und wir vermögen in der eben
angeführten Aeusserung nichts als eine hohle Tirade, eine leere
Spiegelfechterei mit blossen Worten, ohne die Consequenz und
Wahrheit ihres Inhalts zu erkennen.
Die Zeit der Bekenntnisse, meint Schelling, sei heut zu Tage
vorüber; während aber die Meisten, welche dieselben abgethan
wissen wollten, mit ihnen zugleich die Sache abgethan meinten,
so trete diese im Gegentheil gerade jetzt erst recht eigentlich her-
vor (p. XXVIL); um diese drehe es sich jetzt, es handle sich nicht
mehr um die bloss formale, sondern um die reale Denkbarkeit,
und diess sei der wahre Fortschritt einer nicht mehr bloss schola-
stischen Theologie, der nicht wieder zunückgenommen werden
könne (p.XXXIIL) Was versteht nun aber unser Vorredner unter
dieser „Sache, '^ die man undenkbar und unmöglich finde (p. XXVII.)?
Etwa den christlichen Giaubensinhalt als solchen , d. h. die ' Idee
des Christenthums und den. idealen, von der transscendent- ge-
schichtlichen Form der Vorstellung befreiten Gehalt der Dogmen?
Keineswegs ist diess die ausgesprochene Meinung, sondern es scheint
hier fast absichtlich zweideutig gelassen zu sein, ob die Dogmen,
oder die ewigen Ideen des Christenthums unter der „Sache^ ver-
standen sein sollen. Bei solcher Escamotirung der Begriffe ist es
denn freilich leicht, mit dem Schein des Freisinns die Leser zu
täuschen, wie denn auch der Berliner Lobredner unseres Vorredners
in der A. A. Z. (a. a. 0. S. 1337) daraufhin sagen konnte: Genüge
wenn wir einsehen, dass Schelling dasjenige, was der herrschende
Geist nur durch völlige Abwendung vom Chrislenthum erreichen
zu können meint, gerade durch Vertiefung in die Substanz des
christlichen Glaubens zu leisten unternehme, sofern das Heil der
europäischen Völker nur in dem Siege der christlichen Ideen zu
fluchen sei.
230 Schelling^s Vorwort zu Steffens*
Auch Referent ist dieser Ansicht; aber welches ist die Stib-
slanz des christlichen Glaubens? weiches sind die christlichen
Meen? Die Dogmen sind diess keineswegs; sondern nur ans deren
Analyse lässt sich auf dem Wege der philosophischen Kritik der
substantielle Gehalt in seiner ideellen Reinheit gewinnen. Machen
wir nur wirklich Ernst, und lassen es keine blosse Phrase sein,
was der erwähnte Correspondent sagt , dass nur dasjenige Christen-
thum den freiwilligen Gehorsam der Geister finden könne, welches,
was von dem Erwerb der gesammten geistigen Arbeit der Nation
^ und dazu gehört denn doch auch (sollte mau denken} die Phi--
losophie und die Kritik — seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts
den Keim des Ewigen in sich trägt, zu retten und zu sich empor-
zuheben weiss (a. a. 0. p. 1337). Auch wir sind dieser Ansicht:
die ganze Entwickelung unserer geistigen Vergangenheit ist eine
christliche, und es ist nicht möglich, im Herzen der Gegenwart
zu stehen und dem christlichen Prinzip entfremdet zu sein.
Mit Recht hat darum, dünkt uns, Vischer (in den Jahrbüchern
der Gegenwart, 1845, Decemberhefl) mit aller Entschiedenheit und
Energie, welche der Philosophie zusteht, darauf gedrungen, dass
die Gründung der Sittlichkeit auf die heteronome Triebfeder der
transscendenten Autorität als eine Trübung des sittlichen Lebens
erkannt, und dass die Luft von den Transscendenzen gereinigt
werde, damit das Ewige um so tiefer in's Herz der Menschheit
dringe und jede Tugend des Menschen lebe und gedeihe. Von da
bis zu der von Vischer verlangten Verbannung alles dogmatischenr
Ausdrucks für den Inhalt der religiösen Idee ist aber freilich ein
sehr grosser Sprung und die panische Dogmenfurcht des Herrn
Vischer grenzt denn doch etwas an's Lächerliche. Mit dergleichen
Abstractionen ist so wenig gewonnen zur Selbstverständigüng der
Gegenwart in ihren religiösen Bewegungen, dass wir darin nur
ein hastiges Ueberspringen aller noth wendigen Vermittelung, ein
Ausschütten des Kindes mit dem Bade zu erkennen vermögen.
Wenn es richtig ist, was Vischer (a. a. 0. S. 1105} behauptet,
und worin wir ihm vollkommen beistimmen, dass das Ergebniss
der Speculation, die Resultate der freien Religionswissenschaft,
zur unmittelbaren Macht des Gemüths werden können und sollen, so
muss es auch möglich sein, auf dem Wege der religiösen Erzie-
hung und Bildung diesen lebendigen religiösen Inhalt im Subjecte
zum Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu erheben ; es muss mög-
lich sein und ist durchaus nothwendig, denselben mit dem ge-
sammten Geistesleben des Subjects auf lebendige Weise zu ver-
mitteln, dasselbe über sein religiöses Gefühl zu verständigen, i\&^
sen Inhalt in seine besondere Momente nach allen Seiten hin aus-
einanderzulegen. So gewiss die Wissenschaft, die Philosophie das^
allgemeine Selbstbewusstsein des Geistes hat, ebensogewiss muss^
sie als Theologie, als Religionsphilosophie, als Dogmatik, die reli-
giöse Bestimmtheit des allgemeinen Selbstbewusstseins, (dessen Ob-
jectivirung keineswegs daVon abhängt, ob auch die Mehrzahl und
die Masse immer bestimmt), in bestüumten Formen in die Inner-
nachgelassenen Schriften. 237
lichkeit des uiimiüelbaren Gemüthi^lebens übersetzen können. Ver-
langt ja doch Yischer selbst, dass das Bewusstsein jedes wahre
und reale menschliche Verhältniss im Lichte des Ewigen, im Lichte
der Idee anschauen lernen soll (S. 1102). Wie ist diess anders
möglich, als dadurch, dass eben die religiöse Idee in ihre beson-
deren Bestimmungen auseinandergelegt und diese letzteren im Worte
verkörpert werden? Warum soll sich mit dem Verlassen der alten
Formen -des Dogma, welche die religiöse Wahrheit in geschicht-
licher Gestalt auftreten lassen, nicht eine neue Form geschaffen werden,
die das freie religiöse Selbstbewusstsein mit der Idee in Einheit
findet und weiss? Ist der Geist nicht im Stande, sich ein neues
Dogma zu schaffen? ja schafft sich nicht jede Zeit eben das ihr
entsprechende? Ist denn das Dogmii eine Fixirung des religiösen
Inhalts für alle Zeiten, oder nicht vielmehr nui' ein Zeugniss, wie
jezeitig der ewige Oifenbarungsinhalt des Christenthums aufgefasst
und in seine besonderen Bestimmungen auseinandergelegt und für
die Erkenntniss festgehalten wurde? Oder sollen wir etwa zum
ewigen Einerlei des indischen Om-sagens zurückkehren ? Fast sollte
man glauben, diess sei Vischers Meinung, wenn er sagt; Entweder
ist Glaube die reine Gesinnung des Vertrauens auf die Idee, auf
den Geist als weltbeherrschende, das Denken und Thun bestim-
mende Macht, auf die Gegenwart des Ewigen im Zeitlichen; die-
ser Glaube ist mit Einem Satze ausgedrückt (S. 1091.)
Es ist darum keineswegs so ohne Weiteres richtig, wenn
Schelling in seiner Vorrede vom Glauben sagt, dass derselbe ^Is
auf der Erfahrung beruhend, ganz für sich bleibe, unabhängig von
aller Wissenschaft, frei von jeder Berührung mit derselben J weil
er. das Individuellste und Persönlichste, das innerste Heiligthum
menschlicher Freiheit sei, in welche auch die Wissenschaft nicht
eingreife (p. XXXIV. f.) Solchem Subjectivismus und Empirismus
der Glaubenswillkür, der auf dem offen ausgesprochenen Dualismus
des Wissens und Glaubens beruht und den Glauben in das Gebiet
der Willkür und des Zufalls herabzieht, gegenüber darf mit allem
Rechte auf die bekannten Aeusserungen Hegel's, in seiner Vorrede
zu HinriohsMleligionsphilosophie hingewiesen werden, in welcher
es unter Anderem heisst: „Unter Glaube verstehe ich nicht, weder
das blosse subjective üeberzeuglsein, welches sich auf die Forapi
der Gewissheit beschränkt und noch unbestimmt lässt, ob und
welchen Inhalt dieses Ueberzeugtsein habe, noch auf der anderen
Seite nur das Credo ^ das Glaubeasbekenntniss der Kirche, welches
ixk Wort und Schrift verfasst ist und in den Mund, in Vorstellung
und Gedächtniss aufgenommen sein kann, ohne das Innere durch^-
drungen, ohne mit der Gewissheit, die der Mensch von sich hat,
mit dem Se}bstbewusstsein des Menschen sich identificirt ssu habeiu
Zum Glauben rechne ich, nach dem wahrhaften alten Sinne- dp-
selben, das eine Moment ebensosehr als d^s andere, und sqt^^ ihn
darein, dass beide in unterschiedener ipü^heit verbünde^ .^ii^fi.^
(Vergliche Hegel's veri^chte Schriften. 1835, II. Bd. S. 280)- In
W^krheit geht der ^Ifij^i^ dem Wissen iind ^erWisseq^phaß ebenr
238 Schclling'« Vorwort zu Steffen»'
sogTil voraus, als ihr ewiger Mutterschooss , wie auf der anderen
Seite dfe an ihrem objecliven Inhalte erstarkende und fortschreitende
Wissenschaft auch wieder als die Mutter des Glaubens sich erweist,
sofern et)en die Resultate der den Glauben aus seiner empirischen
ünangemessenheit, Partikularital und Willkür befreienden und in
ihm selbst reinigenden und kritisch läuternden Wissenschaft sich
sofort wiederum zur vermittelten Unmittelbarkeit umsetzen und
zum substantiellen Inhalt des Einzelbewusstseins, zur unmittelbaren
Macht des religiösen Gemüths werden müssen. Nur auf diesem
Wege ist es möglich, dass der Glaube das innerst eigene Gut,
der individuellste Besitz eines jeden Zeitalters ist und bleibt, über
•welchem die Theologie als das Allgemeine, als das wissenschaft-
liche Bewusstsein der Kirche schwebt. Nur das letztere^ die Wis-
senschaft, die Philosophie, kann aber in letzter Instanz über den
Glauben einer Zeit entscheiden, nicht der sich selbst nicht ver-
stehende Glauben der Menge, wie denn überhaupt im Reiche des
Geistes nicht Stimmenmehrheit, sondern nur das objective Gewicht
der denkenden Erkenntniss, der wissenschaftlichen Begründung zn
entscheiden vermag. Nur durch die Wissenschaft ist es möglich,
dass — was eben Schelling als die wahre Strömung der Zeit, als
das Ziel der ganzen kirchlichen Bewegung der Gegenwart bezeieh-
net — die Kirche den Inhalt des Glaubens als den wahrhaft und
durch sich selbst allgemeinen habe.
Was unser Vorredner weiterhin über das Verhältniss des
Staates zur Kirche sagt, ist von solcher unbestimmten Allgemeinheit
und leidet ül)erdiess so sehr an Halbheiten und Inconsequenzen,
dass sogut wie Nichts damit gesagt und gewonnen ist. Es ist ein
launisches Kokettiren mit der freien Wissenschaft auf der einen
wnd der politischen Macht auf der andern Seite, ein unentschie-
denes, haltungsloses Schwanken zwischen religiösem Liberalismus
und Servilismus, so dass es sich gar nicht der Mühe verlohnt,
naher darauf einzugehen. Schelling erklärt sich insbesondere gegen •
eine neue Kirchenverfassung aus dem Grunde, wett es widersinnig
sei, dass die politische Macht eine KirchenverfasStmg diktirte, die
Kirche selbst aber kein Selbst, kein gemeinschaftliches Bewusstsein
habe, von welchem aus sich die Parteien über die Verfassung
einigen könnten. Höre der Staat nur einmal auf, sich in die Enl-
wickelung der Kirche einzumischen, so wird er sehr bald eine
freie Gestaltung des kirchlichen Gemeingeistes erleben können;
alles politische Experimentiren fn Sachen der Kirche fiihrt nur zu
4mmnr grösserer VerwffTung, was die jüngsten Erfahrungen im
Irirchlichen Gebiete sattsam bewiesen haben.
Schelling meint (p. XLII. ff.) — und es scheint, als sollten
wir in diesem seinem Votum über die gegenwärtige Verfassungs-
frage in der protestantischen Kirche die Haupttendenz der ganzen
Vorrede erkennen — so lange der Protestantismus die wahre Ein-
heit und Allgemeinheit der christlichen Prinzipien nf^ht erreicht
habe (^was indessen, nach des Referenten Urtheile, nichts destö-
weniger der Fall ist,) mtA nor eine Art von Kirchei, aber nicht
nachgelassenen Schriften. 239
die Kirche sei, die sich vielmehr erst in der Zukunft entwickeln
werde, könne auch seine äussere Existenzform, die Verfassung
nur einie vorläufige, einstweilige sein, als frei vom Staat könne
die Kirche dagegen erst geachtet werden, wenn sie innerlich sich
selbst befreit habe, selbstständig geworden sei, wohin eben die
wahre Strömung der Zeit hinauslaufe I Es ist kaum begreiflich/ wie
ein so grosser Philosoph, welcher doch Schelling auch jetzt noch
sein will, so im Dunkeln tappen kann oder sich solche Blossen
geben mag! Das allgemeine Selbstbewusstsein , welches unser
Vorredner der protestantischen Knrche abspricht, hat der Prote-
stantismus allerdings in der auf seinem Boden erblühten Philosophie
in ihrer Gestalt als Religionsphilosophie; hängt ja doch überhaupt
das wahrhaft Allgemeine, die Idee, nicht von der Zustimmung der
Masse, von der numerischen Allgemeinhett abl Die Schuld aber,
dass dieses ideelle Allgemeine zur Zeit noch nicht zur alteemeinen
Macht des Lebens geworden, trägt niemand anders, flls der Staat
selbst, der die freie Entwidcelung und den Asshnllisationsprozess
der Idee dadurch hindert, dass er ein bestimmtes h&ätorisches Glau-
bensbekenntniss der Vergangenheit zur absoluten Norm für das
religiöse Selbstbewusstsein der Gegenwart erhebt, anstatt den
freien Geist, die Philosophie, als die Mutter^ Prophetin und Herrin
des Zeitgeistes rückhaltslos und treu anzuerkennen! Hier allein
ist in Wahrheit der letzte Grund unserer verkümmerten, und mark-
losen kirchlichen Zustände in der Gegenwart zu suchen. Wenn
die äussere Macht des Staats den freien Geist knechtet und in Fes-
seln schlägt, zur vermeintlichen Ehre eines illusorischen Christen-
thums, und neben dem „scheuen Sklaventritt" der Geschmeidigen
und Lenksamen nichts als „Seufzer nur und Stöhnen" aufkommen
lässt; so ist eben die Philosophie darauf angewiesen , mit ihren
Idealen auf den Sonnenaufgang eines schöneren Tages sich zu ver-
trösten, dessen mächtiger Triumphzug alle abgelebten und ver-
kümmerten Scheingestalten „zu Schutt und Moder zertritt.* — -—
Worms, im August 1846.
Ii. BToaek«
DrtiekfeMer«
Im ersten Hefte:
Seite 129 Zeile 3 v. u. liea sterbend, statt: strebend.
„ 239 9 7 V. u. lies willkommenste, statt: vollkommenste.
Im zweiten Hefte:
Seite 12 Zeile 4 y« u. lies vir ihm statt: viribus.
„ 33 f, 1 T. o. lies kommen statt: kosten.
„ 93 » 19 Y. o. lies Er statt: Es.
„ 94 n 13 V. 0. lies aber statt: der.
„ 144 „ 7 V. n. lies Gesellschaftsordnung statt: Geseltschafts-
Ordnung.
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